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Die Grünen machen es richtig – und du?

Als ich mich heute früh noch aus dem Bett quälte, hatte Priska Hinz offensichtlich schon einen anstrengenden, aber erfüllenden Morgen hinter sich. „Nach zwei Stunden Bahnhofsaktion bin ich richtig wach #UndDu?“ twitterte die wahlkämpfende Grünen-Abgeordnete um 8.14 Uhr. Ich hingegen war noch nicht annähernd wach, hatte noch nicht mal den ersten Kaffee intus, und in diesem Moment ging mir endgültig auf, warum mir die „und du?“-Wahlkampagne der Grünen seit Wochen so übel aufstößt. Die Grünen sind ausgeschlafen, voll dabei, immer im Dienst der guten Sache, und von mir erwarten sie das gleiche. „Und du?“ fragen sie halb fordernd, halb tadelnd, bist du auch schon so weit wie wir?

Der Spruch, mit dem sie das Land plakatieren, bringt unfreiwillig all das auf den Punkt, was der Partei seit langem, teils zu Recht, teils zu Unrecht vorgeworfen wird: Dass sie den Wählern das richtige Leben vorschreiben wollten, sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen, und überhaupt schrecklich überheblich seien.

Auf einem steht: „Mit Essen spekulier ich nicht – und du?“ und man hat dann sofort ein schlechtes Gewissen, ob man nicht über die unübersichtlichen Verzweigungen des Finanzmarkts doch mal ein paar Cent an steigenden Getreidepreisen verdient hat. Auf dem weg zur Arbeit komme ich an einem Plakat vorbei: „Was der Bauer nicht kennt, fress ich nicht – und du?“ Und eigentlich müsste ich jetzt umdrehen und nachsehen, ob nicht in meinem Kühlschrank oder den Regalen irgend etwas steht, was Spuren von Gentechnik enthalten könnte. So funktioniert die ganze Plakatkampagne. Die Grünen machen ihren Wählern keine Vorschläge, sie stellen Ansprüche.

Das ist fatal, weil es ja eigentlich nicht stimmt. Das Problem ist die Werbekampagne, nicht die Politik der Partei. Die Grünen haben ziemlich ausgefeilte Konzepte zu Finanzpolitik und Sozialpolitik zu bieten, zur Energie- und Umweltpolitik sowieso. Sie sind nicht die Zeigefinger-Partei, zu der vor allem die FDP sie machen will. Doof nur, dass ihre „Und du?“ Plakate davon so wenig erzählen und so viel vom moralischen Anspruch dieser Partei an ihre Wähler.

So stellen sich die Grünen als Partei der Selbstoptimierung dar. Die englische Band Radiohead hat dazu ein Lied geschrieben, „fitter, happier, more productive“ heißt es, es handelt von den vielen unerfüllbaren Ansprüchen an sich selbst. Kein Mikrowellenessen mehr, regelmäßig zum Sport, immer nett zu den Kollegen sein, und bloß nicht in der Öffentlichkeit weinen. Es ist natürlich ein ziemlich trauriges Lied.

 

Wie Peer Steinbrück beinahe etwas irre Lustiges gesagt hätte

Wenn Peer Steinbrück zurzeit nur ansatzweise so etwas wie Alltag erlebt, dann muss das so aussehen wie an diesem Dienstagabend in Berlin-Rudow. Noch am Morgen hat der Kandidat sich im Bundestag mit Angela Merkel duelliert, erst zwei Tage ist sein recht erfolgreicher Fernsehauftritt her. Und nun empfängt ihn der Direktkandidat Fritz Felgentreu zu einem Auftritt in der alten Dorfschule.

Viel ist nicht los. Es gibt Bratwürste, Trommelkapelle und bierselige Kumpeleien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite aber hat sich eine kleine Truppe NPDler breitgemacht. Vor ihnen hängt ein Plakat mit einem Slogan, auf den sie sehr stolz sein müssen: Maria statt Scharia.

Dann beginnt der Vormann der Rechtsextremen zu reden. „Peer Steinreich hält es also einmal wieder für nötig, sich beim Wahlvolk sehen zu lassen“, beginnt er und führt den Zuhörer durch sein Menschenbild. Der deutsche Durchschnitts-IQ sei unter 100 gefallen, seit die Zuwanderer da seien, beklagt er sich. Vorm SPD-Stand nicken sie fröhlich: Schön, dass da einer so eindringlich auf sein Problem hinweist.

Peer Steinbrück schaut da nicht drauf, als er mit Blaulicht und Personenschützer anrauscht. Skeptisch-anpackend halboffener Mund, Händeschütteln und rein ins Bratwurstparadies. Die Neonazis versuchen es noch einmal in Anwesenheit des Kandidaten: „Da hält es also Peer Steinreich mal wieder für nötig…“ Doch ein Linienbus hupt und versperrt ihnen die Sicht auf den SPD-Kandidaten. Kurz darauf sind sie allein.

Es heißt immer, Peer Steinbrück wirke bei seinen Klartext-Veranstaltungen wie ein Tiger im Käfig, gestikuliere, scherze und poltere. An diesem Abend wirkt er wie ein müder Kater nach schlechten Brekkies (Zugegeben: Bei Angela Merkel würde man das für den Normalzustand halten). Als er gebeten wird, etwas gegen die Neonazis draußen zu sagen, zählt er auf, was seine Regierung alles tun will: NPD-Verbot, zivilgesellschaftliches Engagement stärken und den Rest habe ich vergessen.

Die Zeit neigt sich, die Zuschauerfragen sind beantwortet, Steinbrück hält seine Schlussansprache. „Was“, fragt er irgendwann ins Publikum, „hat diese Regierung Ihnen wirklich gebracht?“ Und da ruft doch tatsächlich jemand: „Elektroautos!“ Geraune. Und ein anderer: „Das Aquädukt!“ Gekicher.

Steinbrück hätte jetzt ein paar Lacher eingeheimst, hätte er geantwortet: „Also schön, also schön. Aber was außer den Elektroautos und dem Aquädukt?“ Er tat es nicht. Weil auch ein Kandidat irgendwann einmal schlafen muss. Und weil die Welt nicht so schön ist wie bei Monty Python. Aber beinahe hätte er es getan.

 

Weshalb Koalitions-Fragen nerven

Der verstorbene frühere FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff nannte einmal ein hübsches Beispiel für eine Journalistenfrage, die Politiker besser nicht beantworten sollten: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ Sagt der Politiker darauf ohne Nachzudenken „Ja“, bestätigt er indirekt, dass er ein gewalttätiger Ehemann ist. Sagt er hingegen „Nein“, weil er die Frage für absurd hält, outet er sich erst recht als Schläger.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Wahlkampfzeiten beliebten Fragespiel: „Schließen Sie eine Koalition mit der Partei XY aus?“ Was soll ein Politiker, der halbwegs bei Trost ist, dazu anderes sagen außer einer Standard-Floskel in der Art: „Wir streben eine Koalition mit der Partei Z an. Aber wenn der Wähler anders entscheidet, werden wir uns Gesprächen mit anderen demokratischen Parteien nicht verschließen.“ Nur Politiker, die eigentlich gar nicht regieren wollen, werden die Frage bejahen.

Auf diese Weise kamen dieser Tage mal wieder Schlagzeilen zustande, Kanzlerin Merkel und Politiker der SPD schlössen eine Große Koalition im Fall der Fälle nicht aus, und führende Grünen liebäugelten heimlich mit Schwarz-Grün. Ja, was denn sonst? Sollen sie behaupten, sie gingen auf jeden Fall in die Opposition, wenn es für Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün bei der Bundestagswahl nicht reicht? Besonders der SPD würde man eine solche „Auschließeritits“ angesichts ihrer bescheidenen Umfragewerte als Realitätsverweigerung auslegen.

Also hat sich im Grunde nichts geändert: Die Wähler werden am 22. September nicht über eine Koalition entscheiden, sondern über die Zusammensetzung des Parlaments. Die Parteien werden dann versuchen, aus den entstandenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu formen. Das kann kompliziert werden, erst recht, wenn fünf, sechs oder sieben Parteien in den Bundestag einziehen. Deshalb sind alle Parteien gut beraten, sich andere als nur ihre Wunschoptionen offen zu halten, falls sie mitregieren möchten, und sich nicht an eine Partei zu ketten wie die FDP, die vor der Wahl eine Ampelkoalition formell ausschließen will. Und deshalb sollten Politiker bis dahin die unsinnige „Schließen-Sie-aus?“-Frage am besten nicht mehr beantworten. Die Wähler wissen es ohnehin besser.

 

100 Tage bis zur Wahl – es ist alles drin!

In vielen Talkshows, Vorträgen, Gesprächsrunden wird man schon fast rhetorisch gefragt: Der Wahlkampf ist doch eigentlich gelaufen, oder? Die SPD bewegt sich nicht aus ihrem (Kandidaten-)Tief, Merkel erscheint unantastbar, Piraten gekentert, die AfD kommt auch nicht so ganz in Schwung. Eine aktuelle Forsa-Umfrage belegt das, die Stagnation der Umfragewerte im Zeitverlauf ist beeindruckend.

Aber Umfragen beziehen sich eben immer auf das Hier und Jetzt. Daraus allerdings schon das Ergebnis für den 22.September 2013 herzuleiten, ist zu kurz gegriffen. „Campaigns do matter!“ Wahlkämpfe machen einen Unterschied, natürlich in Abhängigkeit ihrer Ausgestaltung. Das haben wir bei Barack Obama während seines Endspurtes im letzten Jahr erlebt: Er hat es als einer der ganz wenigen Amtsinhaber in den USA geschafft, trotz wirtschaftlichen Gegenwinds wiedergewählt zu werden.

Der Blick auf die letzten drei Wahlkämpfe in Deutschland zeigt, welche Entwicklungen noch möglich sind. Im Sommer 2002 war die Union im Umfragehoch bei 40%, eingefahren hat sie am 20. September immerhin 38,5%. Die SPD lag im Sommer bei 35%, auch sie landete bei 38,5% – dieses Fotofinish sicherte dem damaligen Kanzler und seiner rot-grünen Koalition eine zweite Amtszeit. Im Wahlkampf 2005 verlor die Union über den Sommer einen Vorsprung von satten 15 Prozentpunkten. Im Sommer noch bei 44% landeten CDU und CSU am Wahltag lediglich bei 35,2%; die SPD, im Sommer noch bei 29%, fuhr mit 34,2% ein lange Zeit nicht für möglich gehaltenes Ergebnis ein.

Ein anderes Bild zeichnet die Erfahrung aus dem Jahr 2009: In diesem Bundestagswahlkampf verlor die Union in den letzten 100 Tagen lediglich 3,2 Prozentpunkte und fiel von 37% auf 33,8%; der SPD wiederum gelang es im Wahlkampf nicht, an die zurückliegenden Aufholjagden anzuknüpfen: Auch sie verlor über den Sommer sogar noch zwei Prozentpunkte, von 25% auf ein Wahlergebnis von 23%.

Union und SPD im Wahlkampf: Entwicklung in den je zehn letzten Umfragen vor den Wahlen 2002, 2005 und 2009

10 Wahlumfragen

(Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Zeitraum: Ende Mai/Anfang Juni bis ca. eine Woche vor der Wahl)

Die Daten zeigen: Es ist möglich, im Wahlkampf viel Boden gut zu machen, aber dazu gehören eine intelligente Strategie, ein gutes Team und überzeugende Inhalte. Gerade in diesem Jahr wird gelten, was in den USA so treffend mit „Get out the Vote!“ beschrieben wird: Die Bürger sind nicht wirklich überzeugt von den Alternativen, aber sie sind deswegen noch lange nicht unpolitisch. Gute Argumente können also durchaus einen Mobilisierungseffekt haben, wenn die Ansprache passt.

Die Formen der Ansprache verändern sich ständig. Keine Partei kann sich daher auf frühere Erfolge im Wahlkampf verlassen – aber eben auch nicht auf aktuellen Umfragedaten ausruhen. Denn vieles ist möglich, und es wird mit Sicherheit nicht vorgesehene bzw. nicht vorhersehbare Einflüsse geben.

Dass der Wahlkampf zunehmend Fahrt aufnimmt, ist an inhaltlichen Positionierungen der Parteien ebenso zu erkennen, wie an personellen Weichenstellungen. Insbesondere die SPD und ihr Kandidat Peer Steinbrück werden hier zunehmend aktiv – unter anderem mit der Vorstellung des Kompetenzteams. Auch dass aus den Reihen der Union gekontert wird, es handele sich dabei um eine „B-Elf“, ist ein Beweis für die allseits gestiegene Sensibilität für Wahlkampftaktik. Die Maßnahme von Peer Steinbrück, seinen Sprecher auszuwechseln, erinnert wiederum an eine Fußballmannschaft, die in der Krise den Trainer austauscht. Hier wie da bleibt die Frage, wie nachhaltig ein solcher Schritt ist.

Mit Blick auf die strategische Ausrichtung der Kampagne scheint eine personelle Änderung jedenfalls kaum auszureichen. Der SPD gelingt es derzeit nicht, sich überzeugend zu positionieren: Die Partei, der Spitzenkandidat und die Programmatik scheinen auseinanderzudriften. Die Union hingegen wirkt – von wenigen Vorstößen abgesehen – defensiv. Die letzten 100 Tage sind angebrochen und es wäre uns zu wünschen, dass alle Parteien intelligente Wege finden, ihre Positionen und Argumente auf die Straße zu bringen und den Wählern somit zeigen, über welche Fragen sie am 22.9. abstimmen werden.

 

Blues statt Reggae: Jamaika ade

Jamaika war einst ein Kifferparadies, Reggae-Heimat von Bob Marley, Zufluchtsort für Abenteurer. Später beflügelte Jamaika auch politische Phantasien: Die Landesfarben der Karibikinsel, schwarz-gelb-grün, standen nun für Union + FDP + Grüne – ein neues Koalitionsmodell, das das fest gefügte Parteiensystem aufsprengen und lagerübergreifende Bündnisse ermöglichen sollte.

Vor allem der CDU schien diese bunte Kombi ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft: die beiden bürgerlichen Parteien zusammen mit den bürgerlicher gewordenen Grünen – das sollte die Möglichkeit eröffnen, selbst dann zu regieren, wenn es für Schwarz-Gelb (oder Schwarz-Grün) nicht reicht. Ein Gegenmodell zu Rot-Rot-Grün. Und eine weitere Antwort auf das zunehmend zersplitterte deutsche Parteiengefüge.

Zusätzlicher Vorteil für die CDU: Wäre die Ökopartei erst einmal aus dem rot-grünen Lager herausgebrochen, würde es für die SPD schwieriger, ihrerseits Koalitionen zusammen zu bekommen. Zumal sich die Sozialdemokraten mit der Linkspartei nach wie vor schwer tun.

Das Kalkül schien aufzugehen: 2009 entschieden sich die Grünen im Saarland gegen ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis und für ein Zusammengehen mit CDU und FDP. Das Experiment konnte beginnen.

Nun ist die Hoffnung der CDU zerstoben. Der erste Probelauf einer christdemokratisch-liberal-ökologischen Zusammenarbeit ist nach nur gut zwei Jahren kläglich gescheitert: Wegen Regierungsunfähigkeit nicht etwa der Grünen, sondern der an der Saar besonders desolaten FDP ließ CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer das Bündnis platzen.

Nun könnte man die misslungene Premiere von Jamaika im kleinsten Bundesland als Randnotiz in bewegter Zeit abtun. Aber die Entwicklung im Saarland ist symptomatisch für das strategische Dilemma der CDU: Während die SPD in den Ländern mal mit den Grünen, mal mit der CDU oder der Linkspartei und in Hamburg sogar allein regiert, bleiben der Partei der Kanzlerin nur zwei Optionen: Schwarz-Gelb oder Große Koalition. Da die 2009 noch so starke FDP inzwischen auf das Niveau einer Splitterpartei geschrumpft ist und Besserung für Philipp Röslers Truppe nicht in Sicht ist, hat Angela Merkel mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 jedoch im Grunde nur eine Perspektive: Sie muss die SPD für sich gewinnen.

Wobei noch unklar ist, ob dann Schwarz oder Rot stärker sein wird und damit den nächsten Kanzler stellt.. Über eine andere Option verfügt Merkel aber faktisch nicht mehr.

Denn zugleich haben sich die politischen Lager wieder verfestigt. Spielten CDU und Grüne nach der Wahl 2005 noch eine Weile mit dem Gedanken an Schwarz-Grün – die CDU aus Abneigung gegen die damalige Große Koalition, die Grünen aus Verdruss über die SPD, mit der sie sieben Jahre im Bund regiert hatten –, so haben sich solche Überlegungen spätestens seit dem Scheitern von Schwarz-Grün in Hamburg und dem Debakel an der Saar erledigt: Die Grünen stehen wieder fest an der Seite der SPD.

Selbst die parteiübergreifende Wahl eines neuen Bundespräsidenten als Nachfolger für den affärengeplagten Christian Wulff würde daran wohl nichts ändern: Die Grünen werden einem von der CDU nominierten Kandidaten nur zustimmen, wenn auch die SPD mit im Boot ist. Für Merkel wäre damit nichts gewonnen.

Die Kanzlerin kann nur beten, dass der Niedergang der Liberalen durch ein politisches Wunder doch noch gestoppt wird. Und ansonsten darauf hoffen, dass die SPD trotz aller Probleme von Schwarz-Gelb weiterhin nicht über 30 Prozent hinauskommt – und die Union nicht noch darunter sackt. Sicher ist dies angesichts der Pleite mit Merkels zweitem Bundespräsidenten und der absehbaren Niederlage der CDU bei der Wahl in Schleswig-Holstein im Frühjahr nicht.

Jamaika ist passé. Für 2013 heißt das vermutlich: Rot-Grün oder Große Koalition. Sollten die Piraten in den Bundestag einziehen und die Linkspartei trotz ihrer Führungs- und Richtungskrise im Parlament bleiben, spricht nach jetzigem Stand vieles für Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz. Denn für Rot-Grün wird es dann wahrscheinlich nicht reichen.

Es wird wieder farbloser in der deutschen Politik.

 

Twitterprognosen, oder: Warum die Piratenpartei beinahe die Wahl 2009 gewonnen hätte

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Die zunehmende Nutzung internetgestützter Dienste wie zum Beispiel Google, Facebook oder Twitter hat für Sozialwissenschaftler den erfreulichen Nebeneffekt, dass sie auf immer größer werdende Datensätze zugreifen können, die menschliches Verhalten dokumentieren. So wurde zum Beispiel erfolgreich gezeigt, dass die Häufigkeit von Google-Suchanfragen Rückschlüsse auf die Entwicklung von Verbraucherzahlen oder Grippeepidemien zulässt. Mit Hilfe von Daten des Microblogging-Dienstes Twitter wurde versucht, den Kassenerfolg von Kinofilmen vorherzusagen oder die Struktur von Fernsehereignissen aufzuzeigen. Verschiedene Studien zeigen das Potential dieser neuen, durch Internetnutzung entstandenen Datensätze. Die Art und Größe dieser Datensätze birgt neben der Chance eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns über gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets für Forscher jedoch auch die Gefahr, zufällige Muster in den Daten als bedeutungsvolle Ergebnisse zu interpretieren.

Wie schnell man solchen Fehlschlüssen aufsitzen kann, zeigt der Aufsatz „Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment“ von Andranik Tumasjan, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sandner und Isabell M. Welpe. In ihrem Text versuchen die Autoren, das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit Hilfe von Twitter-Nachrichten zu prognostizieren, die vor der Wahl gesendet wurden. Für die sechs im Bundestag vertretenen Parteien gelingt das so gut, dass die Autoren folgern, “the mere number of tweets mentioning a political party can be considered a plausible reflection of the vote share and its predictive power even comes close to traditional election polls”. Ein faszinierendes Ergebnis: Das einfache Zählen von Twitternachrichten führt zu sehr ähnlichen Resultaten wie kostspielige Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten, die so gerne als Prognosen gelesen werden.

Die anfängliche Freude über dieses Ergebnis verfliegt allerdings schnell, betrachtet man sich die Analyse genauer. Eine einfache Replikation der Studie von Tumasjan und Kollegen ergibt Ergebnisse, die der Originalstudie sehr ähneln (Tabelle 1). In der Replikation der Studie stellten wir fest, dass für die Bundestagsparteien der mit Hilfe von Twitternennungen prognostizierte Stimmenanteil im Durchschnitt nur um 1,51 Punkte vom tatsächlichen Stimmenanteil ab. So weit, so gut.

Tabelle 1: Anteile der Bundestagsparteien an den Stimmen und Twitternennungen

a In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

In ihrer Untersuchung entschieden sich Tumasjan und Kollegen dafür, nur die Nennungen von Parteien zu zählen, die auch tatsächlich im Bundestag vertreten waren. Diese Entscheidung ist etwas überraschend, da die Autoren so eine politische Prognose auf der Basis von Onlinekommunikation erstellen, aber diejenige Partei nicht berücksichtigen, die von allen Parteien die meisten Unterstützer im Internet sammeln konnte. Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse von Tumasjan und Kollegen tatsächlich sind, beschlossen wir, die Piratenpartei in unsere Replikation der Originalstudie einzubeziehen. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

Abbildung 1: Anteile der Bundestagsparteien und der Piratenpartei an den Stimmen und Twitternennungen

 

*In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

Die Twitterprognose identifiziert hier eindeutig die Piratenpartei als stärkste Kraft. Wäre diese Prognose korrekt, so hätte die Piratenpartei am Wahltag 35 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler gestellt. Dieses Szenario hat offensichtlich wenig mit den tatsächlichen Wahlergebnissen zu tun, da die Piratenpartei am Wahltag etwa 2 Prozent der abgegeben Stimmen erzielen konnte und damit nicht in den Bundestag einziehen konnte. Es scheint, als würde zumindest dieses Instrument versagen, sobald man internetgestützte politische Bewegungen in die Analyse einbezieht.

Nun könnte man die Twitterprognose mit dem Argument zu retten versuchen, es sei zu ambitioniert, ausgerechnet die Piratenpartei in die Analyse einzubeziehen, von der ja vor der Wahl 2009 jeder gewusst habe, dass sie nicht in den Bundestag einziehen würde. Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand überzeugend, nicht jedoch auf den zweiten. Denn eine Methode, die Informationen darüber voraussetzt, welche Parteien in den Bundestag einziehen werden, dürfte schwerlich als eigenständiges Prognoseinstrument akzeptiert werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie leicht es ist, sich von Mustern in Datenspuren menschlichen Online-Verhaltens irreführen zu lassen. Gerade die Reichhaltigkeit dieser Daten und ihre komplexen Zusammenhänge legen es nahe, Muster zu erkennen. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Muster auf ihren Realitätsbezug überprüft werden sollen. Gerade hier entscheidet sich jedoch, ob die Ergebnisse einer solchen Untersuchung tatsächlich gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets abbilden oder nur statistische Artefakte sind.

Literatur:

Tumasjan, Andranik, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sander and Isabell M. Welpe. (2010). “Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment,” Proceedings of the Fourth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media. Menlo Park, California: The AAAI Press. 178-185.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie.

 

Koalitionskarrussell – eine bisher noch kaum beachtete Option

Andrea RömmeleAuf einer politikwissenschaftlichen Tagung letzte Woche in Potsdam wurde eine in der Öffentlichkeit bisher kaum beachtete Koalitionsoption hinterfragt: die Minderheitsregierung. Der Blick auf unsere europäischen Nachbarn und andere OECD-Staaten zeigt, dass eine solche Konstellation nicht so exotisch ist, wie man vermuten könnte: In Spanien beispielsweise kommen die Sozialdemokraten von José Zapatero auf 164 von 350 Sitzen und sind auf die Stimmen kleinerer Parteien angewiesen; die kanadischen Konservativen um Premier Stephen Harper regieren, obwohl sie mit 124 von 308 Mandaten ebenfalls keine Mehrheit im Parlament stellen; und in Dänemark verfügen Lars Rasmussens „Venstre“ und die Konservativen aktuell zusammen über 64 von 179 Sitzen. Auch in Schweden, den Niederlanden, der Tschechischen Republik, Österreich und einigen anderen Ländern hat man bereits – teilweise langjährige – Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gesammelt.

Somit stellt sich angesichts einer möglicherweise sehr schwierigen Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl die Frage, ob eine Minderheitsregierung nicht auch ein probates Mittel sein könnte, mit dem man der drohenden Politikblockade nach der Wahl entgehen könnte. Die Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland mit diesem Regierungstyp sind gering. Nachdem Minderheitsregierungen zu Zeiten der Weimarer Republik in engem Zusammenhang mit der Instabilität des gesamten Regierungssystems standen, waren sie nach dem zweiten Weltkrieg nur in Übergangsphasen gegeben – etwa nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982.

Es scheint also, als ob das Potenzial dieses Regierungstyps in Deutschland noch nicht ausgereizt wäre. Allerdings gibt es sehr gute Gegenargumente, die sich nicht nur aus der Geschichte der Weimarer Republik, sondern auch aus strategischen Überlegungen der heutigen Zeit speisen: Es ist auffällig, dass Minderheitsregierungen in Ländern beliebt sind, in denen es keine starke zweite Parlamentskammer gibt. In Deutschland jedoch ist der Bundesrat ein wichtiger politischer Akteur, gegen den man kaum regieren kann. Ohne seine Zustimmung könnte nahezu jedes Gesetz gekippt werden und die Regierung wäre somit handlungsunfähig.

Nach aktuellem Stand und unter Berücksichtigung der anstehenden Regierungsbildungen in Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg und dem Saarland scheint einzig eine Bundesratsmehrheit für Schwarz-Gelb realistisch zu sein. Sie könnte auf 37 von 69 Stimmen kommen, falls Schleswig-Holstein nach der Landtagswahl von CDU und FDP regiert werden sollte. Die Große Koalition hingegen hat schon nach der Hessenwahl ihre Mehrheit verloren, da die CDU dort nun nicht mehr alleine, sondern mit der FDP regiert. Durch den anzunehmenden Wegfall zweier weiterer CDU-Alleinregierungen in Thüringen und dem Saarland könnte eine Mehrheitsperspektive im Bundesrat für Länder, die Unions-, SPD- oder von einer Großen Koalition geführt sind, noch ferner rücken. Und Rot-Grün, das in dieser Konstellation nur noch in Bremen regiert, kann gerade mal auf 7 Stimmen (Bremen plus das von der SPD alleine regierte Rheinland-Pfalz) zählen.

Man könnte also schlussfolgern: Schwarz-Gelb sollte die Bundesregierung stellen – egal, ob als Mehrheits- oder als Minderheitsregierung. Aber wäre eine solche Koalition, wenn sie im Bundestag über keine Mehrheit verfügt, politisch tragfähig? Würde der Bundestag unter diesen Umständen eine CDU-Kanzlerin wählen? Einiges scheint dagegen zu sprechen, insbesondere das gemeinsame Credo von SPD, Grünen und Linken, dass Schwarz-Gelb verhindert werden müsse. Der Blick ins Ausland zeigt aber auch, dass Vieles möglich ist: Minderheitsregierungen können sowohl aus einer Partei als auch aus Koalitionen bestehen und sowohl von der politischen Mitte als auch von einem klar definierten Lager aus organisiert werden. Vielleicht ist es angesichts der aktuellen Experimentierfreudigkeit der deutschen Politik (schwarz-grün, Jamaika, rot-rot-grün) für alle Parteien an der Zeit, auch die Option einer Minderheitsregierung neu zu diskutieren.

 

Der Wahl-O-Mat – Millionenfach gespielt

Stefan MarschallMit dem gestrigen Tag ist der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl rund zwei Millionen Mal genutzt worden. Somit wurde dieses Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung innerhalb seiner ersten Online-Tage schon öfter gespielt als die Version zur Europawahl 2009 in ihrer gesamten Laufzeit. Bis zum Montagabend hatte der Wahl-O-Mat bereits 1,6 Millionen Mal berechnet, wie nahe die zur Bundestagswahl zugelassenen Parteien Usern in Bezug auf 38 Thesen aus dem Wahlkampf stehen. Zum Vergleich: Der Europa-Wahl-O-Mat wurde insgesamt circa 1,56 Millionen Mal gespielt.

Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits jetzt sagen, dass auch die bisherige Nutzungsspitze bei der Bundestagswahl 2005 von dieser Version deutlich getoppt werden wird. Damals konnte der Wahl-O-Mat 5,1 Millionen Nutzungen verzeichnen. Rechnet man die nun vorliegenden Zahlen auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen vorsichtig hoch, dann könnte das Tool bis zum Wahltag rund acht bis zehn Millionen Mal gespielt worden sein.

Die starke Nachfrage hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Wahl-O-Mat – wie überhaupt die Bundestagswahl – ein prominentes Thema auch und insbesondere in den „alten“ Medien ist. Zahlreiche Wahl-O-Mat-Medienpartnerschaften sind auf den Weg gebracht worden, unter anderem mit der ARD, dem ZDF und RTL. Aus den Befragungen der Nutzer wissen wir, dass viele über die klassischen Massenmedien auf den Wahl-O-Mat aufmerksam gemacht worden sind.

Bedeuten die Zahlen, dass am Ende rund zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung den Wahl-O-Mat genutzt haben werden? Nicht unbedingt. Es handelt sich um Nutzungen, nicht um Nutzer. Zwar wird bei jeder einzelnen Sitzung ein „session cookie“ gesetzt, sodass, wenn man das Tool mehrfach durchspielt, dies als nur eine Nutzung gewertet wird (notabene: auch für den Fall, dass mehrere Personen vor dem Computer sitzen und den Wahl-O-Mat nacheinander durchspielen). Verlässt man die Seite und ruft sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf, wird dies als eine zweite Nutzung registriert. So liegt die exakte Zahl der User im Dunkeln – aber sie wird definitiv im Millionenbereich liegen.

Von niederländischen Verhältnissen sind wir freilich noch weit entfernt: Der niederländische Wahl-O-Mat, der „Stemwijzer“, verzeichnete bei der Tweede-Kamer-Wahl 2006, den Wahlen zum nationalen Parlament, rund 4,7 Millionen Nutzungen bei einer Gesamtbevölkerung von 16,4 Millionen: Das sind rund 28 Prozent! Insofern ist für kommende Wahl-O-Mat-Einsätze durchaus noch Luft nach oben.

 

Die Schicksalsfrage

Die Bildungspolitik ist traditionell ein prominentes Wahlkampfthema. Zur Bundestagswahl 2009 jedoch scheint sich nun jedoch ein Sprung in die Riege jener Themen abzuzeichnen, die nicht nur eifrig diskutiert werden, sondern tatsächlich wahlentscheidend sind. Einer Forsa-Studie für die Zeitschrift „Eltern“ zufolge schreiben 86 Prozent der Befragten dem Bereich „Familie, Kinder, Bildung“ einen mindestens genauso großen Stellenwert zu, wie den klassischen Wahlkampfschlagern Arbeit und Wirtschaft. Für die repräsentative Umfrage wurden Eltern minderjähriger Kinder interviewt, es handelt sich also um eine auch zahlenmäßig starke (Ziel-)Gruppe.

Die Politik hat sich darauf eingestellt: Bildung ist fester Bestandteil der aktuellen Plakatkampagnen der Parteien und die Spitzenpolitiker betonen gebetsmühlenartig den besonderen Stellenwert von Schule, Kinderbetreuung und Ausbildung. Angela Merkel hat bereits im Jahr 2008 ein deutliches Zeichen gesetzt und die „Bildungsrepublik Deutschland“ zu einem zentralen Projekt ihrer Regierung erklärt. Dieses Ziel ist nun eine tragende Säule ihres Wahlkampfes. Ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier hält die Bildungspolitik gar für die „Schicksalsfrage der Nation“, und die Oppositionsparteien prangern erwartungsgemäß Versäumnisse der Großen Koalition in diesem Bereich an.

Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass Studien und Statistiken aus dem Bereich der Bildungsforschung schnell Eingang in den Wahlkampf finden. So lesen etwa die Unionsparteien die Ergebnisse des jüngst erschienenen „Bildungsmonitors“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft als Bestätigung ihrer Bildungspolitik – immerhin belegen von ihnen regierte Länder die ersten fünf Plätze der Tabelle. Aus sozialdemokratischer Perspektive hingegen zieht man den Blick auf das „Dynamik-Ranking“ vor, das die relativen Verbesserungen der Länder abbildet. Hier liegen auch einige sozialdemokratisch geführte Länder auf den vorderen Plätzen und das rot-schwarz-geführte Mecklenburg-Vorpommern steht mit weitem Abstand an erster Stelle. Ein schöner Zufall für die Sozialdemokraten ist zudem, dass dort Manuela Schwesig als Sozialministerin wirkt – jene Frau also, die als Shootingstar im Kompetenzteam Steinmeiers gehandelt wird.

Gesamtbewertung der Bundesländer im Zeitablauf

Quelle: Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden)

Just sie hat aber jüngst betont, was sonst gerne übersehen wird: Dass es nämlich zwischen den einzelnen Bereichen der Sozialpolitik nicht nur viele Berührungspunkte, sondern auch Grenzen gibt. Ihr ging es um den Unterschied zwischen Frauen- und Familienpolitik; für die Bildungspolitik ist diese Erkenntnis aber mindestens ebenso zutreffend. Wirtschaft, Integration, Familienförderung, Arbeitsmarkt, Demographie – all diese Themen und die damit verbundenen Probleme werden derzeit mit der Bildungspolitik verbunden. Politiker aller Parteien versprechen schnelle Besserung hier durch bessere Bildung da. Selten wird jedoch erwähnt, dass Kitas, Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe mit diesem Aufgabenkatalog überfordert sein könnten. Im Wahlkampf spielt das meist nur eine Rolle, wenn es um die unzureichende Ausstattung der Einrichtungen oder die Frage der Finanzierung geht.

Am Geld alleine jedoch kann es nicht liegen, der „Bildungsmonitor“ konnte keinen Zusammenhang zwischen dem BIP eines Landes oder dem Einkommen seiner Bürger und seiner Leistung im Bildungsbereich feststellen. Eher lässt sich sogar die leichte Tendenz ausmachen, dass die wirtschaftlich schwächeren Länder etwas bessere Werte erzielen, wobei hierbei natürlich verschiedenste regionale Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Nichtsdestotrotz weist dies darauf hin, dass es der Politik oftmals nicht nur am Geld, sondern auch an den passenden Konzepten fehlt.

Und so spitzt sich die Debatte derzeit auf eine wahlkampftaugliche Ja-oder-Nein-Frage zu: Soll der Bund in der Bildungspolitik wieder mehr Einluss erhalten? 91 Prozent der von Forsa befragten Eltern befürworten das. Die SPD nutzt die Gunst der Stunde und macht sich für die Abschaffung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern stark – obwohl sie es im Rahmen der Föderalismusreform (nach einigen Protesten) mitgetragen hat.

Die Themenhoheit im Bereich der Bildungspolitik ist zwischen den Parteien hart umkämpft. Das ist keine besonders gute Voraussetzung für einen inhaltlichen Austausch jenseits plakativer Forderungen und polarisierender Debatten. Trotzdem sollte man versuchen, die derzeitige Prominenz des Themas für zukunftsweisende Reformprojekte zu nutzen.

 

Schwarz-Gelb wird gewinnen.

Die gewünschte Regierungskoalition der amtierenden Bundeskanzlerin, eine Koalition aus CDU/CSU und FDP, wird bei der kommenden Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil von 52,9 Prozent eine Mehrheit erhalten.

Diese Einsicht verdanken mein Kollege Helmut Norpoth und ich einem von uns entwickelten Prognosemodell, das sich bei den letzten beiden Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein statistisches Modell entwickelt, das bereits im Sommer vor den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 exakte Vorhersagen liefern konnte und auf den richtigen Sieger tippte, während die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute, basierend auf den Umfragewerten der Parteien, daneben lagen. Unser Verfahren lieferte einen Monat vor der Wahl sogar genauere Werte für die Regierungskoalitionen als alle etablierten Meinungsforschungsinstitute, einschließlich deren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend selbst.

Für die Entwicklung unseres Vorhersagemodells fragten wir uns, was wir aus den zurückliegenden Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik lernen können. Uns interessierte dabei besonders der gemeinsame Stimmenanteil der jeweiligen Regierungskoalition. Dies verwandelt die Wahlentscheidung zwischen beliebig vielen Parteien in zwei handliche Hälften: die Wahl für oder gegen die Regierung. Weil die amtierende Regierung sich selbst als Notlösung sieht, nachdem keines der politischen Lager 2005 eine Regierungsmehrheit auf sich vereinen konnte, sagen wir für die kommende Bundestagswahl den Stimmenanteil der von der Kanzlerinnenpartei präferierten Regierungskoalition voraus.

Ob auf einen Sieg einer solchen Koalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die durchschnittliche Popularität der jeweils amtierenden Kanzler ein, gemessen durch Werte in Umfragen im Zeitraum von ein und zwei Monaten vor einer Bundestagswahl.

Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten der von der Kanzlerin präferierten Regierungskoalition wie folgt bestimmen.

Prognose für Schwarz-Gelb = -5,6 + 0,75*(PAR) + 0,38*(KAN) – 1,53*(AMT)

PAR: Langfristiger Wählerrückhalt der Regierungsparteien (Mittel der Stimmenanteile in den letzten drei Bundestagswahlen)
KAN: Kanzlerunterstützung (unter Ausschluss von Unentschlossenen)
AMT: Abnützungseffekt (Anzahl der Amtsperioden der Regierung)

Für die Berechnung der Prognose für 2009 brauchen wir noch drei Werte. Für den längerfristigen Wählerrückhalt, den Schwarz-Gelb bei den Wählern genießt, ergibt sich ein Wert von 44,1%. Dies entspricht dem Durchschnitt der Stimmenanteile, die Schwarz-Gelb in den letzten drei Bundestagswahlen gewinnen konnte. Hinzu kommt eine Kanzlerunterstützung von 71% für Angela Merkel auf Basis der Erhebungen im Juli und August der Forschungsgruppe Wahlen. Dieser Wert ergibt sich als gemittelter Anteil der Befragten in den Politbarometern im Juli und August, die lieber Merkel statt Steinmeier als Bundeskanzler hätten, unter Ausschluss der Unentschlossenen. Schließlich hat die amtierende Regierung bei dieser Bundestagswahl erst eine Amtsperiode hinter sich. Somit hat sie nur mit einem geringen Abnützungseffekt zu kämpfen.

Werden diese drei Werte in die obige Formel eingesetzt, ergibt das eine Prognose von 52,9 Prozent an Zweitstimmen für Schwarz-Gelb am 27. September 2009. Diese Prognose bestätigt damit eine vorläufige Vorhersage, die wir bereits im Juli auf diesem Blog sowie in der der Financial Times Deutschland veröffentlicht hatten.