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Verwischen als Prinzip

Es geht wieder los: Bis zum 17. Mai präsentiert das nunmehr zum neunten Mal stattfindende Festival Blurred Edges eine Fülle von experimenteller Musikperformances, die von zahlreichen lokalen und internationalen Künstlern an verschiedenen Hamburger Spielstätten aufgeführt werden. Am 2. Mai startet das Festival in der Christianskirche mit einem Klavier- und Synthesizer-lastigen Programm rund um die Rad betitelte Komposition von Enno Poppe. Des Weiteren auf dem Programm: Werke des von Scelsi, Xenakis und Ligeti geprägten französischen Komponisten und Messiaen-Schülers Tristan Murail und Programming Pinocchio von Francesco Filidei. Seine Uraufführung erlebt an diesem Abend Sascha Lino Lemkes AKKORDeONoff für einen Pianisten, Mundharmonika, Zylinder und A/V-Elektronik. Die ausführenden Musiker: Bernhard Fograscher, Jennifer Hymer und Sascha Lino Lemke.

TEXT: MICHELE AVANTARIO

 

80er/90er-Style

Alle gehen nach Berlin. Das Künstler-Geschwister-Duo Low Bros  kommt nach Hamburg. Na ja, zumindest temporär mit ihrer Ausstellung Menace Beach PT.2 in der OZM Gallery. Christoph und Florin Schmidt waren früher als die Graffiti-Writer Qbrk und Nerd in den Straßen der Großstadt unterwegs. Seit 2011 arbeiten sie gemeinsam an großformatigen Bildern mit stilisierten Tierfiguren, deren Ästhetik extrem an Computerspiele der achtziger und neunziger Jahre erinnert – deshalb wohl auch der Ausstellungstitel Menace Beach, nach dem gleichnamigen Nintendo-Skateboarding-Spiel. Die aktuellen Werke zeigen knallige Farben, geometrische Formen sowie Comic-Elemente. Im Anschluss an die Vernissage pilgert das Publikum zum Grapefruit Club ins Golem, da legen unter anderem Paul Gregor, Block Barley und Kael Misko auf.

TEXT: LENA FROMMEYER

 

Kakerlakeninvasion

Zur 10. Jahresausstellung wird der Kunstraum Hosenstall in St. Georg zum Ort für Konsumkritik: Kuhttips ist eine Gemeinschaftsausstellung über und gegen die Massentierhaltung. Gezeigt werden Fotografie, Malerei und Objekte von 13 Künstlern, darunter Alex Freyland, Felizitas Schäfer und Pavel Ehrlich. Da in dem Thema eine Menge Konfliktpotential steckt – auch weil eigentlich jeder gegen Massentierhaltung ist, aber nur wenige ihr Konsumverhalten dementsprechend anpassen – konnten die Künstler diverse tragikomische Arbeiten schaffen. Dazu gehört eine Arche für bedrohte Tierarten, Sing-Sing Hühner, eine Kakerlakeninvasion, der Mann mit der Riesenwurst und ein Zitat-Tryptichon zum Lied Ein Pferd klagt an von Bertolt Brecht. Den Soundtrack zur Vernissage am 2. Mai liefert das Duo Schmidl-Paz mit Lydia Schmidl am Akkordeon und Jorge Paz an der Gitarre. Außerdem kann man sich guten Gewissens am vegetarischen Büffet bedienen, das von den Künstlern vorbereitet wurde.

TEXT: LENA FROMMEYER

Ausstellung bis 28.05.2014, Mi-So 16–22 Uhr

 

Esso-Häuser-Echo

Wer im Februar seinem Frust über den Abriss der Esso-Häuser Luft machen, seine Ängste über die Entwicklungen der Wohnungspolitik loswerden oder seine Erinnerungen an den Gebäudekomplex am Spielbudenplatz in Worte fassen wollte, der wählte die Telefonnummer der Hamburger Künstlerin Sylvi Kretzschmar. Ihrem Aufruf zum Nachruf folgten viele Menschen. Die eingegangenen Nachrichten hat Kretzschmar in Kombination mit Interviews zu einer „kollektiven Rede“ zusammengeschnitten, die auf Kampnagel via Megafon-Installation musikalisch und choreografisch aufgeführt wird. Den „Megafonchor“, bestehend aus zwölf Frauen, kennt man bereits von der ein oder anderen Demonstration. Im Anschluss zeigt das Team von Empire St. Pauli ihren Dokumentarfilm Die Esso-Häuser, in dem Aktivisten der Initiative Esso-Häuser, Bewohner, Anwohner und Gewerbetreibende sowie Politiker, Investoren und Architekten zu Wort kommen. Erste Ausschnitte wurden im April bereits im Rahmen der Dokumentarfilmwoche im Metropolis Kino gezeigt.

TEXT: LENA FROMMEYER

 

Massenkultur?

Das mobile Kino Flexibles Flimmern widmet sich der Frage: „Versinken wir im mediokren Sumpf der Quantität an kreativem Output oder kann es nie genug davon geben?“ Das kombinierte Event aus Filmvorführung und Ausstellung im PROJEKTOR thematisiert das Standing des Künstlers in der digitalen Kulturindustrie. Für ihre Dokumentation PressPausePlay trafen David Dworsky und Victor Köhler Kulturschaffende rund um den Globus und sammelten ambivalente Erfahrungsberichte: Der isländische Komponist Ólafur Arnalds beispielsweise wäre wohl ohne digitale Selbstvermarktungsmedien wie YouTube und Twitter nicht so erfolgreich, wie er es heute ist. Andere wiederum leiden unter finanziellen Einbußen durch Netzpiraterie. Der Internetkritiker Andrew Keen betont, dass soziale Medien vor allem dem Narzissmus eine Bühne liefern und Klickzahlen vor die künstlerische Leistung gestellt werden. Der Film wird am 2. und 3. Mai jeweils um 20 Uhr (Einlass: 19 Uhr) gezeigt. Am 1. Mai eröffnet ab 15 Uhr die angeschlossene Ausstellung von Künstler Frank Scherbarth. Er porträtierte Persönlichkeiten, deren Haltung und Ideen ihn beeinflussten, darunter Michel Foucault, Schorsch Kamerun und Marvin Gaye.

TEXT: LENA FROMMEYER

Reservierungen für die Kinoabende: reservierungen@flexiblesflimmern.de

 

Zackige Zeichner

Vom Buchillustrator bis zum Schnellzeichner – bei der Gruppenausstellung Hamburg Illustriert zeigen zehn Illustratoren in der Kulturreich Galerie ihre Bilder. Unsere Stadt hat – dank spezieller Studiengänge und Verlage wie Carlsen – eine recht umtriebige Zeichnerszene, die sich bei Events wie diesem der Öffentlichkeit präsentieren. Die Ausstellung findet zum dritten Mal statt, diesmal unter dem Motto Vom Norden. In ihren Ateliers tüftelten die Künstler mit verschiedenen Techniken, erstellten Druckvorlagen, rührten Farbe an … Beteiligt sind Eva König, Corinna Chaumeny, Tobias Pahlke und Jan-Hendrik Holst, Gabriela Kilian, Jana Bonsignore, Meike Teichmann, Kristina Gehrmann, Miriam Elze und Daniela Chudzinski. Zur Vernissage am 29. April ab 19 Uhr können die Gäste eigene Textilien mitbringen und live vor Ort eine Gemeinschaftsarbeit der Illustratoren via Siebdruck darauf verewigen. Ab dem 30. April ist die Ausstellung dann für die Öffentlichkeit zugänglich. An den Wochenenden lohnt sich ein Besuch während der Aktionstage jeweils ab 15 Uhr – am 1. Mai wird das Siebdruck-Angebot wiederholt, am 10. Mai gibt es eine Zeichenstunde für Kinder, am 29. Mai werden zum Gespräch Illustration im Ausland studieren nordische Snacks serviert und am 31. Mai startet eine Kinder-Ralley.

TEXT: LENA FROMMEYER

Ausstellung: 30. April –31. Mai
Öffnungszeiten: Mo-Sa, 12–18 Uhr
Kulturreich
Wexstraße 28
20355 Hamburg
www.hamburgillustriert.wordpress.com/

 

Popkultur-Eltern

Was, wenn man ein Kind bekommt und weiterhin Lust auf Demos und Ausgehen hat? Oder anders herum – man plötzlich an seinem alten Szeneleben kein Interesse mehr zeigt? So richtig viele Ratgeber gibt es nicht, die das Thema Elternschaft in diesem gesellschaftlichen Rahmen beleuchten. Die Buchhandlungen sind voll von Tipps zur Kühlung von entzündeten Brustwarzen oder Anleitungen zum Breikochen. Aber wie verändert sich das popkulturelle Leben durch den Nachwuchs? Im Buch The Mamas & the Papas. Reproduktion, Pop und Widerspenstige Verhältnisse (Ventil Verlag) sind Gedanken und Erfahrungen von Eltern niedergeschrieben, bei denen sich beispielsweise (gefühlte) Szenezugehörigkeiten verschieben oder auflösen. Aber auch Beiträge zu Erziehung und Feminismus und eine Diskursanalyse des Stillens haben die Herausgeberinnen Annika Mecklenbrauck und Lukas Böckmann gesammelt. Beispielsweise führten sie ein Gespräch mit Almut Klotz und Frank Spilker zum Thema „Stillen in der Abstellkammer“. Gespannt sein darf man auch auf das alternative Model zur Gleichberechtigung „50/50: Mutter, Vater, beide gleich?“ von Susanne Bruha und Michael Bohmeyer. Lesung im Gängeviertel.

TEXT: LENA FROMMEYER

 

Das fremde Ich

Lena schaut in den Spiegel und sieht eine fremde Frau. Sie kann sprechen, Fahrrad fahren, sie weiß, wie die Hauptstadt der Niederlande heißt, aber an sich selbst erinnert sie sich nicht. Durch eine Krankheit empfindet sich Lena wie eine Fremde. Selbst an Tore, an das Gefühl der Verliebtheit, erinnert sie sich nicht. Er ist der Mann, der ihr helfen will, sich wiederzufinden und dennoch liest Lena ihr eigenes Tagebuch wie das einer anderen. In Jan Schomburgs zweitem Film, Vergiss mein Ich, ist der Zuschauer wieder mit einem Identitätskonflikt konfrontiert – wie auch schon bei seinem Debüt Über uns das All, in dem eine Frau den Tod ihres Mannes hartnäckig ignoriert. Zur Premiere des Amnesie-Dramas sind sowohl Hauptdarstellerin Maria Schrader als auch Filmemacher Jan Schomburg im Abaton zu Gast.

TEXT: LENA FROMMEYER

 

Nestbeschmutzer

In der wunderschönen Werbewelt bringt Shampoo die Haare zum Wachsen, lässt Waschmittel rote Weinflecken verschwinden und transformiert Deo einen Nullachtfünfzehn-Mann zum Frauenmagneten. Das mobile Kino Flexibles Flimmern möchte in diese Welt der falschen Versprechen eintauchen und zeigt die provozierende Verfilmung des konsumkritischen Bestsellers 39,90 an dem einzigen Ort, der dafür infrage kommt – richtig, einer Werbeagentur. Die schwarze Komödie dreht sich um den erfolgreichen Kreativen Octave Parango, der als Genie gefeiert wird, die Models reihenweise flachlegt und schließlich sein Leben als Egomane satt hat. Er ist Alter Ego des französischen Schriftstellers Frédéric Beigbeder, Autor des gleichnamigen Buches, auf dem der Film basiert. Der ehemalige Werbetexter der renommierten Agentur Young & Rubicam wurde noch vor der Veröffentlichung von 39,90 gefeuert. Eine klug kalkulierte Vermarktungsstrategie des Buches? Vielleicht. Geflimmert wird am 28. und 29. April im schicken Foyer der Agentur RAPP Germany GmbH auf St. Pauli. Vor dem Film gibt es französische Speisen und Getränke.

TEXT: LENA FROMMEYER

Reservierung: reservierungen@flexiblesflimmern.de

 

Plötzlich spießig

Das Horrorszenario eines urbanen 24-Jährigen: Nach der Party ein Mädchen geschwängert, Reihenhaus im Vorort bezogen, irgendeinen Nine-to-Five-Bürojob angenommen. Diesem Normalitätsdruck ist der junge Vater (Sven Schelker) nicht gewachsen und rastet aus, schmeißt den PC aus dem Bürofenster, seinen Job hin und schaut tief ins Schnapsglas. Und da ist er, der Alkohol als Lösung oder zumindest Betäubungsmittel seiner Probleme und Auslöser eines wilden Wochenendes, bei dem er mit einer anderen Frau rummacht, sich prügelt und schließlich doch wieder am Bett seines Kindes steht. In der Inszenierung Rum & Wodka von Conor McPherson wägt ein Mitte-Zwanzigjähriger Verantwortung und Selbstverwirklichung ab und stellt sich Fragen mit denen sich viele Altersgenossen beschäftigen: Soll ich so leben, wie man es von mir erwartet oder mein eigenes Ding durchziehen? Und ist es schlimm, wenn Spießigkeit plötzlich doch glücklich macht?

TEXT: LENA FROMMEYER