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Nüchtern kickern

Um es kurz zu machen: Nüchtern kickern, also Tischfußball zu spielen, macht überhaupt keinen Sinn. Den endgültigen Beweis dafür habe ich gestern Abend angetreten, als ich zum Kickern in einer Kneipe in Prenzlauer Berg war – alles so weit normal, die Musik wie immer laut, die Bedienungen wie immer unfreundlich, das Publikum wie immer betrunken. Ich hingegen war nüchtern. Keine Lust gehabt, zu trinken, kommt ja mal vor. Mein Mitspieler ebenfalls. Dann passierte es: Gut gespielt. Alle Spiele gewonnen. Gelangweilt. Nach hause gegangen.

Die Frage, ob es am ungetrübten Bewusstseinszustand lag, stellt sich gar nicht. Natürlich lag es daran, dass unsere Gegenspieler schon glasige Augen hatten, als wir an den Tisch gingen und vor lauter Rumfeixen und Gröhlen öfter vergaßen, wie viele Tore überhaupt schon gefallen waren. Betrunken denkt man immer, dass man super gespielt hat, vor allem dann, wenn man den Ball kaum noch sehen kann und natürlich „ganz unglücklich“ verliert.

Gerade deshalb: Kickern macht nur betrunken Sinn. Wem gibt es schon ein tolles Gefühl, wenn man zwei total angeschickerte Typen zwar 6:0 schlägt, im Gegensatz zu diesen aber überhaupt keinen Spaß dabei hat? Merken: Beim nächsten Mal trinken. Oder halt nicht kickern gehen.

Falko Müller

 

Going East

Auf dem Weg in die Redaktion fahre ich häufig nach Moskau. Also gut, nicht die ganze Strecke. Aber immerhin ein Stückchen. Ich fahre zuhause in der Linienstraße los, biege dann in die Karl-Liebknecht-Straße ein. Vor dem Forum-Hotel biege ich nach links auf den Alexanderplatz. Ich fahre ungefähr vierhundert Meter geradeaus, am Umweltministerium und am Haus des Reisens vorbei, dann wieder nach rechts in Richtung Kreuzberg.

Auf den vierhundert Metern bewege ich mich auf geradem Weg in Richtung Moskau. Wirklich wahr, ich habe es im Atlas und mit dem Kompass überprüft. Die Straße heißt hinter dem Alexanderplatz Karl-Marx-Allee, früher Stalinallee, schon das ein deutliches Indiz. Die sechs Spuren sind gesäumt von den berühmten Zuckerbäckerbauten. Die Karl-Marx-Allee führt durch den Friedrichshain, unter dem S-Bahnring hindurch, weiter durch Lichtenberg bis an die Stadtgrenze, über Fürstenwalde nach Frankfurt (Oder) und dort über die Oder, quer durch Polen und seine Hauptstadt Warschau (dort heißt sie „Solidarnoscallee“), mitten durch das arme, unterdrückte Weißrussland hindurch und weiter durch das noch nicht ganz so unterdrückte Russland bis nach Moskau.

Auf den vierhundert Metern denke ich häufig daran, dass ich ja doch irgendwie Teil von etwas viel, viel Größerem bin. Manchmal denke ich auch darüber nach, einfach weiterzufahren und erst an der Solidarnoscallee eine Pause einzulegen. Aber stattdessen bin ich immer rechts abgebogen und fast jeden Morgen pünktlich zum Dienst in der Redaktion erschienen. Bisher hat sich noch keiner von meinen Kollegen darüber gewundert.

Falko Müller

 

Frischluft-Fetischisten

Wir hatten ja nicht gerade einen dollen Sommer. Café-, Strandbar- und Biergartenbetreiber – sie alle haben einem wirklich leid getan. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Freiluftkinos. Berlin ist für seine Open-Air-Kultur bekannt. Und für seinen Erfindungsreichtum.
Der kommt jetzt zu voller Blüte. Was wir im Sommer nicht hatten, wird sich mit allen Mitteln zurückgeholt. Es ist fast Mitte November, bisher zwar ein sehr milder und mit ungewöhnlich viel Sonne gesegneter, aber eben kein Sommer mehr. Doch das ist den Leuten egal. Kann es auch, weil findige Café- und Restaurantbetreiber sich immer neue Methoden einfallen lassen, um der Jahreszeit zu trotzen.
Die Heizpilze sind ja schon länger verbreitet. Jetzt sind viele Restaurants und Cafés noch dazu übergegangen, Tische und Stühle einfach draußen stehen zu lassen, und die heizpilzerwärmten Frischluftareale mit Windschutzplanen zu versehen. Sieht ein bisschen aus wie auf Omas Gartenparty.
Man ist fast gezwungen, an der frischen Luft oder im Durchzug zu sitzen, ob man will oder nicht. So ist es meinem Freund und mir vor ein paar Tagen ergangen. Nach einem langen Spaziergang in der kühlen Novemberluft hatten wir uns auf ein kuscheliges Abendessen bei unserem Lieblings-Italiener gefreut. Wir haben erst versucht, draußen zu sitzen. Trotz Heizpilzen: zu kalt. Drinnen erging es uns ähnlich, eigentlich war es sogar noch kälter als draußen. Kein Wunder, die Türen und Fenster waren speerangelweit geöffnet, damit sich die draußen Sitzenden nicht ausgeschlossen fühlen. Am Ende landeten wir bei einem anderen Italiener, wo wir zwar einen warmen Platz, aber nur eine mäßige Pizza bekamen.
In letzter Zeit ist noch ein anderer Trend zu den Plastikplanen und Heizpilzen hinzu gekommen, der einem ungewöhnliche Anblicke beschert: zum Café oder Essen werden jetzt Wolldecken gereicht. So kann man immer mehr Menschen sehen, die in Decken gehüllt vor Cafés und Restaurants sitzen. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sich brennende Mülltonnen oder Lagerfeuer dazu gesellen.

Rana Göroglu

 

Der U2-Mann

Ich fahre eigentlich nicht gerne U-Bahn. In der U-Bahn scheint es nur schlecht gelaunte Menschen zu geben, die es ganz schlimm finden, dass sie mit den anderen zusammen in einem Wagon sitzen müssen. Das muss wohl daran liegen, dass der gefühlte Sicherheitsabstand zu seinen Mitmenschen im Bus oder in der U-Bahn – ähnlich wie im Fahrstuhl – ständig überschritten wird. Die Folge: stocksteif herumsitzende Fahrgäste, die nicht wissen, wo sie hingucken sollen.
Ein bisschen Abwechslung kann da nicht schaden. Die tritt meist in Form von Verkäufern von Obdachlosenzeitschriften oder Straßenmusikern auf, die zwischen zwei Stationen schnell ein Liedchen trällern und danach mit dem Hut rum gehen. All das vermag die Stimmung jedoch nicht zu heben.
Nur mit ein bisschen Glück bekommt man eine besondere Art der Performance. Dafür muss man mit der U2 fahren. Heute Morgen war es wieder so weit: Der U2-Mann war in meinem Wagon! Wie immer stand er in Türnähe, von wo aus er mit todernster Miene und im nüchternen Tonfall der Bahnhofsdurchsagen Dinge wie: „Wegen Bauarbeiten gibt es zwischen Gleisdreieck und Zoologischer Garten Schienenersatzverkehr!“ und „Nächste Station Alexanderplatz. Übergang zu U8, U5, zur S-Bahn und zur Tram“ zum Besten gibt. Manchmal wandelt er die Durchsagen auch ab und sagt „Verliebt“ oder „Verrückt bleiben, bitte“ anstelle von „Zurückbleiben, bitte.“ Die meisten Leute ignorieren das einfach.
Mir fiel das heut früh besonders schwer. Ein junges Mädchen versuchte, Klimmzüge an den Haltestangen zu machen. Der U2-Mann fixierte sie und ging auf sie zu: „Aus Sicherheitsgründen ist das Turnen im Wagon strengstens untersagt!“, ermahnte er sie. Sie bekam einen Strafzettel, auf dem sie diesen Satz unterschreiben und Namen und Geburtsdatum angeben sollte. Ich stand genau daneben und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Daraufhin kam er zu mir: „Das Lachen über das Bahnpersonal ist strengstens untersagt!“. Auch ich bekam einen Strafzettel. Beim Aussteigen zwinkerte mir die Turnerin zu. Ich bin mir sicher, dass sie beim Namen und beim Geburtsdatum auch geschummelt hat.

Rana Göroglu

 

Schattenkampf

Es ist ja nicht so, dass von der Berliner Selbstherrlichkeit der Nachwendejahre viel übrig geblieben wäre. Der hiesigen Volksseele hat es arg zugesetzt, dass seit dem Mauerfall 100.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen sind. Und dass die Stadt nicht um drei Millionen Einwohner gewachsen ist, wie es seinerzeit versprochen wurde, sondern sogar ein bisschen geschrumpft.

Penibel wird in den Berliner Tageszeitungen darum über jede kleine Demütigung Buch geführt. Als vor zwei Jahren das hiesige Mineralwasser „Spreequell“ seine Abfüllanlage nach Brandenburg verlegt hat, da war das im Lokalteil der „Berliner Zeitung“ die Spitzennachricht. Es ging um achtzig Jobs, die auch nicht abgebaut, sondern nur verlegt werden sollten. Achtzig Jobs von insgesamt einer Million in der Stadt sollten eigentlich kein Stoff für Schlagzeilen sein. Aber es geht schon längst nicht mehr um die Relationen. Es geht ums Ganze. Es geht ums Prinzip. Es geht um die Schatten all der großen Visionen, die nie Wirklichkeit geworden sind.

Genauestens wird auch jedes Mal vermerkt, wenn sich wieder irgendein Managermagazin oder irgendeine Wirtschaftsberatungsagentur bemüßigt fühlen, ihre liebsten Standorte in einem „Ranking“ der Reihe nach zu ordnen. Man braucht normalerweise gar nicht lange zu suchen. Berlin steht immer irgendwo ganz hinten. Platz 48 von 50 ist einer der Stammplätze. Als Berlin neulich in einem europäischen Vergleich unter den besten zehn gelandet ist, da war die Verdutzung groß. Genaue Erklärungen für das Wunder stehen noch aus.

Umso erstaunter war ich, als ich bei einem Besuch in Hamburg am vorigen Wochenende eine Entdeckung machte: die Hamburger haben Angst vor Berlin. Ich war bei entfernten Verwandten zu Besuch. Ich saß auf ihrer Alcantara-Couch und nippte an ihrem 25 Jahre gelagerten Portwein, während sie mir erklärten, dass sie in Berlin eine Bedrohung für Hamburgs Wohlstand sähen. Man höre ja von so vielen Unternehmen, die in die Hauptstadt ziehen, auch wenn ihnen gerade keine Beispiele einfielen. Ich habe mich ein wenig über sie lustig gemacht und ihnen versichert, dass ich auf dem Rückweg die Airbus-Werft mitnehmen würde, und dass der Hamburger Hafen noch vor Weihnachten in Container verpackt und in Berlin wieder aufgebaut wird. Fanden sie nicht lustig. Später am Abend ging ich an ihren Kühlschrank, und da verging auch mir das Lachen. Zwei Flaschen Sprudel standen in der Tür. Sie waren in Brandenburg abgefüllt.

Falko Müller

 

Ick bin kein Berliner

Ist man in Hamburg, denken die Menschen, man sei Hamburger.

In München denken sie, man sei Münchener (oder zumindest Bayer).

In Berlin geht niemand davon aus, dass man Berliner ist.
Es gibt einfach zu wenige. Erwischt man dann doch einmal einen, löst das deutlich mehr Überraschungsempfinden aus als bei jemandem, der aus Sri Lanka oder Andorra kommt.
Wird ein gebürtiger Berliner enttarnt, stellt sich bei mir zumeist Mitleid ein. Berliner haben dann oft das Problem, dass jeder denkt, dass sie sich toll auskennen in Berlin. Tun sie meist aber gar nicht. Sie mussten die Stadt ja nie erobern wie wir Zugezogenen. Zugeben können sie das natürlich nicht. Die meisten kennen sich also nur in ihrem Kiez aus und verlieren danach schnell den Überblick. Vor allem der Graben zwischen Ost und West tut sich hier auf: Schon mal versucht, einen Ost-Berliner in Zehlendorf auszusetzen? Oder einen West-Berliner am Ostkreuz? Wenn Sie diese Menschen mögen, dann sollten Sie so etwas nie tun. Sie würden nicht zurückfinden.

Ist man hingegen irgendwann in diese Stadt gezogen, hat sich dafür entschieden, hier zu sein, dann ist man hungrig, sieht umher, zieht fünfmal um, weil man mit Erstaunen festgestellt hat, dass Köpenick gar kein Ausgehbezirk ist, und kennt die Stadt. Insofern ist es vielleicht gar nicht so schlecht, zu den Zugezogenen zu gehören.

Falko Müller

 

Botox to go

Ich weiß nicht, wie es in anderen Städten aussieht, aber bei uns in Berlin treibt der to-go-Wahnsinn immer buntere Blüten. Den Coffee to go finde ich ja noch ganz praktisch. Wenn man es morgens eilig hat und nicht mehr schafft, sich einen Espresso zu kochen und auch noch Milch aufzuschäumen. Oder wenn man den Filterkaffee im Büro nicht mehr ertragen kann.
Ich habe ja auch grundsätzlich gar nichts dagegen einzuwenden, dass man sich etwas im Vorbeigehen kaufen kann. Currywurst, Döner und Co sind seit jeher zum Mitnehmen – und das ist auch gut so. Was ich nur nicht verstehe, ist, warum jetzt immer überall ein „to go“ draufgepappt wird. Dabei ist die Idee uralt. Die Verkaufsprofis gehen wohl davon aus, dass sich Waren und Dienstleistungen verkaufen wie warme Semmeln, wenn man sie nur mit einem Anglizismus versieht, durch den alte Kamellen brandneu und innovativ wirken sollen. Das hat zum Teil absurde Folgen.
Nehmen wir zum Beispiel die Zeitung. Zeitungen kann man seit ihrer Erfindung im Vorbeigehen kaufen: beim Straßenverkäufer, am Kiosk oder aus der Zeitungsbox, dem „stummen Verkäufer“. Trotzdem wurde eine der neuen Kompakt-Zeitungen mit den Slogans „Endlich – Zeitung to go!“ und „erste Zeitung to go“ auf den Markt gebracht.
Völlig überflüssig finde ich die „Cut and Go“-Hinweise bei Friseuren. Natürlich gehe ich, nachdem mir die Haare geschnitten wurden. Was soll ich denn sonst machen? Was mit „Cut and Go“ eigentlich gemeint ist, ist ja, dass man nach dem Schnitt nicht mehr geföhnt und frisiert wird – sondern es selbst machen muss. Wahrscheinlich schreiben die Friseure es deshalb auf Englisch, damit die Kunden nicht gleich merken, dass sie in einer Servicewüste gelandet sind. Man stelle sich vor, da stünde „Schneiden und Gehen“. Klingt nicht so nett, oder?
Letztens kam ich in einer Seitenstraße vom Ku’damm, dem etwas angestaubten ehemaligen Zentrum West-Berlins, an einer großen Schaufensterfront vorbei. Ich geriet ins Stocken. Ich schaute zweimal hin – da stand doch wirklich in riesigen Lettern „Botox to go“ auf der Ladenfront. Darunter: „Kommen Sie rein und lassen Sie sich behandeln!“. Nein danke, dachte ich mir. Davon konnte mich auch die Beteuerung, dass es nur eine halbe Stunde dauern würde, nicht abbringen.
Und selbst das eher bodenständige Viertel Neukölln bleibt nicht vom to-go-Wahnsinn verschont. Neulich sah ich dort bei einem Bäcker die Anpreisung: „Coffee to go – jetzt auch zum Mitnehmen“. Ich sag es ja, sie stiften nur Verwirrung, diese Anglizismen.

Rana Göroglu

 

Kunst-Leder-Welten

Eigentlich mache ich mir nicht viel aus Fußball. Ich gehöre zu denjenigen, die von wahren Fans zutiefst verachtet werden: ich ignoriere Bundesliga und UEFA-Cup, aber zur Europa- und Weltmeisterschaft darf ich kein Spiel verpassen. Am liebsten schaue ich zusammen mit Freunden oder in Kneipen, bei warmem Wetter auch gerne unter freiem Himmel. Zur EM und WM verwandeln sich in Berlin ganze Straßenzüge in Freiluft-Fußballkinos. Kein Café oder Restaurant, dass nicht einen Fernseher nach draußen gestellt hätte. Aber daran ist ja momentan nicht zu denken.
Doch es gibt in Berlin gerade eine Ausstellung, die Fußball-Banausen wie mir dabei helfen soll, sich trotzdem schon jetzt auf „unsere“ WM im nächsten Jahr einzustimmen. Kunst und Fußball? Ich war mehr als skeptisch. Das Werbeplakat zur Ausstellung mit dem „Kaiser“ drauf, der zwei Orangen zwischen sich und einer Wand balanciert, schuf dem nicht wirklich Abhilfe. Trotzdem besuchte ich die „Rundlederwelten“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Einmal schnell durchhuschen, die Klischees rund um den Ball betrachten und wieder weg, so hatte ich mir das vorgestellt. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Ich war über zwei Stunden in der Ausstellung, amüsierte mich über uralte Plattencover verschiedenster Fußballlieder (gerne von den Spielern selbst gesungen), bestaunte unsere Frauennationalmannschaft in Miniatur (wie gerne hätte ich mit denen gespielt) und schoss enthemmt (weil ohne Publikum) auf die Torwand aus dem „Aktuellen Sportstudio“. Ich sah mir Videos von gruseligen Spielen im Nebel an und ekelte mich vor einem Kunstwerk namens „Linker Verteidiger, rechtes Bein“, einem synthetischen Rohdiamanten, der aus einem amputierten Bein hergestellt wurde. Der Spender des Beins soll ein passionierter Fußballspieler und Raucher gewesen sein. Auch gefallen hat mir die bespielte Rauminstallation mit einer aus der Nase blutenden Frau, die in ihrem Büro die Weltmeisterschaft zu organisieren schien, aber doch etwas desorientiert wirkte. Habe mich aber nicht getraut, sie anzusprechen.
Das Beste daran: es gab keine grölenden Fußball-Fans, die vor dem Eingang noch schnell ein Bier gezischt hätten. Und als ich nach der Ausstellung noch durch den herbstlichen Tiergarten schlenderte, bekam ich richtig Lust, selber das runde Leder zu kicken. Auf dem Rasen vor dem Reichstag ist das inzwischen ja leider verboten. Das war den Volksvertretern wohl doch zuviel der Nähe zum Volk.

Rana Göroglu

 

Landpartie (2)

Gestern erzählte ich vom Verhältnis der Berliner zu ihrem Umland. Das war ein kleiner Prolog, eigentlich wollte ich über meine Wochenenderlebnisse schreiben. Am Sonnabend war es nämlich für mich mal wieder so weit. Ich bin mitsamt meinem Fahrrad in einen der roten Züge gestiegen, die die Hauptstadt mit jwd („janz weit draußen“) verbinden. Normalerweise bricht man beim ersten Krähen des Hahnes ins Umland auf (obwohl: die dürfen im Moment ja eh nur drinnen krähen). Ich habe es diesmal ganz anders gemacht. Erst spät am Abend bin ich aufgebrochen. Die Umlandbevölkerung war gerade auf dem Weg in die Berliner Großraumdiskos und Multiplexkinos, um ein bisschen Hauptstadtflair zu erleben. Ich war auf dem Weg nach Werder an der Havel. Gute Freunde aus Berlin feierten dort eine Party.

Werder an der Havel empfing mich ziemlich dunkel und schweigend. Ich radelte auf einer langen geraden Straße durch den Ort, die von bescheidenen Einzelhäusern gesäumt war. Überall heruntergelassene Rollläden, schummerige Straßenbeleuchtung. Ich kam an einer kleinen Kneipe vorbei und an einem kleinen Kino. Sahen beide ganz manierlich aus. In Berlin hätte ich sie wahrscheinlich sofort inspiziert und am nächsten Tag als Geheimtipp weiterempfohlen. So fuhr ich einfach dran vorbei. Geheimtipps aus Werder will keiner haben.

Die Party war in einer Feriensiedlung außerhalb der Stadt. Die Freunde waren mit zwei VW-Bussen angerückt und hatten alles mitgebracht. Darum gab es auch dieselben Drinks wie immer, aus den Lautsprechern tönte dieselbe Musik, und weil wir alle nur Menschen aus Berlin kennen, waren auch dieselben Leute da. Wenn Berlin eine Insel ist, dann saßen wir jetzt auf einem Floß.

Im Bungalow nebenan feierten Leute aus der Gegend. Ihre Musik war lauter als unsere, sie tranken mehr als wir und es war dort ein ständiges Kommen und Gehen. Obwohl sie ganz nett wirkten, gab es keinen Kontakt zwischen unseren Gruppen. Wir haben irgendwann die Rollläden runtergelassen und unsere Musik etwas lauter gemacht. Die anderen haben wir kaum noch gehört. Wir hatten uns eine richtig kuschelige Hauptstadtblase eingerichtet. Warum wir aufs Land gefahren waren, wusste am nächsten Morgen niemand mehr. Den
Rest des Herbstes werde ich wohl in Berlin verbringen.

Falko Müller

 

Landpartie

Es kommt einem manchmal nicht so vor, verdient aber – gerade in diesem Blog – erwähnt zu werden: Berlin hat auch ein Umland. Und da wohnen auch Menschen. Damit wir sie nicht völlig vergessen, kommen diese Menschen hin und wieder zu Besuch in ihren alten Renaults und tiefer gelegten Astras, die Kennzeichen tragen wie OPR (Ostprignitz) oder MOL (Märkisch-Oderland). Außerdem fahren quer durch die Stadt leuchtend rote Regionalbahnen, die auf leuchtend grünen Digitalanzeigen verkünden, dass sie in Städte wie Elsterwerda oder nach Rathenow fahren. Als kleine Erinnerung daran, dass Elsterwerda und Rathenow ja auch noch da sind, dass es viele gute Gründe gibt, sie zu besuchen, und dass wir doch bitte mal wieder vorbeikommen sollen.

Stadt und Land – Hand in Hand, das mag im glücklichen Süddeutschland funktionieren. Hier ist es nicht so angesagt. Das Wort der „Vergreisung und Verdeppung“ im ländlichen Brandenburg macht die Runde – das passt nicht zu unserer jungen, kreativen Stadt. Wenn die Berliner ihr Umland besuchen, wollen sie sich in einsamen Seen tummeln und arglose Milchkühe streicheln. Zum Gespräch mit Greisen, Deppen oder ganz normalen Menschen gibt es meistens gar keine Gelegenheit. Fünfzig Kilometer vom Alexanderplatz kann es einsamer sein als in den weitesten Weiten Skandinaviens. Den meisten Berlinern ist das ganz recht. Wer was erwartet vom Leben, so sinniert der Berliner, der ist ja eh schon längst hierher gezogen.

Falko Müller