Lenin hat den Zug nach Russland nie bestiegen. Die Schweizer Sowjetunion kämpft für den Kommunismus. Der Krieg tobt seit 96 Jahren.
Armin Petras stellt die Bühnenfassung von Krachts wilder Geschichtsvision vor: Darin soll ein Schweizer Parteikommissär den polnisch-jüdischen Staatsfeind Brazhinsky verhaften. Oberst Brazhinsky herrscht über ein unterirdisches Waffenlager im Reduít, einem gigantischen Labyrinth-System in den Alpen. Zunächst trifft der Parteikommissär jedoch auf die Frau des Gesuchten, Divisionärin Favre. Eine schicksalhafte Begegnung…
Die Erstaufführung fand am Staatstheater Stuttgart statt. Jetzt kommt auch Berlin in den Genuss des abwegigen Theaterabends.
Das Hamburger Thalia sowie das Deutsche Theater (DT) haben am Wochenende Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes von Roland Schimmelpfennig aufgeführt. Begeisterung weckte keine der Inszenierungen. Das Stück sei einfach zu dünn, urteilt die Süddeutsche Zeitung.
Der Tagesspiegel hält Martin Kušejs Peggy Pickit am DT für die intelligenteste Geistlosigkeit seit Langem. Darum geht es: Zwei Medizinerpaare feiern ihr Wiedersehen bei einem Essen mit viel Wein. Die Freunde waren sechs Jahren lang getrennt. Carol und Martin haben ihren Einsatz in einem afrikanischen Krisengebiet beendet. Ihre Beziehung ist zerrüttet, und ihr Waisenkind haben sie auf der Flucht zurückgelassen. Liz und Frank haben es in der Zwischenzeit zu Haus und Kind gebracht, aber trotzdem kein Glück gefunden. Die Heimkehrer beneiden die Freunde um ihren Wohlstand. Die Daheimgebliebenen schämen sich ob ihrer fehlenden Courage. Die Frage nach dem zurückgelassenen Adoptivkind mündet in einem Streit über persönliche Verantwortung, den Westen und den afrikanischen Kontinent. Die weiße Babypuppe Peggy Pickit und die afrikanische Holzfigur Anne-Abenie sollen vermitteln. Aber für einen Dialog fehlt den Paaren die Schnittfläche. Am Ende ohrfeigen sich die Frauen.
Immerhin, so die Frankfurter Rundschau, funktioniert Peggy Pickit zumindest in Hamburg als Theaterstück. Am DT hat’s nicht mal zur Katastrophe gereicht, befindet die Nachtkritik gelangweilt. Vielleicht liegt es auch an der Dekontextualiserung, dass die Aufführung das Publikum nicht mitreißen kann und zu eindimensional erscheint. Peggy Picket ist als Teil der Afrika-Trilogieentstanden, einer Co-Produktion von westlichen und afrikanischen Autoren und Regisseuren. Aber das wird erst Schimmelpfennigs Inszenierung am Burgtheater zeigen. Bis dahin gibt es noch viele Karten am DT!
19.30 Uhr | 23. November 2010 |Deutsches Theater | Schumannstraße 13a | Berlin Mitte
Auf dem ehemaligen AEG-Gelände im Wedding findet das Theaterfestival Past Forward statt.
Die Plattenvereinigung und das Maxim Gorki Theater haben fünf Künstler(-gruppen) eingeladen, Projekte für die Konstruktion aus recycelten Plattenbauteilen zu entwickeln. Ihre Theaterstücke und Installationen betrachten das Spannungsfeld zwischen privatem Lebensentwurf und sozialer Utopie.
Sehenswert hören sich vor allem die folgenden Beiträge an: Freitag und Samstag inszenieren Jana Denhoven und Sven Lison 2/3 Beton, einen szenischen Gesprächsabend mit vier Gästen und zwei Broilern! Gastgeberin und Gesprächsthema ist die unbekannte Besitzerin eines gefundenen Tagebuchs. Und am Sonntag spürt Building 22 in Das Haus der Geschwister der deutschen Geschichte nach. Die vier kanadischen Architekturstudenten untersuchen die mysteriöse Betonkonstruktion, auf die die Protagonisten ihrer Prelude im Dschungel treffen.
Auf dem Programm stehen neben weiteren Theaterversuchsanordnungen auch Interaktionen mit den Besuchern: Wer Röntgenbild und MP3 mitbringt, kann sich etwa eine Schallplatte recyclen lassen. Susanne Kudielka und Kaspar Wimberley reaktivieren die Technik Rock auf den Knochen (Rok na kostyach), mit der in der Sowjetunion illegal westliche Musik verbreitet wurde. (Die Anmeldung erfolgt unter ticket@plattenvereinigung.de ) Und bei Steuererklärung von Kulturmassnahmen können die Zuschauer ihre alten Steuerunterlagen vernichten.
19 Uhr | 19.-21. November 2010 | Peter-Behrens-Halle | Gustav-Meyer-Allee 25 | Berlin Wedding
Geld ist ein Alien, der Mensch sein Wirt, die Geldwirtschaft ein SciFi-Thriller.
Money – It Came From Outer Spaceist eine Vortrag-Performance-Theatererfahrung der absurden Art. Der Videokünstler Chris Kondek und die Journalistin Christiane Kühl verfechten eine abwegige Theorie: Geld kommt aus dem Nichts und lässt sich nicht kontrollieren. Folglich muss es extraterrestrischer Herkunft sein.
Ihre Erklärungen stützen sich neben Filmausschnitten und Zitaten aus Wissenschaft und Politik vor allem auf die Analyse alter amerikanischer Science-Fiction-Filme. Die weisen nämlich abenteuerliche Parallelen zu unserer Geldwirtschaft auf.
Klingt nicht nur verrückt, sondern gestaltet sich auch in der Praxis ziemlich abgedreht. Und das macht die Aufführung so amüsant wie anregend, finden Spiegelund Nachtkritik.
20 Uhr | 15 November 2010 | HAU 3 | Tempelhofer Ufer 10 | Berlin Kreuzberg
Jungdramatiker Kluck hat für das Stück den Kleist-Förderpreis erhalten und die Frankfurter Rundschau findet es „unverschämt unterhaltend“.
Der Inhalt klingt nach einer selbstmitleidigen Klage über unsere gefühlskalte, erfolgsgetriebene Gesellschaft: Die Hoffnung auf eine Karriere bestimmt das anstrengende Leben des jungen Ingenieurs Daniel Putkammer. Er geht aus, betrinkt sich, blitzt bei den Frauen ab und fährt betrunken nach Hause. Dass er dabei einen Radfahrer umfährt und flüchtet, verschafft ihm eine seltsame Befriedigung.
Wenn das Publikum so etwas noch sehen will, muss es wirklich gut gemacht sein. Jedenfalls gibt es nur noch Restkarten an der Abendkasse.
20.30 Uhr | 13. November 2010 | DT Box | Schumannstraße 13a | Berlin Mitte
Lars Eidinger und Katharina Schüttler spielen es einfach grandios, dieses Ehepaar Hedda Gabler und Jörgen Tesman. Hedda, verzweifelt am Mittelmaß ihrer Existenz, läuft in ihrer schicken Glas-Beton-Villa Amok. Der tumbe Tesman sieht hilflos zu, wie seine wunderschöne Frau sich und ihr Umfeld zugrunde richtet.
Ostermeier hat das Ibsen-Stück über die Wünsche und Ängste des Bürgertums präzise in die Gegenwart übersetzt. Und so nüchtern, dass es beim Zusehen schmerzt. Alles ist so vertraut: das Streben nach Statussymbolen und Sicherheit ebenso wie die Beklemmung der Bürgerlichkeit und diese unbestimmte Sehnsucht nach etwas Großem. Passend zur Sonntagabend-Stimmung.
Die Kunstnacht Nacht und Nebel zeigt Neukölln von seiner besten Seite.
Chauffiert Neukölln erkunden klingt dekadent und nach Elendstourismus. Es geht aber um Kunst.
Die Taxis haben die Kultuschaffenden des Viertels gechartert. Sie wollen zeigen, was Neukölln zu bieten hat, nämlich Kunst, Theater und Filme an den verschiedensten Orten.
Die Angebote reichen vom privaten Atelierbesuch bis zur wilden Party. Alle teilnehmenden Orte lassen sich bequem mit den ausgezeichneten Taxis erreichen. Für neugierige Entdecker könnte es ein durchaus spannender Abend werden. Und die Aktion verdient Unterstützung, gerade weil die Neuköllner Kulturszene gemessen am Angebot Kreuzbergs noch Entwicklungsgebiet ist.
Das Motto der Veranstaltung Gedenken 3000 – für Christoph Schlingensiefklingt platt und ist doch konsequent – oder dem Anlass angemessen. Immerhin wird hier eine ganze Stadt eingeladen zu einem öffentlichen Trauerfest. Im großen Stile zelebriert die Volksbühne den Abschied von einem sehr lauten, sehr öffentlichen und sehr visionären Menschen. Mit ihrem Festakt erweist sie Christoph Schlingensief eine letzte wilde Ehre und feiert sein Vermächtnis.
Der Abend spiegelt die Bandbreite seines Ouevres: Die Volksbühne zeigt neben Filmen auch Installationen und im ganzen Haus finden Gespräche und Darbietungen statt. Zudem widmet der rbb Schlingensief eine lange Filmnacht und überträgt sie ab 23.15 Uhr in die Volksbühne. Währenddessen wird an einer großen Tafel gemeinsam getrunken und gegessen, was die Anwesenden mitgebracht haben.
Wer teilnehmen möchte, sollte sich anmelden unter: +49 (0)30 240 65 777 oder ticket@volksbuehne-berlin.de.
„Und jetzt los, ihr Ärsche, Premierenfeier! Tanzen!„ – so beendet der Regisseur Patrick Wengenroth die erste Vorstellung des Weltkriegstheaters Die letzten Tage der Menschheit. Es ist der Abschluss einer Inszenierung, die sich ohne falsche Scheu an Karl Kraus‘ monumentales Werk wagt.
Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs beginnt Karl Kraus 1915 sein dokumentarisches Drama Die letzten Tage der Menschheit. Das Stück ist eine Satire, die den Krieg ad absurdum führt. Im Jahr 1922 umfasst es 1000 Seiten mit mehr als 500 Figuren in 220 Szenen. Es ist gespickt mit Artikeln, Befehlen, Protokollen, unzähligen Zitaten und surrealen Elementen. Angesichts des Werkumfangs empfiehlt Kraus von der Inszenierung abzusehen, erstellt selbst eine Bühnenfassung.
Der Regisseur Patrick Wengenroth kennt hingegen kein Erbarmen mit dem Publikum – aus Satire wird buchstäblich Karikatur: Mal rockt die Berliner Band Die Türen die Bühne, mal gehört sie alten Bekannten aus dem Kinderprogramm wie den Simpsons oder den Muppets und dann wieder Wengenroth selbst. Alles ist überzeichnet, die Szenen folgen dicht auf dicht und sind dabei inhaltlich nur lose aneinander gereiht. In diesem aberwitzigen Kontext gewinnen die ernsten Momente an Kraft. Den Zuschauern steht der Irrsinn des Krieges deutlich vor Augen – und genau das bezweckt Wengenroth mit seinem „intelligenten Klamauk“.
19.30 Uhr | 26. Oktober | Hebbel am Ufer 2 | Hallesches Ufer 32 | Berlin Kreuzberg
Tentativi de volo, Flugversuche, an der Volksbühne ist die ultimative Flucht aus dem Alltag. In einer Art Dunkelkammer erleben kleine Zuschauergruppen die Performance der Gruppe Ortographe umAlessandro Panzavolta. Die Rauminszenierung taucht das Publikum dabei in eine Flut aus Bildern, Projektionen, Lichtern und Musik. Garantiert ohne Worte!
19; 20.30 und 22 Uhr| 24. Oktober 2010 |3. Stock der Volksbühne | Rosa-Luxemburg-Platz | Berlin Mitte