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Ulema, hört auf mit dem Schwanz zu denken!

Hakan Turan, schon öfter Gast auf diesem Blog, hat einen berechtigten Wutanfall angesichts der frauenfeindlichen Edikte afghanischer Islamgelehrter (der ganze Essay ist wert, gelesen zu werden):

Eheliche und sonstige Gewalt insbesondere an Frauen gibt es auch in westlichen Ländern, und auch hier in Deutschland.

Jedoch gibt es hier auch ein staatliches System und ein Gesetz, das der Frau umfassenden Schutz zusichert und dem Täter gebührende Strafe zukommen lässt. Darum geht es mir hier – und nicht etwa um eine unhaltbare Verallgemeinerung islamischer Gesellschaften als schlecht und westlicher Gesellschaften als gut.

Ferner kann und werde ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass meine Religion als theoretische Rechtfertigung dazu verwendet wird um ungerechte und unmoralische Machstrukturen zu legitimieren. Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass Probleme und patriarchale Entartungen in der Lebenspraxis mancher meiner Glaubensbrüder unmittelbar aus einer unbefangenen Koranlektüre resultieren würden (dieses absurde Szenario ist das Islamszenario der Islamkritiker – sie tragen die Beweislast). Ich bin der Überzeugung, dass in den meisten Fällen bereits bestehende oder erwünschte Machtgefälle nachträglich mit passenden Koranpassagen unterstützt oder legitimert werden. Der umgekehrte Weg (vom Koran zur Praxis) ist selten und erfüllt meist demonstrative und strategische Zwecke. 
Dennoch behaupte ich, dass das noch lange nicht gelöste Problem der staatlichen oder gesellschaftlichen Billigung ungerechter Strukturen und ehelicher Gewalt unter Berufung auf den Koran von uns Muslimen nicht vernachlässigt und unserem ungehemmten Pragmatismus geopfert werden darf. Schuld an diesen Missständen ist nämlich weder der Westen, noch eine etwaige jüdische Weltverschwörung, sondern an erster Stelle rückständige Patriarchen, die zu Unrecht im Namen deiner und meiner Religion im Wesentlichen dem Gesellschaftsmodell vormoderner Zeiten huldigen.

Ferner geht es hier auch um die Glaubwürdigkeit und logische Kohärez des Islams als theologische und moralische Theorie überhaupt. Diesen intellektuellen Kampf aufzunehmen und zu bestreiten ist aus meiner – freilich subjektiven Sicht – für Gegenwart und Zukunft des Islams viel essenzieller als viele andere der Dauerthemen in muslimischen Kreisen. Außerdem gilt gerade auch für den praktizierten Islam, dass nichts praktischer ist als eine gute Theorie (und nichts riskanter als ein in Schieflage geratenes und immunisiertes Weltbild).

Darum werte ich es jedes Mal erneut als Skandal, wenn ein „Gelehrter“ aufsteht und voller Inbrunst wiederholt „Keine Religion hat die Frau so gut behandelt wie der Islam – aber dennoch darf der muslimische Mann seine ungehorsame Frau (leicht) schlagen“ und anschließend erwartet, dass die muslimischen Jugendlichen ergeben folgen, und dass die Nichtmuslime verblüfft werden von soviel islamischer Überlegenheit gegenüber all den menschengemachten Systemen. Einfach zum Fremdschämen.

(…)

Ich jedoch glaube: Der Koran kam herab zu Menschen mit Vernunft, zu Menschen die Gottes Gedenken im Sitzen, Liegen und Stehen. Zu Menschen, die über die Schöpfung des Universums nachdenken, zu Menschen, die wissen, dass kein Fünkchen von guten und schlechten Taten verloren gehen wird.

Hier ist nicht alles Vernunft, aber ohne Vernunft verkümmert alles irgendwann zu nichts.

Der Koran kam herab um die blinde Huldigung der „Religion der Väter“ zu beseitigen und zu ersetzen durch eine in vollem Bewusstsein erschlossene, inbrünstig gelebte und von der Vernunft beglaubigte Gotteshingabe. Der Islam definierte Moral, den Dienst am Menschen und die Verpflichtung zur Wahrheit vor Eigennutz und Vereinsmeierei zur universellen und höchsten Instanz des Handelns. Jenseits aller historischen Besonderheiten des frühen Islams ist dies das prägende und universelle Wesen unserer Religion.

Wenn der andalusische Rechtsgelehrte Shâtibî aus dem 14. Jahrhunderte feststellt, dass die Endzwecke des islamischen Gesetzes Schutz von Religion, Leben, Eigentum, Nachkommenschaft und Vernunft lauten, dann haben wir allen Recht die heutigen Vertreter des Islams danach zu befragen, ob ihr Einsatz die hier besagten Werte eher fördert, oder sie eher unterläuft.

Die koranische Kritik an der blinden Loyalität gegenüber der Religion der Väter verstehe ich heute vor allem auch als unmittelbare Kritik an den Muslimen selbst. Die Religion der Väter, sprich die Islamauffassung von echten oder scheinbaren Autoritäten, ist nicht von sich aus heilig, sondern bedarf einer stetigen Kontrolle und Kritik der gesamten Gemeinschaft der Muslime. Die Voraussetzung hierzu ist das Streben nach Wissen, Weisheit, Gottesfurcht und Moral. Neben der allgemeinen Lebenserfahrung sind die wichtigsten Quellen des Muslims hierzu die Vernunft und die Offenbarung. Die fundamentalen Triebfedern dieses Strebens sind die stetige und rastlose Sehnsucht nach Wahrheit und das bedingungslose Pochen auf Gerechtigkeit – eine Gerechtigkeit, die der Koran als prinzipielle Grundhaltung fordert. Ein wichtiger Prüfstein für diese islamische Haltung ist der Mut aufzustehen und Nein zu sagen, wenn die Schwachen von den Mächtigen gestoßen und getreten werden, und sei es von den Hohepriestern aus den Reihen der eigenen Glaubensbrüder. So sehe ich das, und man möge mich korrigieren, wenn ich hierin falsch liege.

Es ist alarmierend, dass der Koran in der regelmäßig im Gebet rezitierten Sure Mâ’ûn (Sure 107) als „Leugner der Religion“ jene identifiziert, die die Waisenkinder, – sprich: die Schwächsten der Gesellschaft – zurückstoßen und die Armen nicht speisen. Ferner wird diese Gruppe beschrieben als Menschen, die ohne Herzblut beten, und dabei nur gesehen werden wollen um von „elâlem“ (türkisch: das allgemeine Umfeld) für fromm befunden zu werden. Zugleich stünden diese Personen jeglicher Hilfe für die Schwachen im Wege. Hat irgendjemand den Mut zu behaupten, dass nicht all diese Eigenschaften der in der Sure als „Leugner der Religion“ bezeichneten Menschen heute auf einen spürbar großen Teil von Muslimen zutreffen, die mit äußeren Darstellungen des Glaubens prahlen, die nicht verinnerlicht werden, und zugleich nicht im Traum daran denken sich selbstlos für die Schwachen einzusetzen? Wie oft drehen organisierte Gruppen bei irrelevanten Beleidigungen des Islams durch, während sie eine unglaubliche Geduld mit Brudermorden und anderen Fanatismen in den Reihen der Muslime an den Tag legen? Ja: Wie oft rezitieren wir diese Sure Mâ‘ûn, ohne auch nur ein Fünkchen von Erschütterung in unserem Herzen zu spüren?

Ich behaupte derweil nicht, dass ich das hier Gesagte selbst annähernd würdig umsetzen würde – jedoch möchte ich mir genau dies aber zum Lebensziel machen, so wie sehr viele andere Muslime auch, die aber zu höflich und zurückhaltend sind, um all diese Gedanken niederzuschreiben. Aber sie leiden nicht weniger als ich unter der Flut an Irrsinn, die tagtäglich über unseren Köpfen hinwegfegt und von den Medien begierig verstärkt wird.

Aus all diesen Gründen nehme ich so scheinheilige Stellungnahmen wie das Edikt des Ulema-Rates sehr ernst und zugleich auch sehr persönlich und werte es im vollen Wortsinn als Angriff auf meine Religion. Denn sie sprechen dem Islam nicht nur seine inhärente Vernunft, sondern letztlich auch jede moralische Glaubwürdigkeit ab.

Und sie machen deine und meine Religion instrumentalisierbar für archaische Machtstrukturen, mit denen ich nicht nur nichts zu tun haben möchte, sondern die ich auch im Sinne der Unterdrückten und Entrechteten gerne geradestoßen würde. Denn abermals: „Islamische“ Legitimationen von Unrecht sind und bleiben ein Verrat an Vernunft und Moral, und an den höheren moralischen Zwecken des Islams. 

Um konkreter zu werden: Wie wenn nicht Verrat an Vernunft soll ich es denn sonst nennen, wenn behauptet wird, dass nach dem Willen Gottes, dem weisen Schöpfer des Universums, dem Herren über Raum und Zeit und den Naturgesetzen bei Streitpunkten in Ehen zu allen Zeiten und an allen Orten unabhängig vom kulturellen Umfeld, der Bildung und der Lebenserfahrung der Partner das letzte Wort nicht etwa bei demjenigen Partner mit der entsprechenden themenbezogenen Kompetenz, Weisheit und Erfahrung liegen sollte, sondern bei demjenigen, der den Penis hat?

Bei der Lektüre ihrer Patriarchatshuldigungen frage ich mich immer wieder, mit welchem Organ die überzeugten Patriarchen unter den Ulema des Islams eigentlich denken: mit ihrem Gehirn, oder mit ihrem Fortpflanzungsorgan?

Ich habe genug Frauen erlebt, neben denen die angeblich zum Führen geborenen Männer wie pubertierende Halbstarke dastehen. Es gehört zu den großartigen Errungschaften der westlichen Welt eine solche Bildung und Erziehung für Frauen institutionalisiert zu haben. Davon profitieren hier Menschen aller Glaubensrichtungen und Weltanschauungen.

Und nun würde ich gerne von den besagten Ulema wissen:

Warum brauchen Musliminnen das System der von manchen unserer Ulema als „Kuffar“ verachteten Menschen des Westens um einen umfassenden Rechtsschutz vor dem Übergriff von Männern zu erhalten?

Warum müssen Musliminnen um sich der emanzipatorischen Seite des Islams erfreuen zu können erst außerhalb der Reichweite eures angeblich islamischen Rechtssystems kommen?

Was ist euer Beitrag gegen der frappierenden Analfabetismus in eurem Einflussbereich?

Was ist eure Antwort darauf?

Darüber sollte sich der Ulema-Rat Gedanken machen. Und nicht darüber, welche Frauenrechte man als nächstes abschaffen könnte.

In den Ländern der von euch als „Kuffar“ verachteten Menschen gibt es muslimische Professorinnen, exzellente muslimischen Schülerinnen und Studentinnen, Pädagoginnen, Beraterinnen, Managerinnen etc. etc. Wie klein werden manche Männer in Gegenwart dieser Generation von Frauen, die selbst die typischen Männeraufgaben irgendwann besser und gewissenhafter erledigen als verzogene Paschas und Machos.

Und was soll ich erst davon halten, wenn ihr behauptet, dass besagte Penisbesitzer aller Zeiten und Kulturen der Einsicht ihrer bockigen Frauen nicht etwa mit Argumenten und Geduld, sondern mit Schmerz erzeugenden und demütigenden Schlägen nachhelfen sollen, deren pädagogische wie psychologische Wirkungen nachweislich verheerend sind? Was nützt mir der Sieg in einem banalen Streit mit einem erwachsenen und gebildeten Menschen, wenn ich ihn nicht etwa mit überzeugenden Argumenten, sondern mit dem Einsatz von Muskelkraft gewinne? Ist es einen solchen Sieg wert, wenn dafür jemand, mit dem ich sonst auf Augenhöhe stehe, und mit dem ich mein Leben verbringe, und der sich vielleicht tagein und tagaus um meine alltäglichen Bedürfnisse kümmert, leiden und Demütigung ertragen muss?

Sorry, nein, ich bin da nich dabei…

Mir egal ob mit einem Hölzchen, einem Tuch oder mit der bloßen Hand: Ein solches Problemlösungsverfahren hat in unserer heutigen Zeit der Bildung, der Verhandlung und der möglichen finanziellen Unabhängigkeit auch von Frauen nichts mehr zu suchen. Punkt!

Aber Moment mal…

Aber Moment mal… Stehen all die Dinge, die ich hier kritisiere, nicht alle genauso im Koran? Ist das denn nicht islamischer Konsens seit Urzeiten des Islams? Kann ich als Moslem denn Ansichten, die doch nur denen des Gelehrtenmainstreams entsprechen, derart dreist widersprechen?

Ja, und ob ich das kann!

Und ich tue dies als gläubiger und praktizierender Muslim, der überzeugt davon ist hierin die universelle Vernunft und den gut verstandenen Koran auf seiner zu Seite haben.  (…)

 

Warum die Siedlungsfrage eben doch entscheidend für einen Frieden ist

Zur Versachlichung/Ernüchterung der Debatte um die Wichtigkeit der Siedlungsfrage für eine „Zweistaatenlösung“ empfehle ich den neuesten Satz von aktualisierten Karten, den OCHA auf der Website zur Verfügung stellt. In diesen Karten ist die Area C blau eingezeichnet, die unter alleiniger israelischer Kontrolle steht. Die Gebiete unter voller palästinensischer (Area A) bezw. gemischter Kontrolle (Area B) sind die beige eingefärbten Zonen.

Siedlungen in der Westbank, sowie die zu ihnen führende Infrastruktur liegen in Zone C. Weite Teile der Zone C sind militärische Pufferzone. An strategisch wichtige Stellen gibt es Checkpoints. Es ist deutlich zu erkennen, dass etwa Ramallah von einem Gürtel von Siedlungen umgeben ist. Das selbe gilt für Nablus weiter nördlich (nicht im Bild). Man erkennt darüber hinaus, wie der Verlauf der Sicherheitssperre (rot) von der grün gestrichelten Waffenstillstandslinie (Green Line) abweicht und ins palästinensische Gebiet hineinreicht.

Wer nach einem Blick auf diese Karten noch behauptet, die Siedlungsfrage sei „nicht entscheidend“ für eine Friedenslösung, macht sich und anderen etwas vor.
Die Landreserven von bis zu 10 Prozent der Westbank, die nach Haaretz von der israelischen Zivilverwaltung für weiteren Ausbau der Siedlungen vorgesehen worden sind, liegen ebenfalls in Area C.

 

Der Islam und die Zukunft der Linken

Sam Harris hat auf seiner Website einen Essay zum Thema „Der Islam und die Zukunft der Linken“ veröffentlicht, den ich bemerkenswert finde. Harris ist ein prominenter Vertreter des kämpferischen Säkularismus, ein Religionskritiker, der  keinen Glauben auslässt.

Dass unter allen Religionen der Islam heute das größte Problem für die Menschenrechte und die Freiheit darstellt, sagt er dennoch in aller Deutlichkeit. Er sagt es ohne Islamophobie und ohne sich von dem möglichen Vorwurf, der Islamophobie Vorschub zu leisten, beeindrucken zu lassen.

Er wendet sich gegen diejenigen, die jede Kritik am Islam unter diesem Label einordnen – ebenso wie gegen diejenigen, die unter dem Deckmatel der Islamkritik „Rassismus, christlichen Faschismus oder beides“ verstecken. Und er nimmt die Linke („liberals“), der er sich selbst zugehörig fühlt, hart ran für ihre Weigerung, den religiös motivierten, genozidalen Faschismus der Hamas-Charta ernst zu nehmen.

Of course, millions of Muslims are more secular and are eager to help create a global civil society. But they are virtually silent because they have nothing to say that makes any sense within the framework of their faith. (They are also afraid of getting killed.) That is the problem we must keep in view. And it represents an undeniable difference between Islam and Christianity at this point in history. There are also many nefarious people, in both Europe and the U.S., who are eager to keep well-intentioned liberals confused on this point, equating any criticism of Islam with racism or “Islamophobia.” The fact that many critics of Islam are also racists, Christian fascists, or both does not make these apologists any less cynical or sinister.

The only way to know which way is up, ethically speaking, is to honestly assess what people want and what they believe.  We must confront the stubborn reality of differing intentions: In every case it is essential to ask, “What would these people do if they had the power to do anything they wanted?”

Consider the position of Israel, which is so regularly vilified by the Left. As a secularist and a nonbeliever—and as a Jew—I find the idea of a Jewish state obnoxious. But if ever a state organized around a religion was justified, it is the Jewish state of Israel, given the world’s propensity for genocidal anti-Semitism. And if ever criticism of a religious state was unjustified, it is the criticism of Israel that ceaselessly flows from every corner of the Muslim world, given the genocidal aspirations so many Muslims freely confess regarding the Jews. Those who see moral parity between the two sides of Israeli-Palestinian conflict are ignoring rather obvious differences in intent.

My fellow liberals generally refuse to concede that the religious beliefs of groups like Hamas merit any special concern. And yet the slogan of Hamas, as set forth in Article 8 of its charter, reads: “Allah is its target, the Prophet is its model, the Koran its constitution: Jihad is its path and death for the sake of Allah is the loftiest of its wishes.” If this is insufficient to establish this group as a death cult of aspiring martyrs, consider the following excerpts from the charter:

  • [T]he Islamic Resistance Movement aspires to the realisation of Allah’s promise, no matter how long that should take. The Prophet, Allah bless him and grant him salvation, has said:
  • “The Day of Judgement will not come about until Muslims fight the Jews (killing the Jews), when the Jew will hide behind stones and trees. The stones and trees will say O Muslims, O Abdulla, there is a Jew behind me, come and kill him. Only the Gharkad tree would not do that because it is one of the trees of the Jews.” (related by al-Bukhari and Muslim). (…)
  • There is no solution for the Palestinian question except through Jihad. Initiatives, proposals and international conferences are all a waste of time and vain endeavors. (…)
  • It is necessary to instill in the minds of the Muslim generations that the Palestinian problem is a religious problem, and should be dealt with on this basis. (…)“

Whether or not every Palestinian believes these things is not the point. The point is that many do, and their democratically elected government claims to. It is only rational, therefore, for Israel to behave as though it is confronted by a cult of religious sociopaths. The fact that much of the world, and most Western liberals, cannot see the moral imbalance here only makes the position of Israel more precarious, leaving it increasingly vulnerable to overreacting to Palestinian provocations. If the rest of the world were united in condemnation of Hamas, and of Islamism generally, Israel could afford to be slower to reach for its guns.

 

 

Warum man die Zweistaatenlösung vergessen kann

Dieser Essay von Noam Sheizaf hat es in sich: Ein führender Vertreter der jungen israelischen Linken erklärt, warum der Status Quo  – also die dauerhafte Besatzung des so genannten „Westjordanlands“ (das irriger Weise immer noch so heißt, obwohl es sicher nie wieder zu Jordanien gehören wird) – für Israel die rationalste Wahl ist.

Noam Sheizaf, der Mitbegründer des linken Blogs „+972“ (nach Israels internationaler Vorwahl), bricht damit ein Tabu nicht nur der israelischen Linken, sondern auch der rechten Mitte, die offiziell an der so genannten Zweistaatenlösung festhält. Bisher, so Sheizaf, wurde die Alternative für die israelische Politik immer präsentiert als die Wahl zwischen Ein- und Zweistaatenlösung. Die Einstaatenlösung wäre dabei synonym mit dem Ende Israels als demokratischer und jüdischer Staat, weil die Demographie der arabischen Bevölkerung eine Mehrheit verleihen würde. Manche Verteidiger der Einstaatenlösung streben dieses Ziel ganz offen an, die meisten tun es etwas oberschlau heimlich, wohl wissend, was die Konsequenzen wären, wenn ihre Wünsche wahr würden. Das gilt für weite Teile der Boykott- und Sanktionsbewegung.

Die Zweistaatenlösung – Rückzug Isarels aus der Westbank, Abzug der meisten Siedler hinter die „Grüne Linie“, Austausch von Gebieten im Ausgleich für die verbleibenden Siedlungen, Entmilitarisierung des palästinenischen Staates, Teilung Jerusalems in zwei Hauptstädte für zwei Völker, Rückkehr einer symbolischen Zahl von Flüchtlingen und globale Entschädigung für den Rest; im Gegenzug dafür sofortige Anerkennung Israels durch 57 arabische und islamische Staaten wie in der arabischen Initiative festgelegt – gilt hingegen in der offiziellen Politik Israels und in der gesamten internationalen Community als einzige gangbare Möglichkeit, Israel langfristig als jüdischen und demokratischen Staat zu erhalten.

Es gibt andere Vorstellungen, die in Israel sehr wohl Teil des akzeptierten politischen Spektrums sind – „Transfer“ der Palästinenser; oder Annexion plus Zugeständnis weiterer ziviler Rechte an die Palästinenser, allerdings unter Ausschluss voller politischer Rechte (um den jüdischen Charakter des Staates zu wahren); schließlich die Hoffnung, dass viele Palästinenser von alleine gehen werden, wenn sie die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes um Souveränität erkennen müssen. Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh hat soeben einen Vorschlag gemacht, der sich aparter Weise mit den Vorstellungen von Teilen der israelischen Rechten deckt (wahrscheinlich in der paradoxen Hoffnung, eine Diskussion anzustoßen, die am Ende doch der Zweistaatenlösung vorhilft).

Diese Konzepte sind aber international nicht politikfähig, weil das Dogma der Zweistaatenlösung aus verschiednesten Gründen – die nicht alle mit der Lage vor Ort zu tun haben – hochgehalten wird. Es ist dabei, zur Lebenslüge der internationalen Politik zu werden. Dazu ein andermal mehr.

Wenn es aber so ist, wie die Vertreter der Zweistaatenlösung behaupten, dass nur sie das Überleben eines demokratischen jüdischen Staates garantieren kann, dann muss man sich die Frage stellen, warum sie so halbherzig verfolgt wird. In Wahrheit geht die Entwicklung „am Boden“ immer mehr in die Richtung einer Einstaatenlösung. Seit dem Oslo-Prozess, der eigentlich das Ende der Siedlungstätigkeit einläuten und die palästinensische Souveränität vorbereiten sollte, ist die Population in den besetzten Gebieten um das Zweieinhalbfache gewachsen. Es wächst schon die dritte Generation heran, die als Besatzer geboren wurde. „Temporär“ ist anders.

Noam Sheizaf hat eine Erklärung, die jenseits der vermeintlichen Alternative Ein- oder Zweistaatenlösung liegt:

Israel, the saying goes, is faced with two options: A two-state solution and a one-state solution. The first option involves removing most of the settlements from the West Bank (but not necessarily most of the settlers); the second one starts with annexing the West Bank and changing the demographic balance between Jews and Palestinians living under full Israeli sovereignty. Israelis – both leaders and the public – seem to be rhetorically adopting the former while in practice moving towards the latter.

Advocates for the government would explain this paradox with security concerns and “Arab rejectionism.” According to this line, Israel has made up its mind to leave the West Bank and even engaged in several attempts to do so; only to be met with violence and hostility from the Palestinian side. Critics would claim that the Israeli policy objective is not maintaining a Jewish majority but rather colonizing as much land as possible, hence the settlements and the reluctance to leave the West Bank.

The most popular rationale is a blend of the two approaches: Israel wants to leave the West Bank, but it was taken hostage by a minority of rightwing nationalists and messianic settlers, mainly due to “Arab rejectionism” and the failure of the peace process. When Israelis will be made to understand the danger of the current political trend – and when the Arab side is ready – they will come to their senses and regroup behind the demographically-secure Green Line.

This rationale, however, doesn’t bring into account a third option before Israeli policy-makers, and before Israelis themselves: that of maintaining the status-quo.

Der Status Quo, so das Dogma der Zweistaatenlösung, sei nicht aufrechtzuerhalten. Außerdem sei er „ummoralisch“, weil er die de facto Herrschaft Israels über Millionen von Palästinensern bedeute, ohne dass diese demokratischen Einfluss auf diese Herrschaft haben.

Sheizaf ist zwar auch von letzterem überzeugt, aber was die angeblich mangelnde Nachhaltigkeit des Status Quo angeht, hat er seine Zweifel. Es geht ja erstens schon 44 Jahre lang so. Und zweitens sind die Kosten für Israel ganz offenbar bewältigbar. Der internationale Druck ist auszuhalten. Zur Not lässt man den Menschenrechtsrat der UNO eben nicht mehr ins Land, wenn er die Lage der Palästinenser unter den Siedlungen untersuchen will. Die materiellen Kosten für die Aufrechterhaltung der Besatzung auf Seiten der Palästinenser trägt direkt und indirekt die Weltgemeinschaft, die die PA und UNRWA subventioniert. Die Kontinuität der Besatzung wird zu großen Teilen mit Mitteln der EU, der USA und an dritter Stelle von arabischen Gebern möglich gemacht. Auch die Sorge um die palästinensischen Flüchtlinge durch UNRWA wird auf Kosten der internationalen Gemeinschaft betrieben. Die Welt hält somit paradoxer Weise sowohl die PA als auch die Flüchtlingsfrage mit Milliardenzuwendungen am Leben. Wäre die „Westbank“ annektiert, sähe die Rechnung anders aus.

Sheizaf wagt nun einen neuen Blick auf diese Lage und fragt sich, ob sie – so unbefriedigend sie auch sein mag – für Israel nicht die plausibelste Option bleibt:

The status quo as a viable political option is never discussed enough. The common wisdom is that it is “unsustainable”; many (myself included) also see it as immoral. The result is a general blindness to the advantages of the status-quo from an Israeli decision-making perspective, and therefore, a failure to understand Israeli political behavior.

The Israeli decision maker – from left or right – is actually faced with three options: Annexing the West Bank; withdrawing from it, or maintaining the current situation (military occupation under which a privileged Jewish population is living alongside a Palestinian majority with no civil rights). Within this framework, and especially right now, maintaining the status quo is probably the most rational option for Israelis.

Rational choice theory claims that we all try to pay minimum costs and get maximum benefits. The definition of those costs and benefits is subjective, of course. Bearing this in mind, let’s look at the options an Israeli policy-maker has before him: a two-state solution is likely to bring a near civil-war moment within the Jewish public, as well as considerable security risks. It is worth noting that no Palestinian leadership would be able to really vouch for Israel’s security, since we never know what the next leadership will be like (I explained this point in more detail here). At the same time, annexing the West Bank will cause a severe international backlash, as well as major legal problems – and that’s only in the short run. It is even more risky, politically, than the two-state solution. The third option is maintaining the status quo, while trying to minimize its costs and maximize its benefits. From a rational-choice perspective, this is the optimal option.

Ich fasse zusammen: Weil es einen Bürgerkrieg in Israel heraufbeschwören würde, die Siedlungen zu räumen; weil Israel zur Zeit (vom Iran-Problem abgesehen) eine Phase der Sicherheit, Prosperität und Stabilität durchläuft; weil Israel seiner gesamten Umgebung (die derzeit eine unabsehbare Phase von Revolte und Umbruch durchmacht) so weithin überlegen ist wie noch nie zuvor (von Iran abgesehen, aber vielleicht auch in dieser Hinsicht); weil die diplomatischen Kosten der Besatzung noch nie so gering waren wie heute; weil die palästinensische Führung gespalten und geschwächt ist und das Thema „Palästina“ die Araber nicht mehr vordringlich beschäftigt; weil es in Israel aus allen diesen Gründen kein politikfähiges Friedenslager mehr gibt; weil die kontinuierliche Entwicklung der israelischen Gesellschaft hin zu einer konservativeren und religiöseren politischen Identität die Institutionen bis ins Militär hinein verändert hat – aus all diesen Gründen ist der Status Quo (keine schöne, aber) die optimale Option für das Land. Die überragende Popularität von Netanjahu ist der Ausdruck dieser Lage.

Sheizafs Fazit lautet:

In other words, the major problem right now is that an inherently immoral order represents the most desirable political option for Israelis. All the left’s effort to demonstrate the problems the occupation creates – like the burden on the state budget – won’t help, since political choices are made based on alternative options, and right now the alternatives are more expensive, more painful, and more dangerous.

It should be noted that the status quo will remain the best option regardless of developments on the Palestinian side. Even if the Palestinians in the occupied territories recognize Israel as a Jewish state or vote Hamas out of office – even if they all join the Likud – from an Israeli cost/benefit perspective, keeping things as they are will remain preferable to the alternatives of either pulling out of the West Bank or to annexing it.

Der Vorteil dieser ernüchternden Analyse ist, dass sie ganz ohne die Unterstellung finsterer Motive auskommt. Ich glauben, dass Sheizaf Recht hat. Aufgrund seines Paradigmas lässt sich die israelische Politik verstehen.

Das Problem ist, dass die internationale Politik dieses Paradigma nicht akzeptieren kann. Allein schon aus horror vacui wird man sich nicht von dem Mantra der Zweistaatenlösung trennen, auch wenn immer weniger daran glauben.

Das Paradox ist: Gerade das Festhalten an einer illusorischen Zweistaatenlösung macht die Perpetuierung des Status Quo möglich, der sie im Gegenzug immer unwahrscheinlicher werden lässt.

 

 

Ein Wahn stützt den anderen: Anders Breivik und Mullah Krekar

Bekanntlich war der norwegische Massenmörder Breivik in einem ersten Gutachten für unzurechnungsfähig erklärt worden. Ich hatte diese Wendung hier bereits kommentiert. Breivik, so wurde berichtet, gefällt diese Diagnose naturgemäß nicht, denn er hält sich für einen Aufhalter des Untergangs des Abendlands, einen Widerständler gegen die Selbstabschaffung Norwegens und Europas.

Er hat seinen Verteidiger darum gebeten, gegen die psychiatrische Diagnose zu argumentieren. Und nun kommt der Clou, wie der Wiener Standard berichtet. Breivik will zu seiner Verteidigung radikale islamische Extremisten aufrufen lassen:

Für den Prozess gegen den geständigen Attentäter haben zwei bekannte norwegische Islamisten, Arfan Bhatti und Moyeldeen Mohammad, der Verteidigung die Teilnahme als Zeugen zugesagt. Sie erfüllten gern ihre „Bürgerpflicht als gute Norweger“, so Anwalt Christian Elden, der die Männer in den vergangenen Jahren mehrfach vertreten hatte. Seine Klienten seien bestrebt, norwegische Spielregeln einzuhalten, „auch wenn sie von einer künftigen Änderung der Gesellschaftsstruktur träumen“.

Für Breivik und seine Anwälte spielt die Vernehmung der Islamisten eine zentrale Rolle. Das erste psychiatrische Gutachten – ein zweites Gutachten soll bis zum 10. April vorliegen – hatte Breivik als geisteskrank erklärt. Der mutmaßliche Mörder von 77 Menschen hält sich selbst für gesund.

Als Verteidiger müsse er dem „dringenden Wunsch“ seines Klienten entsprechen, den psychiatrischen Befund zu widerlegen, argumentiert Breiviks Anwalt Geir Lippestad. Die Zeugen aus dem extremen muslimischen Milieu könnten dem Gericht deutlich machen, dass Breiviks Furcht vor einer Machtübernahme durch Muslime nicht unbedingt eine krankhafte Zwangsvorstellung sei: „Hier handelt es sich um Personen, die tatsächlich dafür argumentieren, dass die Muslime Europa übernehmen.“

Großartig! Ein Wahn stützt den anderen! In meinem Studium war der Ansatz des radikalen Konstruktivismus sehr populär, vor allem in seiner Rezeption durch die soziologische Systemtheorie. Ein schöner, wenn auch leicht perverser Anwendungsfall, dieser Terrorprozess: Weil Mullah Krekar seinen Wahn für richtig hält, in dem er mal eben das Töten von Abtrünnigen dekretieren kann, weil die Scharia das so gebietet, soll auch Anders Breiviks Wahnwelt richtig sein, in der die drohende Übernahme Europas durch Mullah Krekar et al. zur Exekutierung von jungen Sozialdemokraten berechtigt.

(In gewisser Weise funktioniert auf Basis dieser Logik allerdings die gesamte so genannte Islamkritik von PI, Nürnberg 2.0 und Konsorten: Ein Wahn stützt den anderen, eine Enthemmung erzeugt die andere. Immer gibt es irgendeinen Mullah Krekar als Kronzeugen für die eigene geistige Gesundheit und politische Zurechnungsfähigkeit.)

Krekar und Breivik: ein Dreamteam. Ich weiß ja nicht, ob es sich einrichten lassen wird – aber wäre es nicht möglich -Mullah Krekar ist ja soeben zu fünf jahren Haft  verurteilt worden – dieses geschlossene  System in einer Haftzelle zusammenzulegen und einfach zu sehen, was passiert?

Es könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein.

 

Was Mohammed Merah mit dem Islam zu tun hat

Das hat nichts mit dem Islam zu tun.

Man kann es nicht mehr hören. Die Mutter des Attentäters war Salafistin, er wurde „streng islamisch“ erzogen. Er war in Ausbildungslagern in Afghanistan und Pakistan. Er fühlte sich durch seinen Glauben berechtigt, nein genötigt, Juden zu ermorden, auch Kinder. Und zuvor schon hatte er Glaubensbrüder ermordet, weil sie sich für den Krieg gegen den Islam hergegeben hatten, als den er die Intervention in Afghanistan empfindet.

Nun soll das Internet stärker zensiert werden, weil dort auf islamistischen Seiten Hass gesät wird. Schön. Wissen wir denn schon, dass der Mann sich am Computer radikalisiert hat? Und ist das Problem im Griff, wenn man den Dschihadisten ein Propaganda-Instrument aus der Hand schlägt? Nein. Es ist richtig, dass Internet zu überwachen und vielleicht auch Seiten abzuschalten, sofern das möglich ist. Aber am Ende bleibt das eine Ersatzhandlung angesichts dessen, was sich in Toulouse abgespielt hat.

Alle diejenigen, die sich schon vor Tagen zu irgendwelchen Thesen haben hinreißen lassen, die französische Fremdenfeindlichkeit sei schuld (und es sei wahrscheinlich ein Täter vom rechten Rand), stehen jetzt etwas belämmert da. Sarkozy klopft in der Tat manchmal Sprüche, die degoutant sind, und von Frau Le Pen brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Das alles ist aus anderen Gründen zu kritisieren. Aber hier hat eben nicht ein Täter die Xenophobie einer imaginierten schweigenden Mehrheit ausagiert. (So etwas kann es geben, aber man sollte sich schon über die Hintergründe der Tat sicher sein, bevor man derart weitreichende Thesen aufstellt.)

Hier wurde etwas anderes ausagiert, und das hat eben wohl etwas mit dem Islam zu tun. Die deutschen Islamverbände sind bisher nahezu unfähig gewesen, sich angesichts von Terror im Namen des Islam mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass die Täter ihre Inspiration aus der Religion ziehen wie sie sie eben verstehen. Sie haben seit 10 Jahren hauptsächlich auf Abwehr geschaltet – nicht um die Täter damit zu schonen oder zu entschuldigen, sondern um ihren Glauben zu verteidigen (auch gegen die Dschihadisten). Sie stellen also kurzerhand den Täter außerhalb des Glaubens, außerhalb des „wahren Islams“ des Friedens.

Diese Verteidigungsstrategie wirkt selbst für diejenigen, die keine finsteren Motive unterstellen mittlerweile fatal, weil sie am Ende den Dschihadisten die Offensive lässt. Es ist schlichtweg zu einfach, den wahren und den falschen Glauben einander gegenüber zu stellen. Es wirkt irgendwann einfach nur hilflos, wenn die „Islam-ist-Frieden“-Formel gebetsmühlenhaft wiederholt wird.

Wie es auch anders gehen könnte, zeigt jetzt ein Beitrag auf Islam.de von Muhammad Sameer Murtaza. Der Ort der Publikation ist interessant: die Website des Zentralrats der Muslime, der leider selber immer wieder in die Haltung der apologetischen Nichtauseinandersetzung zurückfällt. Mohammed Sameer Murtaza will das nun durchbrechen, und er tut es auf dem Forum des Zentralrats. Das ist bemerkenswert. Die historische Tiefe seiner Auseinandersetzung mit dem Wahhabismus und seinen Wurzeln, mit dem islamischen Antisemitismus und seiner Inspiration durch den völkischen Antisemitismus Europas, und schließlich mit den Ideologien der Muslimbruderschaft und den zeitgenössischen Salafisten (bis zu Pierre Vogels Präsenz in den deutschen Gemeinden) ist beeindruckend. Vor allem aber ist es wohltuend, dass jemand hier die intellektuelle und religiöse Herausforderung durch den Terrorismus annimmt, statt nur abzuwehren:

Menschen neigen dazu in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Bevor also jemand zu einem „Der Islam ist Frieden“ ansetzt, sollten wir vielleicht einen Augenblick innehalten und uns klar machen, was geschehen ist. Ein junger Mann, arabischer Herkunft, der den Namen des Propheten trägt, hat gezielt und kaltblutig drei Kinder jüdischen Glaubens und einen jüdischen Religionslehrer per Kopfschuss hingerichtet. Die Namen der Kinder lauteten Gabriel, Arieh und Myriam. Sie waren vier, fünf und sieben Jahre alt. Der Name des 30-jährigen Lehrers und Vaters der beiden erstgenannten Kinder war Jonathan. Zuvor tötete der Mörder drei französische Soldaten Abel Chennouf (25), Mohammed Legouade (23) und Imad Ibn Ziaten (30), letzere beiden waren Muslime.

Es heißt im Qur’an: Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten. (5:32) 

Dieser Text steht im Qur’an im Anschluss an die Erzählung der beiden Söhne Adams, Kain und Abel. Er erteilt den Gläubigen die Weisung: Du sollst nicht töten! Oder positiv formuliert: Hab Ehrfurcht vor dem Leben!   Mohammed Mehra kennt diese Ehrfurcht nicht. Im Gegenteil, bedauert er doch, dass er nicht noch mehr Menschen getötet hat. Bevor nun aber jemand in alte Gewohnheiten zurückfällt und das Argument vorbringen möchte, dass Mohammed Mehra gar kein Muslim sei, da er entgegen dem oben genannten Qur’anvers handelte und Muslime so etwas eben nicht tun, sollte er lieber schweigen. Seit dem 11. September bringen Muslime Argumente dieser Art vor, wenn irgendwo irgendetwas Schlimmes im Namen des Islam geschieht. Es ist eine bequeme Distanzierung, die es den Muslimen erspart, sich inhaltlich mit den Wurzeln der Gewalt im Namen Gottes zu beschäftigen. Menschen wie Mohammed Merah legitimieren ihre Akte der Barbarei im Namen des Islam und sie berufen sich auf den Qur’an, weil sie glauben, ein gottgefälliges Werk zu verrichten, das ihnen Eingang in das Paradies verschafft. Sie sehen sich als gläubige Muslime an und sind damit Teil der Umma und somit Teil einer unausgesprochenen innerislamischen Krise.

Seit dem 11. September haben Muslime sich verpflichtet gefühlt, den Islam zu verteidigen, indem sie die Täter außerhalb des Islam stellten. Da also religiöse Motive im Zusammenhang mit den Gräuel nicht herangezogen werden durften, um die Religion vor jeglichen Makel zu bewahren, versuchte man psychologisch Motive ins Feld zu führen. Mohammed Mehra verfährt ebenso. Er begründet seine Taten dadurch, dass er den gewaltsamen Tod palästinensischer Kinder rächen und ein Zeichen gegen die französische Militärpräsenz in Afghanistan setzen wollte.

Was bei alledem auffällt, bis heute hat sich die Mehrheit der Muslime davor gesträubt in das Herz der Finsternis vorzustoßen und eine religionsgeschichtliche Erklärung für den Terror im Namen des Islam vorzulegen. „Die“ Muslime sind keine Terroristen. Aber Terroristen, die sich auf den Islam berufen, gehören in der Regel dem Wahhabismus an. Ist es also nicht längst an der Zeit, sich kritisch mit dieser islamischen Strömung auseinanderzusetzen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen? (…)

Bald schon stand dem arabischen Leser eine Flut antisemitischer Lektüre zur Verfügung, die ausnahmslos christlichen, europäischen und amerikanischen Ursprungs war.   In dieser ersten Phase wurden antisemitische Anklagen – allerdings unter Ausschluss des Rassengedankens – einfach wiederholt. Die Muslime wurden mit dem Bild des Juden als Freimaurer, als Großkapitalist, als Kommunist, als Umstürzler und als Verschwörer mit dem Ziel der Weltherrschaft vertraut gemacht.   Dann, in der zweiten Phase, wurden diese Vorstellungen verinnerlicht, assimiliert und islamisiert. Dieser islamisch verbrämte Antisemitismus zieht sich durch die meisten Werke des Muslimbruders Sayyid Qutb und erhält durch seine sechsbändige Exegese des Qur’an fi zilal al-Qur’an (Im Schatten des Qur’an)  eine „heilige“ Legitimation. Nach Qutb beginnt die Feindschaft zwischen Juden und Muslimen mit ihrer Auflehnung gegen den Prophet Muhammad in Medina. Seit die Juden militärisch geschlagen wurden, würden sie sich ununterbrochen bemühen aus dem Schatten heraus mit ihren Eigenschaften der List und der Verschlagenheit den Islam zu zerstören. So stände hinter den christlichen Kreuzzügen, die mit dem europäischen Kolonialismus ihre Fortsetzung fänden, und dem Kommunismus, der nach Qutb eine jüdische Erfindung ist, das Weltjudentum. Ziel der Juden sei die Weltherrschaft, an deren Ende nur das Judentum selber überleben soll. Der Kampf gegen die Juden sei daher zum Wohle der gesamten Menschheit.

Dieser verbrämte islamische Antisemitismus muss von Muslimen auf das Schärfste bekämpft werden. Unverständlich ist, dass Moscheen immer noch die Hass geschwängerten Werke Qutbs in den Bücherregalen stehen haben oder diese auf Büchertischen zum Verkauf angeboten werden. Aber die wohl grundlegendste Herausforderung dürfte es sein, die innere Dimension des Islam neu zu beleben. Zu sehr ist diese Religion zu einer reinen gehorsam fordernden Gesetzesreligion verkommen, die sich in den Begriffen Halal und Haram erschöpft. Der Extremismus der Wahhabiten ist ein deutliches Beispiel dafür, was passiert, wenn Religion nur noch blindes Handeln bar jedem Humanen, jeder Barmherzigkeit und jeder Vernunft ist.   Sicherlich, können die Muslime Attentate wie jenes in Toulouse nicht grundsätzlich verhindern, aber sie können sie entschiedener, nämlich theologisch und religionsgeschichtlich, verurteilen und präventive Maßnahmen ergreifen.  (…)

Ein bisschen schade ist es, dass der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek offenbar die Website seiner Organisation nicht liest. Denn seine Äußerung atmet den Geist der bequemen Vermeidung, dem Muhammad Sameer Murtaza hier etwas entgegensetzen will: „In Richtung Medien appelliert Mazyek (…), nicht den Fehler zu begehen und auf der Basis der extremistischen Propaganda des Mörders die Tat zu erklären, ‚dies verhöhne zusätzlich die Opfer und kränke die Muslime weltweit‘.“

Echt jetzt? Die Opfer verhöhnt man, indem man nichts über die massenmörderische Ideologie wissen will, die ihnen das Leben gekostet hat. Und wenn die Muslime nicht mehr „gekränkt“ werden durch diejenigen, die im Namen ihres Gottes morden als durch diejenigen, die darauf hinweisen, dann ist ihnen nicht zu helfen.

 

Staatsräson und Atom-Uboote

Was genau bedeutet eigentlich Angela Merkels Formel von der „Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson“?

Um die Kanzlerin genauer zu zitieren:

Gerade an dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.

Was bedeutet dies ganz konkret heute, exakt vier Jahre nach der Knesset-Rede? Der Kontext der Rede war damals schon – neben dem 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel – die Bedrohung durch den Iran, genauer gesagt sein vermutetes Atomwaffenprogramm. Aus Vermutungen sind unterdessen immer schwerer wiegende Verdächtigungen geworden, mit jedem IAEO-Bericht ein bisschen mehr.

Vielleicht muss man nicht allzu tief graben nach dem Sinn dieser Äußerung in der momentanen Lage. Eine mögliche Antwort liegt in Kiel im Dock, wie Haaretz berichtet:

According to the Israeli official, Barak will visit Germany on Tuesday and hold a series of meetings with Defense Minister de Maiziére, Foreign Minister Guido Westerwelle and German Chancellor Angela Merkel’s National Security Adviser Christoph Heusgen.

The signing ceremony will be held on Wednesday, attended also by the former Israeli ambassador to Germany, Yoram Ben Zeev, who has worked intensely over the past three years to promote the submarine deal. The new ambassador to Germany, veteran diplomat Yaakov Hadas, will also attend the ceremony. Hadas presented his credentials last week.

Israel’s submarine fleet, which numbers three German-made Dolphin vessels, is the navy’s long-range strategic arm. The German government financed most of the costs of the first three submarines.

According to foreign reports, the submarines are equipped with cruise missiles which have a range of 1,500 kilometers and can carry nuclear warheads. According to those reports, the submarine fleet enables Israel to deliver a „second blow“ in the case of a nuclear attack. The fleet also allows Israel to carry out intelligence-gathering missions far from its borders and to defend its territorial waters.

The construction of the fifth and sixths submarines in the German city of Kiel is almost complete, and they are scheduled to be delivered to the Israeli navy in 2013 and 2014 respectively. The two vessels are equipped with state-of-the-art systems that enable them to remain underwater for a longer period of time. A sixth submarine, scheduled to be delivered to Israel at least four years from now, will be even more advanced.

Deutschland stattet Israel mit atomwaffenfähigen U-Booten aus, die jeden iranischen Angriff zur einem Selbstmordkommando machen, weil sie Israels Zweitschlagsfähigkeit sichern. Deutschland zahlt auch im wesentlichen für diese U-Boote.  Morgen kommt der israelische Verteidigungsminister nach Deutschland und unterzeichnet den Vertrag. Die Rede von der Staatsräson war nicht so hohl, wie manche Kritiker suggerierten.

 

Korane verbrennen – schlimmer als Kinder erschießen?

So sieht es jedenfalls bisher aus, wenn man die Reaktionen in Afghanistan zugrundelegt – einmal der tagelange Demo-Rausch wegen der Koranverbrennungen vor einigen Wochen, und ein andermal die relative Ruhe nach dem Massaker des amerikanischen Soldaten an ganzen Familien.

Rod Nordland geht in seinem Stück für die New York Times dieser Frage nach.

“How can you compare the dishonoring of the Holy Koran with the martyrdom of innocent civilians?” said an incredulous Mullah Khaliq Dad, a member of the council of religious leaders who investigated the Koran burnings. “The whole goal of our life is religion.”

That many Americans are just as surprised that what appears to be the massacre of 16 people at the hands of an American soldier has not led to mass protests or revenge killings speaks volumes about a fundamental disconnect with their Afghan partners, one that has undermined a longstanding objective to win the hearts and minds of the population. After more than 10 years, many deaths and billions of dollars invested, Americans still fail to grasp the Afghans’ basic values. Faith is paramount and a death can be compensated with blood money.

“To Muslims, and especially to Afghans, religion is much higher a concern than civilian or human casualties,” said Hafez Abdul Qayoom, a member of Afghanistan’s highest clerical body, the Ulema Council. “When something happens to their religion, they are much more sensitive and have much stronger reaction to it.”

The attack by a still unidentified United States Army soldier near his base in the Panjwai district, in southern Kandahar Province, has certainly infuriated Afghans and added to already strained relations. But the anger has been more polemical than violent — at least so far.

Hoffen wir, dass es auch so bleibt. Allerdings stellt sich auch hier wieder die Frage, ob es sinnvoll ist (war), mit der stärksten Armee der Welt in einem Land mit derart anderen Vorstellungen von Ehre, Schuld und Sühne derart lange Zeit zu vebringen in der Hoffnung, einen Wandel zu bewirken. Ob man sich, kurz gesagt, nicht besser schon früher auf Terrorbekämpfung bzw. Containment und Entwicklungshilfe hätte beschränken sollen.

Spilt milk.

 

Israels wahre Gefahr: die Besatzung

Kürzlich traf ich in Jerusalem den Historiker Gershom Gorenberg. Ich hatte sein Buch „The Unmaking of Israel“ gelesen und war fasziniert. Es ist eine packende Schilderung des Siedlungsprojekts, das nach dem Sieg von 1967 begann, nicht nur die Westbank, sondern Israel zu verändern.  Es soll bald auch auf Deutsch erscheinen (Campus). Ich bat Gorenberg, ein Oped für die ZEIT zu schreiben. Hier ist es, aus der morgigen Ausgabe der ZEIT:

In den Medien scheint weltweit das Wort »Is­rael« derzeit unvermeidlich mit dem Wort »Iran« verbunden zu sein. Ungenannte ­»Quellen« und halb informierte Fachleute debattieren darüber, ob Israel die iranischen Atomanlagen bombardieren wird; ob die Vereinigten Staaten den israelischen Premier­minister Benjamin Netanjahu davon überzeugen können, seine Kampfflugzeuge am Boden zu lassen; ob der Iran bei einem Angriff Israels zurückschlagen würde; und ob Israels Abschreckungspotenzial den Iran abhalten würde, seine Atombombe tatsächlich einzusetzen – sofern es dem Land überhaupt gelingt, eine solche zu bauen.
Ich bin selbst Israeli und würde die Gefahr eines Krieges oder einer möglichen iranischen Atombewaffnung nicht herunterspielen. Doch meine Sorge ist, dass diese äußere Bedrohung Israels die öffentliche Aufmerksamkeit von der inneren Krise des Landes ablenkt. Denn was die Lebensfähigkeit Israels als Staat und seine demokratischen Ideale tatsächlich bedroht, ist die israelische Herrschaft über das Westjordanland. Netanjahu und seine Minister haben ­weder die Absicht noch den Mut, sich diesem Problem zu stellen. Darum bringt sie die all­gemeine Konzentration auf das Thema Iran in eine ungemein komfortable Lage.
Seit seiner Gründung hat sich Israels demokratische Ordnung als haltbarer erwiesen als die jedes anderen postkolonialen Staates. Einen Militärputsch oder eine zivile Diktatur hat das Land noch nie erlebt. Innerhalb der Grenzen des jüdischen Staates, so wie sie im Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen Nachbarn von 1949 festgelegt wurden, haben die Angehörigen der arabischen Minderheit zwar Benachteiligungen erlitten, aber sie sind im Besitz der staatsbürgerlichen Rechte. Seit einer wegweisenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 1953, die es der Regierung untersagte, Zeitungen aufgrund der in ihnen geäußerten Ansichten zu schließen, schützt die zupackende Justiz die Prinzipien des Rechtsstaates vor den Launen der Exekutive. Sie hat auch den Status der Menschenrechte kontinuierlich ausgeweitet.
Im Rückblick jedoch wird klar, dass der Sechstagekrieg vom Juni 1967 Israels politischen Kurs verändert hat. Der militärische Sieg in einem Konflikt, der nicht geplant war, sicherte zwar Israels Überleben. Aber zugleich setzten die Eroberungen – besonders im Westjordanland und im Gazastreifen – einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf frühere Errungenschaften wieder zunichtegemacht wurden. Statt eine große strategische Entscheidung über die Zukunft der besetzten Gebiete zu treffen, unternahmen die nachfolgenden Regierungen nur kleine, taktische Schritte zur Sicherung der israelischen Vorherrschaft. Diese Politik hatte unbemerkte Nebenwirkungen: Sie untergrub den israelischen Staat und setzte die Demokratie im Land aufs Spiel. Nur wenige Monate nach dem Krieg wurden auf Anordnung eines Kabinettsmitglieds die Vorkriegsgrenzen aus Israels Landkarten gelöscht. Das offizielle Kartenwerk wies nun ein einziges Territorium zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan aus. Zwischen dem souveränen Staat Israel und den neu besetzten Gebieten wurde fortan nicht mehr unterschieden. In symbolischer Hinsicht gab Israel damit auf, was der Soziologe Max Weber als ein grundlegendes Merkmal des modernen Staates benannt hat: ein eindeutig definiertes Territorium.
Auf dem Boden begann der Wandel sogar schon, bevor die Landkarten neu gezeichnet wurden. Im September 1967 genehmigte das Kabinett die erste israelische Siedlung im Westjordanland. Es setzte sich damit über die Rechtsberater des Außenministeriums hinweg, die die Ansiedlung israelischer Bürger in den besetzten Gebieten als Verstoß gegen internationales Recht bewerteten. Das Verwischen der Grenzen höhlte so auch den Rechtsstaat aus. Dieses Muster ist seit den neunziger Jahren immer augenfälliger geworden. Die staatlichen Behörden haben die Errichtung etlicher kleiner Siedlungen unterstützt – der sogenannten »Außenposten« Israels – und dafür Gesetze gebrochen, die im Westjordanland gelten.
Schritt für Schritt sind mithilfe von Gesetzgebung und militärischen Befehlen alle Rechte der innerhalb Israels lebenden israelischen Bürger auf die Siedler ausgedehnt worden. Siedler aus dem Westjordanland nehmen an israelischen Wahlen teil; Palästinenser aus demselben Gebiet dürfen das nicht. Die elementaren Prinzipien der Demokratie – Gleichheit und Volkssouveränität – werden auf diese Weise untergraben.
Die nicht markierte Grenze zum Westjordanland trägt dazu bei, dass dieser demokratische Verfall auch auf den israelischen Kernstaat übergreift. Die undemokratische Besatzung macht Israel selbst kaputt. Unter Netanjahu wurden sehr viele antidemokratische Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht. Ein neues Gesetz unterläuft beispielsweise frühere Gerichtsurteile, die eine Diskriminierung arabischer Bürger Israels aufgrund ihres Wohnortes verhinderten. Ein anderes verbietet jeglichen Aufruf zum Boykott von Waren, die in den Siedlungen produziert wurden. Das alles hat in Israel heftige Kritik ausgelöst.
Dreimal haben die Israelis innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre politische Anführer gewählt, die erklärten, die besetzten Gebiete auf­geben und Frieden mit den Palästinensern schließen zu wollen. Der erste dieser Anführer, Izchak Rabin, wurde von einem rechtsextremistischen Juden ermordet – zweifellos der ekla­tanteste Angriff auf die israelische Demokratie. Gleichzeitig setzen sich seit Jahren immer mehr zivilgesellschaftliche Initiativen und Verbände für die Erhaltung der Menschenrechte ein. Sie prangern Übergriffe in den besetzten Gebieten an und gehen gerichtlich gegen Rechtsverletzungen vor.
Doch der eigentliche Schlüssel zur Bewahrung der israelischen Demokratie liegt darin, dass Is­rael seine Herrschaft über das Westjordanland aufgibt. Eine bindende Zwei-Staaten-Lösung würde nicht nur einen palästinensischen Staat schaffen – sie würde auch den jüdischen Staat mit neuem Leben erfüllen. Endlich besäße Israel wieder klare Grenzen. Es würde nicht mehr über ein Gebiet herrschen, in dem manche Menschen Bürger sind und andere entrechtet. Das Zerbröseln der Rechtsstaatlichkeit als Ergebnis der Siedlungspolitik hätte ein Ende.
Benjamin Netanjahu hat sich zwar offiziell zu einer Zwei-Staaten-Lösung bekannt, er macht aber nicht den Eindruck, dieses Ziel auch aktiv zu verfolgen. Stattdessen konzentriert sich nun alle Energie auf den Iran. Man muss nur die Reden, die Premierminister Netanjahu und US-Präsident Barack Obama vor einem Jahr vor dem mächtigen American Israel Public Affairs Committee gehalten haben, damit vergleichen, was sie vor Kurzem vor dieser Pro-Israel-Lobby gesagt haben. 2011 ging es noch um ihre unterschiedlichen Ansichten zur israelisch-palästinensischen Diplomatie. Dieses Jahr haben sie hauptsächlich über den Iran gesprochen. Netanjahu hat den Friedensprozess mit den Palästinensern nicht einmal erwähnt.
Sehr zum Schaden Israels zieht es der Premierminister vor, den gefährlichen Status quo zwischen Israel und den Palästinensern aufrechtzuerhalten. Für Benjamin Netanjahu ist es politisch nützlich, wenn sich die internationale Diskussion über Israel weiterhin fast vollständig um den Konflikt mit dem Iran dreht – in Israels Interesse ist dies nicht.