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Pakistanische Satire über Extremisten

Klasse! Pakistanische Rapper machen sich in Punjabi lustig über die Kultur der Paranoia, des Nationalismus und der religiösen Intoleranz, die ihr Land ergriffen hat.

 

 

 

Die New York Times erklärt:

The song rues the fact that killers and religious extremists are hailed as heroes in Pakistan, while someone like Abdus Salam, the nation’s only Nobel Prize-winning scientist, is often ignored because he belonged to the minority Ahmadi sect.

“Qadri is treated like a royal,” wonders the goofy-looking lead vocalist in the song, referring to Malik Mumtaz Qadri, the elite police guard who killed the governor of Punjab, Salman Taseer, in January after he challenged the blasphemy law.

Another line in the song, “where Ajmal Kasab is a hero,” makes a reference to the only surviving Pakistani gunman involved in the 2008 terrorist attacks in Mumbai, India. Still another line, “cleric tried to escape in a veil,” alludes to the head cleric of Islamabad’s Red Mosque — which was the target of a siege in 2007 by the Pakistani government against Islamic militants — who tried unsuccessfully to break the security cordon by wearing a veil.

The song even makes fun of the powerful army chief, Gen. Ashfaq Parvez Kayani, for extending his role for another three years. (…)

The popularity of the song on the Internet has made it a sensation across the border in India as well, surprising the band members, who have been incessantly asked whether they feel they have put their lives in danger by ridiculing the mighty.

There are certainly enough provocations to rile nationalists and conservatives. At one point in the music video, the lead singer holds a placard that reads, in English: “This video is sponsored by Zionists.”

 

Freiheit für den ägyptischen Blogger Alaa Abd El Fattah!

In Ägypten wurde vor wenigen Tagen der Blogger Alaa Abd El Fattah inhaftiert. Er weigerte sich, als Zivilist vor einem Militärgericht auszusagen. Der Hintergrund: Seine Darstellung der Ereignisse vom 9. Oktober, als zwei Dutzend Menschen bei Zusammenstößen mit den Sicherheitsorganen getötet worden waren, entspricht nicht dem Geschmack der Militärherrscher. Alaa ist ein prominenter Aktivist der Tahrir-Bewegung, die zunehmend unter den Druck der Herrschenden gerät. Es war ihm möglich, einen Brief aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Die deutsche Übersetzung verdanke ich Kristin Jankowski in Kairo.

Amnesty International ruft zu Alaas Freilassung auf. Hier gibt es die Möglichkeit, eine Petition zu unterschreiben. Es ist zu hoffen, dass sich die Bundesregierung in Gestalt des Außenministers oder seines Menschenrechtsbeauftragten Markus Löning der Sache annimmt.

Die Anzeichen für eine immer striktere Militärherrschaft sind unübersehbar. Die Bundesregierung darf dabei nicht zusehen – wie auch die übrige Weltgemeinschaft, die Anfang des Jahres mit den Demonstranten vom Tahrir-Platz gezittert hat. Hier der Brief, ein erschütterndes Dokument:

 

Ich hätte nie gedacht, die Erfahrung von vor fünf Jahren nochmal durchmachen zu müssen: nach einer Revolution, die den Tyrannen stürzte, kehre ich in sein Gefängnis zurück?

Erinnerungen überkommen mich, die Einzelheiten vom Leben der Inhaftierten: die Fähigkeit, auf dem Boden zu schlafen, neun Männer in einer Zelle, zwei mal vier Meter, die Lieder vom Gefängnis, die Gespräche. Ich kann mich aber überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie es mir damals gelungen war, über Nacht meine Brille zu schützen. Allein heute ist schon dreimal jemand drauf getreten. Ich musste feststellen, dass ich dieselbe Brille auch letztes Mal im Gefängnis trug. Ich wurde damals, 2006, nach einer Demonstration für die Unabhängigkeit der Richter verhaftet. Jetzt bin ich wieder eingesperrt, warte wieder auf die Verhandlung und wieder werden mir irgendwelche fadenscheinigen Anschuldigungen gemacht. Der einzige Unterschied besteht darin, dass heute anstelle eines Staatsanwalts der Staatssicherheit ein Militäranwalt ermittelt: eine Veränderung, die zu unserer derzeitigen politischen Lage passt.

Alaa Abd El Fattah mit seiner Frau Manal Bahey El Din Hassan  Foto: privat

Letztes Mal war ich mit 50 Kollegen aus der Kifaya-Bewegung verhaftet worden. Dieses Mal bin ich alleine, in einer Zelle mit acht anderen, die nicht hier sein sollten. Sie sind arm und hilflos. Ihre Inhaftierung entbehrt jeglicher rechtlicher Grundlage. Das gilt sowohl für die Schuldigen als auch für die Unschuldigen unter ihnen.

Als sie erfahren haben, dass ich einer von den „Jugendlichen der Revolution“ bin, haben sie angefangen, die Revolution zu verfluchen und davon gesprochen, dass es dieser Revolution nicht gelungen sei, das Innenministerium zu „säubern“. Die ersten zwei Tage habe ich damit verbracht, mir Foltergeschichten anzuhören. Sie handelten von einer Polizei, die sich stark dagegen wehrt, reformiert zu werden, von einer Polizei, die ihre Niederlage an den Körpern der Armen und Hilflosen rächt.

Diese Geschichten offenbaren mir die Wahrheit über die „Wiederherstellung der Sicherheit“ auf unseren Straßen. Zwei meiner Mitinsassen sind zum ersten Mal im Gefängnis, zwei ganz normale Männer, ohne die geringste Spur von Gewaltbereitschaft. Ihr Verbrechen? „Bildung von bewaffneten Banden“. Aber klar, Abu Malak, die schwer bewaffnete Ein-Mann-Bande… Jetzt weiß ich, was das Innenministerium meint, wenn es uns jeden Tag von der Verhaftung gefährlicher Banden berichtet. Wir können uns wirklich zur Rückkehr der Sicherheit beglückwünschen.

In den wenigen Stunden, in denen Sonnenlicht in unsere dunkle Zelle vordringt, können wir das lesen, was ein ehemaliger Inhaftierter schön in arabischer Kalligraphie in die Wand eingraviert hat. Vier Wände sind vom Boden bis zur Decke mit Versen aus dem Koran bedeckt, mit Gebeten, Bittgebeten und Gedanken, die sich wie ein starker Wunsch nach Buße lesen.

Am nächsten Tag entdecken wir in einer Ecke das Datum der Hinrichtung dieses Häftlings und können die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Die Schuldigen planen ihre Buße. Und was können die Unschuldigen tun?

Ich lasse die Gedanken schweifen, während ich im Radio die Rede des Generals bei der Einweihung des höchsten Fahnenmasten der Welt höre – der bestimmt alle möglichen Rekorde brechen wird. Ich frage mich: Wenn der Märtyrer Mina Danial während meines Verfahrens als „Volksverhetzer“ bezeichnet wird, bricht das nicht den Unverschämtheitsrekord? Sie sind bestimmt die Ersten, die nicht nur jemanden töten und dann an seiner Beerdigung teilnehmen, sondern auch noch auf seine Leiche spucken und ihr ein Verbrechen vorwerfen. Vielleicht bricht unsere Zelle ja sogar den Kakerlaken-Rekord? Abu Malak unterbricht meinen Gedankengang und sagt: „Bei Gott, wenn die Revolution nichts gegen dieses himmelschreiende Unrecht unternimmt, dann wird sie untergehen, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen.“

Alaa Abd El Fattah

 

Erdogan, ein Fluch für Deutschlands Türken

Der türkische Premierminister Erdogan ist ein Unglück für die Türken in Deutschland. Zum wiederholten Mal hat Erdogan einen Deutschlandbesuch für eine seiner nationalpopulistischen Aktionen benutzt. Wieder ging es um die türkische Sprache: Kinder sollen erst Türkisch lernen, dann Deutsch. Wie oft muss man das noch kommentieren? Selbstverständlich ist es wünschenswert, dass Kinder mit türkischen Wurzeln Türkisch lernen. Das Problem der türkischstämmigen Schulversager liegt nicht in der Erstsprache, sondern im schlechten Beherrschen beider Sprachen. Hunderttausende Kinder könnnen weder Türkisch noch Deutsch in ausreichendem Maße sprechen. Aber was soll’s, dazu ist eigentlich längst alles gesagt. Auch hier schon mehrfach.
Erdogan interessiert sich ja auch gar nicht für das Schicksal der Einwanderer und ihrer Kindeskinder. Er führt seine nationalistische Show auf, er spielt mit den Frustrationsgefühlen der deutschen Türken. Es geht um eine Pose, die er für erfolgversprechend hält: Erdogan will den türkischen Wutbürger anzapfen. Warum will er die doppelte Staatsangehörigkeit? Damit er auch in Zukunft weiter Wahlkampf in Deutschland machen kann und sich wichtige Prozente bei den Auslandswählern sichern kann. Daraus kann man übrigens auch ablesen, wie wenig Chancen Erdogan dem EU-Beitritt beimisst – denn unter diesen Auspizien wären Türkischstämmige mit deutschem Pass eigentlich die besseren Vorboten (seht doch, wir sind schon Teil von Euch). Warum redet er gegen die Sprachprüfungen, die mittlerweile vor dem Ehegattennachzug zu absolvieren sind? Erdogan nennt das doch tatsächlich „eine Verletzung der Menschenrechte“. Da wird es nur noch peinlich.
Die Sprachkenntnisse sollen Ehefrauen (und -männer) in die Lage versetzen, ihre Rechte hier besser wahrzunehmen. Die Anforderungen sind sehr gering. Wenn Erdogan mit der Forderung nach minimalen Basiskenntnissen die Menschenwürde verletzt sieht, wirft das auch ein trübes Licht darauf, was er dem eigenen Volk zutraut.
Erdogan degradiert die Deutschtürken bei jedem seiner Besuche zu Untertanen, die ohne die Fürsprache des Kalifen vermeintlich entrechtet, entwürdigt und mißachtet sind. Damit entwertet Erdogan die Leistungen der vielen Einwanderer und ihrer Kinder, die hier ihren Weg gemacht haben und solchen Paternalismus nicht brauchen – ja, deren Erfolg eigentlich darauf beruht, dass sie hier in einer freien Gesellschaft ohne autoritäre Fürsprache auszukommen gelernt haben. Die wachsende neue Elite der Deutschtürken zittert den Erdogan-Besuchen mittlerweile entgegen: Was wird er jetzt wieder Dummes und Peinliches sagen, das wir dann wieder gerade rücken müssen? Hoch erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass die Grünen durch den Abgeordneten Mehmet Kilic scharfe Kritik an Erdogan üben. In Deutschland leben viele Aleviten und Kurden, bei denen unvergessen ist, unter welchen Verfolgungen und Einschränkungen diese Gruppen bis heute zu leiden haben, auch wenn sich gerade unter der Regierung Erdogan einiges gebessert hat. Dennoch ist die Lage in der Türkei nicht so, dass Erdogan Grund hat, Deutschland über die Menschenrechte zu belehren.
Es geht auch nicht nur um Eliten und Minderheiten unter den Türken hier: Das Jubiläum der Anwerbung wurde von den Deutschen zum Anlass genommen, endlich auch die rührenden und beeindruckenden, traurigen und erhebenden Geschichten zur Kenntnis zu nehmen, die so viele Familien bei dem Abenteuer Almanya erlebt haben. Ein neuer realistischer Blick auf Deutschlands Türken wurde eingeübt, weitgehend ohne Kitsch und ohne Apokalypse. Von Erdogan sollte man sich das nicht kaputt machen lassen.
Wo er Recht hat: Die Türkei erfüllt die Beitrittsbedingungen zur EU schon heute besser als manches Mitglied, hat Erdogan heute gesagt. Das ist auf die Griechen gemünzt, die unter heutigen Bedingungen keine Chance hätten, aufgenommen zu werden. Die Türkei erlebt einen wirtschaftlichen und politischen Boom. Gerade ihre Größe, in Kombination mit ihren politischen Ambitionen (Neo-Osmanentum, Anti-Israel, Licht der Araber) macht einen Beitritt zu einer prekären Frage, selbst wenn eines Tages die ökonomischen und juristischen Bedingungen erfüllt sein sollten. Am Ende ist es eine politische Entscheidung, ob das Land jemals aufgenommen wird. So wie sich die EU entwickelt, ist das aus intrinsischen Gründen fraglicher denn je geworden. Und Erdogan macht es mit seinem peinlichen nationalistischen Pomp wieder ein Stückchen unwahrscheinlicher.

 

Warum Assad vor einer Intervention in Syrien warnt

Mein Kommentar aus der ZEIT von morgen zur Eskalation in Syrien und den Befürchtungen Assads:

Ein Krieg, den niemand will, beginnt die politische Fantasie heimzusuchen. Merkwürdigerweise hat einer ihn ins Gespräch gebracht, der am wenigsten Interesse daran haben sollte – der syrische Präsident Assad. Der Westen werde »den Druck erhöhen«, sagte er dem Londoner Sunday Telegraph. Eine Intervention in Syrien aber würde »ein Erdbeben auslösen. Wollen Sie ein weiteres Afghanistan, wollen Sie Dutzende Afghanistans?«
Warum warnt Assad vor etwas, das der Nato-Generalsekretär Rasmussen ausschließt? Syrien gilt als potenzieller Treibsand ethnisch-religiöser Konflikte. Ein UN-Mandat für eine Intervention ist unwahrscheinlich. Israels Sicherheit will niemand riskieren, Syrien könnte über die radikalen islamischen Milizen Hisbollah und Hamas Ärger machen. Zudem steckt der Nato Libyen noch in den Knochen. Sie ist heilfroh über den zäh errungenen Sieg und zieht sich nun zurück, um nicht in einen Bürgerkrieg gezogen zu werden. Ein weiterer Krieg in Nahost? Undenkbar.
Wirklich? Auch die Kriege im Kosovo, in Afghanistan und in Libyen waren einst undenkbar. Paul von Maltzahn, ehemaliger deutscher Diplomat in Damaskus, sieht das syrische Regime unter Schock, seit die Bilder vom Tod Gadhafis gezeigt haben, dass die arabischen Revolten auch für die Herrscher tödlich enden können. »Vielleicht hat der syrische Präsident aber auch einen realistischeren Blick auf westliche Interventionen als wir selber«, gibt zudem Markus Kaim zu bedenken, sicherheitspolitischer Experte des Berliner Thinktanks SWP. Die Eskalation in Syrien könnte die Welt in die Lage bringen, »nicht länger zusehen zu können« – wenn die Bekenntnisse zur »Schutzverpflichtung«, die in Libyen das UN-Mandat begründeten, nicht völlig heuchlerisch wirken sollen.
Für die syrische Opposition ist der Libyen-Krieg zweischneidig: Man hofft, das Prinzip der »Schutzverantwortung« könnte eine Intervention geboten erscheinen lassen, ahnt aber, dass die politisch-militärische Erschöpfung der Nato eine Wiederholung unwahrscheinlich macht. Umgekehrt gilt: Libyen ist zwar kein Modell künftiger Interventionen. Aber wenn es welche geben wird, werden sie humanitär begründet sein.
Assad sieht offenbar, dass ein Punkt kommen kann, an dem auch die Furcht vor dem Chaos, das eine Intervention auslösen könnte, ihn nicht schützen kann. Er hat sich durch brutalste Repression den Weg zur Reform abgeschnitten. Die Opposition ist nach mehr als 2000 Toten nicht gesprächsbereit. Russen und Chinesen werden zwar so bald keine In­ter­ven­tion mehr durch Enthaltung im Sicherheitsrat ermöglichen. Sie fühlen sich durch die weite Auslegung der Libyen-Resolution getäuscht. Doch Russland hat in Syrien eigene strategische Interessen, die wichtiger sind als das Regime: eine Marinebasis am Mittelmeer, einen erstklassigen Kunden russischer Waffenproduktion und einen Einflusshebel in Nahost. Jedes Post-Assad-Arrangement wird darum nur in Übereinkunft mit Moskau zu haben sein.
So weit ist es noch nicht. Aber auch für Russland kann der Moment kommen, in dem man sich die Patenschaft für den »Schlächter von Homs« nicht mehr leisten kann.

 

Ist Islamkritik ohne Islamophobie möglich?

Im folgenden ein (sehr langer) Beitrag über das Debattenjahr 2010, geschrieben für das Jahrbuch „Muslime in den Medien“. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs werden einige Passagen bekannt vorkommen.

Die deutsche Debatte des Jahres 2010 ist bei aller Vielstimmigkeit von ei­nem einzelnen Buch geprägt, und das gilt nicht nur für die so genannte „Is­lamkritik“: Thilo Sarrazins Sachbuchbestseller „Deutschland schafft sich ab“.
Die merkwürdige Ironie dieses Erfolgs ist, dass Sarrazins Buch als Beitrag zur „Islamkritik“ in die Geschichte eingegangen ist. Dafür gibt es Gründe, etwa die Gegenwart von Necla Kelek, die auch als sogenannte „Islamkriti­kerin“ firmiert, bei der Vorstellung des Buchs in Berlin. Auch bereits die Diskussion vor Erscheinen des Buchs aufgrund von Sarrazins Interview mit „Lettre International“ im Herbst 2009 wird hier die Weichen der Re­zeption gestellt haben. Schon dieses Interview wurde weithin als Angriff auf Muslime und den Islam wahrgenommen.
Was das Buch selber angeht, ist die „islamkritische Rezeption“ aller­dings erklärungsbedürftig: Im März 2011 erklärt der Autor bei Gelegenheit eines Auftritts in der Evangelischen Akedemie Tutzing, eigentlich habe er „ja gar kein Buch über Muslime schreiben“ wollen, sondern – über den Sozi­alstaat. Und mit der Zuwanderung beschäftige er sich entsprechend auch erst ab Seite 256.
Das ist sachlich richtig, macht die Aufregung um Sarrazin aber noch rätselhafter: Alles ein großes Missverständnis? Sind die Muslime selber schuld, wenn sie sich angesprochen fühlen? Polemisch gesagt: Typisch isla­mische Ehrbesessenheit und Neigung zum Beleidigtsein? Und was die vielen Hunderttau­sende Käufer angeht, haben die dann auch alles missverstanden?
Das Ansehen des Islams und der Muslime ist auf einem Tiefpunkt, wie immer neue Umfragen belegen. Sarrazin aber hat, wenn man seine Äu­ßerungen in Tutzing ernst nimmt, daran weder Anteil, noch profitiert er davon, denn eigentlich geht es ihm ja nur um „den Sozialstaat“? Warum bloss hört das Publikum „Islam“, wenn der Sozialstaat gemeint ist?
„Islamkritik“ ist eine Art Beruf geworden. Seyran Ateş, Autorin meh­rerer Bücher, die sich mit Geschlechterfragen und den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft befassen, verbittet sich mittlerweile, so bezeichnet zu werden: Sie ist selber gläubige Muslimin und möchte nicht als jemand rubriziert werden, der etwas „gegen den Islam“ hat. Ihre Auseinandersetzung mit dem Missständen, die religiös rechtfertigt werden, will sie nicht als religionsfeindlich missverstanden wissen. Ateş hat guten Grund zu dieser Distanzierung: Was hierzulande weithin als „Islamkritik“ läuft, hat sich von der notwendigen intellektuellen, historischen, theologischen, politischen Auseinandersetzung mit einer Weltreligion immer weiter entfernt – und ist zur Stimmungsmache gegen einen Bevölkerungsteil verkommen. Es muss nicht so bleiben. Vielleicht kann es auch gelingen, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Vielleicht kann man die Übertreibungen unserer Debatte auch wieder einfangen. Derzeit sieht es leider nicht so aus.
Das ist für mich das vorläufige Ergebnis eines aufgeregten Debattenjahres.
Zu Beginn des Jahres erregte Wolfgang Benz großes Aufsehen mit seiner These von den Parallelen zwischen Islamkritik und Antisemitismus. In sei­nem Stück in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar heißt es:
„Die unterschwellig bis grobschlächtig praktizierte Diffamierung der Musli­me als Gruppe durch so genannte ‚Islamkritiker‘ hat historische Paralle­len. (…)
Der Berliner Antisemitismusstreit war vor allem eine Identitätsdebatte, eine Auseinandersetzung darüber, was es nach der Emanzipation der Ju­den bedeuten sollte, Deutscher zu sein und deutscher Jude zu sein. Derzeit findet wieder eine solche Debatte statt. Es geht aber nicht mehr um die Emanzipation von Juden, sondern um die Integration von Muslimen.“
Damit hat Benz in meinen Augen ganz einfach recht. Seine Kritiker hielten ihm entgegen, er setze Antisemitismus und Islamkritik gleich. Benz sugge­riert aber nirgends, dass ein Holocaust an Muslimen drohe oder dass Musli­me in Deutschland ähnlichen Formen der Diskrimierung unterliegen wie vormals die Juden. Das wäre auch bizarr.
„Der symbolische Diskurs über Minarette“, schreibt Benz, “ist in Wirklichkeit eine Kampagne gegen Menschen, die als Mitglieder einer Gruppe diskriminiert werden, eine Kampfansage gegen Toleranz und Demokratie.“
Benz spricht über den „Diskurs“, der besonders im Internet erschreckende Formen angenommen hat. Und sein eigentlicher Punkt ist den Kritikern entgangen: Es handelt sich bei der „Islamkritik“ um eine Identitätsdebatte der Mehrheitsgesellschaft. Es wird darin verhandelt, was es heute heißt, Deutscher und Muslim zu sein. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die in den Unterstellungen unterging, ausgerechnet Benz, der sein Leben lang über Antisemitismus geforscht und gegen ihn gekämpft hat, wolle irgendetwas von der Schrecklichkeit des Antisemitismus „relativieren“.
Ich halte das für einen entscheidenden Punkt zum Verständnis der deut­schen und europäischen Debatten über den Islam: Sie handeln in Wahrheit nicht wirklich vom Islam als Religion. Man kann die Leidenschaften, die dabei am Werk sind, wohl kaum aus einem Interesse am Verstehen einer Weltreligion ver­stehen, die (als Teil Europas, nicht als sein Gegenüber) immer noch neu ist. In erheblichem Maße dient die Debatte über den Islam der Selbstvergewis­serung einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft. Es geht bei der „Islamkritik“min­destens so sehr um die deutsche, die europäische, die christliche, die säku­lare Identität wie um den Islam.
Das ist für sich genommen weder irrational noch illegitim. Es gibt Gründe für diese Verunsicherung, es gibt Gründe, die die „Islamkritik“ an- und ihr die Leser zutrei­ben. Ich sehe Deutschland in der Situation eines Nach-Einwanderungslan­des. Das Wort ist nicht schön, aber es beschreibt die Wirklichkeit: wir leben in einer post-migrantischen Situation. Wir debattieren also nicht mehr unter einem Einwanderungsdruck: Der Wanderungssaldo Deutschlands mit der Türkei ist seit Jahren negativ. Seit 1961 kamen türkische Gastarbeiter nach Deutschland, mehr als 900.000 bis 1973, als das Programm durch den Anwerbestopp beendet wurde. Durch Familienzusammenführung und natürliches Wachstum nahm die türkische Bevölkerung in Deutschland bis 2005 auf 1,7 Millionen zu. Beginnend im Jahr 2006 kehrte sich der Trend um: Mehr Menschen zogen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. 2009 gingen 10.000 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als vice versa.
Das ist nur ein Beleg dafür, dass Deutschland (jedenfalls für Türken) kein Einwanderungsland mehr ist. Doch just in dem Moment nehmen die Debat­ten über die Eingewanderten und ihre Nachkommen immer schärferen Charakter an. Vielleicht kann man im Amerika der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts einen Präzedenzfall sehen. Damals wurden die Gren­zen für Immigration weitgehend geschlossen – nach einer großen Welle zwi­schen 1870-1924, die Iren, Deutsche, Polen und andere Osteuropäer und Italiener in Millionenzahlen nach Amerika gebracht hatte. Der Immigrati­on Act von 1924 setzte harte Quoten nach ethnischen Kriterien. Und dies führ­te dazu, dass die USA zeitweise aufhörten, Einwanderungsland zu sein. Man ging daran, mit viel Druck die Integration/Assimilation der Eingewan­derten zu betreiben. Es gab sogar – vor allem im Zuge des Weltkrieges – starke xe­nophobe Exzesse (gegen Japaner).
Ich will die Analogie nicht zu weit treiben. Nur soviel: Europa insgesamt scheint, nach der gigantischen Einwanderungswelle der Nachkriegszeit, die gespeist wurde durch Postkolonialismus und Wirtschaftsboom, ebenfalls in einer Phase der Schließung zu sein. Schließung im Wortsinne durch gesetz­liche Erschwerung von Zuwanderung. Und im übertragen Sinne als Ver­such, die jeweilige Identität zu bewahren (was auch immer das jeweils sei). Der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-Einwanderer-Parteien überall in Europa spricht dafür.
Überall? Eben nicht. Deutschland hat keine solche Partei. Deutschland hat statt dessen eine Debatte in Gestalt der „Islamkritik“. Mir ist das einstweilen lieber so, wie hässlich die Debatte auch sein möge. Bei aller Kritik an der „Islamkritik“ sollte das nicht vergessen werden.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Buch über die „Realität der Massenmedien“ gesagt:
“Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wis­sen, wissen wir durch die Massenmedien.”
Im Luhmannschen Sinn möchte ich im folgenden darüber reden, welches Bild des Islams wir in Deutschland haben, wenn man unsere Massenmedi­en dabei zugrundelegt. Für hier lebende Muslime bedeutet das: Welches Bild bekommen sie davon, wie sich die Mehrheitsgesellschaft durch ihre Medien den Islam zurecht legt. Einfacher gesagt: Ein Muslim sieht unsere Schlagzeilen und liest unsere Geschichten über den Islam und fragt sich: Aha, so also sehen die mich, meine Kultur und Religion, meine Herkunft und Prägung.
Weiter„Ist Islamkritik ohne Islamophobie möglich?“

 

Einwanderung bedeutet mehr Ungleichheit

Alexander Stille hat einen interessanten Artikel in der NYT geschrieben über den Zusammenhang von Inklusion und Gleichheit. Stille will eigentlich auf die Vorteile der europäischen Gesellschaften hinaus, was die Stratifizierung des Sozialen angeht. Es gibt bei uns weniger harte Abgrenzungen, weniger scharfe soziale Unterschiede, eine weniger hermetische Elite.

Aber: für die Diskussionen dieses Blogs, die um die Fragen der Einwanderungsgesellschaft rotieren, hat Stilles Ausführung eine gegenläufige Pointe. Eine Gesellschaft, die mehr ökonomische Ungleichheit zu akzeptieren bereit ist, kann sich viel inklusiver gegenüber Einwanderern verhalten. Und umgekehrt: Inklusivität gegenüber Einwanderern und Minderheiten (in Form von Chancengerechtigkeit) führt letztlich dazu, dass die unterschiedlichen Ergebnisse, die der einzelne erzielt, wesentlich mehr Akzeptanz erfahren.

Das Argument für Umverteilung wird schwächer, je besser eine Gesellschaft darin ist, alle zum Wettbewerb zuzulassen. Die Abwesenheit von Diskrimierung legitimiert paradoxer Weise größere soziale Ungleichheit als Ergebnis.

Other nations seem to face the same challenge: either inclusive, or economically just. Europe has maintained much more economic equality but is struggling greatly with inclusiveness and discrimination, and is far less open to minorities than is the United States.

European countries have done a better job of protecting workers’ salaries and rights but have been reluctant to extend the benefits of their generous welfare state to new immigrants who look and act differently from them. Could America’s lost enthusiasm for income redistribution and progressive taxation be in part a reaction to sharing resources with traditionally excluded groups?

“I do think there is a trade-off between inclusion and equality,” said Gary Becker, a professor of economics at the University of Chicago and a Nobel laureate. “I think if you are a German worker you are better off than your American equivalent, but if you are an immigrant, you are better off in the U.S.”

PROFESSOR Becker, a celebrated free-market conservative, wrote his Ph.D. dissertation (and first book, “The Economics of Discrimination”) to demonstrate that racial discrimination was economically inefficient. American business leaders seem to have learned that there is no money to be made in exclusion: bringing in each new group has simply created new consumers to court. If you can capture nearly three-quarters of the economy’s growth — as the top 1 percent did between 2002 and 2006 — it may not be worth worrying about gay marriage or skin color.

Die europäischen Gesellschaftsmodelle, die alle (mit Ausnahme Großbritanniens) auf einem System von Schutzmechanismen und Ansprüchen für diejenigen beruhen, die bereits drin sind, werden auch darum so stark durch Migration herausgefordert: Einwanderungsgesellschaften tendieren zu stärkerer Ungleichheit. Soziale Sicherungssysteme werden unhaltbar. Die Hausse der so genannten Rechtspopulisten ist eine Reaktion darauf. Sie sind Anspruchsbewahrungsparteien der alteingesessenen Mittelschichten mit – auf den Sozialstaat bezogen – konservativer Tendenz (-> Wilders, Front National, „Freiheitliche“).

Removing the most blatant forms of discrimination, ironically, made it easier to justify keeping whatever rewards you could obtain through the new, supposedly more meritocratic system. “Greater inclusiveness was a precondition for greater economic stratification,” said Professor Karabel. “It strengthened the system, reinvigorated its ideology — it is much easier to defend gains that appear to be earned through merit. In a meritocracy, inequality becomes much more acceptable.”

(…)

Of the European countries, Britain’s politics of inequality and inclusion most resemble those of the United States. Even as inequality has grown considerably, the British sense of economic class has diminished. As recently as 1988, some 67 percent of British citizens proudly identified themselves as working class. Now only 24 percent do. Almost everybody below the Queen and above the poverty line considers himself or herself “middle class.”

Germany still has robust protections for its workers and one of the healthiest economies in Europe. Children at age 10 are placed on different tracks, some leading to university and others to vocational school — a closing off of opportunity that Americans would find intolerable. But it is uncontroversial because those attending vocational school often earn as much as those who attend university.

In France, it is illegal for the government to collect information on people on the basis of race. And yet millions of immigrants — and the children and grandchildren of immigrants — fester in slums.

Der Zusammenhang von Ungleichheit und Inklusion ist vielleicht so etwas wie das dirty little secret unserer Migrationsdebatte.

 

Zum Erfolg der Islamisten bei den Wahlen

Im Wechsel mit Alaa Sabet, Chefredakteur der Al-Ahram Abendzeitung (Ägypten), habe ich gestern auf DW-TV Arabic die jüngsten Ereignisse in Tunesien, Libyen und Ägypten kommentiert. Zentralthema: Aufstieg der Islamisten bei den Wahlen. Sabet erwartet auch für Ägypten einen großen Erfolg der Muslimbrüder.

Hier in der Mediathek (leider nur auf Arabisch).

 

Pakistans Kampf gegen den Terrorismus

Heute morgen gab es ein interessantes Hintergrundgespräch mit pakistanischen Militärs, Geheimdienstlern  und Politikern in Berlin. Es ging um die Sicherheitsinteressen des Landes, insbesondere im Bezug auf Afghanistan. Major General Ghayur Mahmood, der selber 2 Jahre lang eine Infanterie-Brigade in Nord Wasiristan kommandiert hat, führte das Wort. Für mich war es interessant zu hören, wie sehr sich die Pakistaner durch die zunehmende Kritik – vor allem aus Amerika – ins Unrecht gesetzt sehen.

Und die Zahlen des Generals waren in der Tat beeindruckend. 150.000 pakistanische Soldaten stehen an der Westgrenze zu Afghanistan. Aber auch sie können die über 2600 Kilometer gemeinsame Grenze mit Afghanistan nicht effektiv kontrollieren. Die Topographie sein ein „militärischer Alptraum“, sagte der General. Pakistan habe im Kampf gegen den Terrorismus 31.000 Tote zu beklagen, darunter 12.000 Soldaten. 290 Offiziere und 9 Generäle hätten bereits ihr Leben gelassen. Der ISI (Geheimdienst) hat 290 Tote zu verzeichnen, drei von 5 regionalen Hauptquartieren seien von den Terroristen angegriffen worden.

Der finanzielle Schaden des Kampfes gegen den Terrorismus für das Land wird mit 68 Milliarden US-Dollars beziffert. 1.7 Millionen Afghanen leben als Flüchtlinge in Pakistan, zeitweilig waren es bis zu 5 Millionen, und das in einem selbst bitterarmen Land. Der Krieg gegen die Terroristen bedeute eine besondere psychologische Belastung für die pakistanischen Soldaten, weil sie gegen die eigenen Landsleute (oder auch Stammesverwandten) kämpfen müssen.

Es sei sehr bedauerlich, dass die Rückeroberung des Swat-Tals durch die pakistanische Armee nicht gewürdigt worden sei: Die Region war bereits an die Taliban verloren, man habe diese entschlossen bekämpft und die Region von den Terroristen gesäubert. 2 Millionen innere Flüchtlinge hätten darum bereits zurückkehren können. Statt einer Anerkennung dieser Leistung unter großen Opfern gebe es nur Kritik und Verdächtigungen gegenüber Pakistans Armee, sie „spiele ein doppeltes Spiel“, während Pakistan in Wahrheit der Welt einen Dienst erweise.

Der General beklagte, dass die Drohnenangriffe zu viele Kollateralschäden hinterlassen und neuen Hass schüren, der sich auch gegen die Armee richte. Und man wundere sich schon sehr, dass zwar dauernd in Pakistan gebombt werde – wenn die Aufständischen sich aber über die unkontrollierbare Grenze zurückzögen, gebe es keine Drohnenangriffe auf sie. Die mangelnde Kontrolle auf afghanischer Seite sei ein großes Sicherheitsproblem für Pakistan. Bei einem Fall im April seien 500 bewaffnete Kämpfer nach Pakistan eingefallen, aus einem safe haven jenseits der Grenze.

Zur Frage des Abzugs aus Afghanistan bis 2014 war von verschiedenen Teilnehmern zu hören, man fürchte eine Wiederholung der Lage nach dem  sowjetischen Abzug: Bitte geht nicht ohne einen Plan und ohne das Vakuum zu füllen. Die afghanische Armee sei keineswegs in der Lage dazu. Sie sei auch ethnisch nicht genügend ausbalanciert, es gebe viel zu wenige Paschtunen darin. Die ANA gelte darum als anti-paschtunisch.

Ein anderer Kommandant zeigte zur Unterstreichung des guten Willens im Antiterrorkampf Bilder von einer Operation in den FATA-Gebieten. Man konnte eine Werkstatt zur Herstellung von IED’s sehen, erbeutete Waffen und tote Taliban. Der Helikopter, der die Operation von der Luft aus unterstützen sollte, musste notlanden. Er stammt aus dem Jahr 1986, als man die Pakistaner aufgerüstet hatte, damit sie den Mudschahedin gegen die Russen helfen konnten. Jetzt kämpfen sie gegen die Erben der Mudschahedin, aber immer noch mit den Waffen aus dem Kalten Krieg.

Selbst wenn man Abstriche macht – das Militär überall in der Welt pflegt über schlechte Ausstattung zu klagen – es ist etwas dran, dass die Welt einen schiefen Blick auf Pakistan wirft. Die Militärs fühlen sich von ihren Alliierten betrogen, weil ihr Land immer nur noch als Pulverfass und „gefährlichstes Land der Welt“ beschrieben wird.

Wir stehen an der Front eures Kampfes, den ihr nur noch von Langley aus mit dem Joystick führt. 300 Al-Kaida Führer und Kämpfer konnten dank der Informationen des ISI getötet worden. Unsere Soldaten sterben in diesem Kampf, sagte der General.

 

Die arabische Demokratie wird islam(ist)isch sein

Eine unvermeidliche Folge der arabischen Freiheitsbewegung wird die Islamisierung der Politik sein. Denn die repressive Säkularisierung (ja, ich weiß, ein problematischer Begriff, denn klar säkularistisch war keines dieser Regime, überall gab es die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religionen) durch autoritäre Herrschaft ist am Ende. Das heißt nicht, dass für alle Zeiten kein Säkularismus in der islamischen Welt möglich sein wird – der interessante Fall ist hier die Türkei. Aber zu einem Modell – oder zu Modellen – der Koexistenz von Staat und Religion wird man nur durch eine Phase der Renaissance des politischen Islams kommen.

Zunächst einmal ist das Ende der repressiven Säkularisierung für freiheitsliebende Menschen eine gute Nachricht. Die Unterdrückung der (politischen) Religion, mitsamt Folter, Entrechtung, Mord, ist vorbei. Eine Form der Religionsfreiheit – die Freiheit zur Religion im öffentlichen Leben – wird entsprechend Aufwind haben. Jedenfalls für die Mehrheitsreligion, den sunnitischen Islam. Aber: Das Schicksal der religiösen Minderheiten ist damit zugleich ungewisser geworden. Und wie es mit dem anderen Aspekt der Religionsfreiheit steht – der Freiheit von der Religion (von der Mehrheitsreligion, oder von jeglicher Religion im Fall von Atheisten) – das ist eine große Frage für alle Übergangsregime der arabischen Welt. Ausgang: offen.

Es gibt Anlässe zur Sorge: Wenn etwa der Vorsitzende des Übergangsrats in Libyen die Proklamation der Befreiung mit folgenden Sätzen krönt – „Männer, ihr könnt wieder vier Frauen heiraten! Denn so steht es im Koran, dem Buch Gottes. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen, denn ihr müsst nicht eure erste Frau fragen.“ Zinsen sollen übrigens auch verboten werden, weil sie unislamisch seien, so Mustafa Abdul Dschalil in Bengasi am letzten Wochenende. Oder wenn in Tunesien ein TV-Sender wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“ angegriffen wird und der Senderchef um sein Leben fürchten muss angesichts eines aufgehetzten Mobs. Wenn in Kairo Dutzende Kopten massakriert werden und das Staatsfernsehen „ehrliche Ägypter“ auffordert, gegen Christen loszuschlagen. Wenn der Mörder der Kopten von Nag Hammadi, der für seine Bluttat zum Tode verurteilt wurde, als Held gefeiert wird: Was wird aus den religiösen (und anderen) Minderheiten in der befreiten arabischen Welt?

Trotzdem hilft alles nichts: Der politische Islam wird Teil des postrevolutionären politischen Spektrums in allen Ländern sein, die sich vom Joch befreien. Wie könnte es auch anders sein? Jahrzehntelang haben die Anhänger der islamistischen Bewegungen unfassliche Entrechtungen erlitten. (Man lese etwa die Romane von Ala Al-Aswani, der wahrlich keine Sympathien für den politischen Islam hat, aber dennoch die Märtyrer-Geschichten der Islamisten erzählt, die sich in Mubaraks Kerkern abspielten.) Wahr ist auch, dass sie machmal von den autoritären Regimen benutzt wurden: Man hat sie gewähren lassen, um die Linke und andere säkulare Kräfte zu schwächen. Man hat ihnen Spielraum gegeben, um sie dann immer wieder in Repressionswellen kleinzuhalten. Aber:  Sie haben unter schwierigsten Bedingungen überlebt, ihre Netzwerke aufrecht erhalten und sich in vielen Ländern um die Ärmsten gekümmert. Jetzt werden sie erst einmal als glaubwürdige Alternative dafür den Lohn einfahren.

Dass es auf Dauer ein Durchmarsch wird, ist nicht gesagt: Wo es andere Parteien gibt, ist das alte Spiel der Islamisten vorbei, sich als einzige Alternative zur autoritären Modernisierung von oben zu präsentieren. Und: Es ist nun nicht mehr mit Sprüchen wie „Der Islam ist die Lösung“ getan. Jetzt müssen Vorschläge vorgelegt werden, wie eine Wirtschaftspolitik, eine Sozialpolitik, eine Bildungspolitik aussehen würde, die die Länder aus dem Elend führt. Polygynie und Zinsverbot sind nicht die Antwort auf die Alltagsprobleme der Bürger, selbst der frommen.

Für die Beobachter in Europa stellt sich die Frage, wie sinnvoll der Begriff „Islamismus“ noch ist, wenn er Phänomene wie die türkische AKP, die tunesische Ennahda, die jemenitische Islah-Partei (mitsamt der Friedensnobelpreisträgerin), die ägyptischen Muslimbrüder ebenso wie die ihnen feindlich gesinnten Salafisten und möglicher Weise auch noch gewalttätige Dschihadisten von Hamas bis Al-Shabab bezeichnet. Zu erwarten sind noch weitere Differenzierungen im Laufe der kommenden Ereignisse. Der neue Parteienmonitor der Adenauer-Stiftung verzeichnet für die ägyptischen Wahlen alleine 13 (!) religiöse Parteien, und die Listen sind noch nicht geschlossen. (Sehr viel mehr säkulare und sozialistische, übrigens, was aber wieder nichts über die Wahlchancen der jeweiligen Lager aussagt.)

Ein instruktives Paper über die islamistischen Oppositionsbewegungen in Jordanien, Ägypten und Tunesien hat Karima El Ouazghari von der HSFK vorgelegt. Wie schwierig die Lage-Einschätzung selbst für Forscher ist, die vor Ort Gespräche führen, zeigt sich in dem Satz über die Ennahda-Partei. Weil sie in den Wochen des Umbruchs keine gewichtige Rolle gespielt habe, werde sie zwar versuchen, „ihren Platz im neuen Tunesien zu finden, doch wird sie dabei keine gewichtige Rolle spielen“. Das wurde offensichtlich schon vor Monaten geschrieben. Nach dem Wahlsonntag würde man das wohl kaum noch so sehen. Es kommt hier eine Täuschung zum Tragen, der viele Beobachter erlegen sind, und ich auch: Weil die Revolutionen nicht islamistisch geprägt waren, würden auch die Folgen dies nicht sein. So einfach ist das nicht. Islamisten werden eine wichtige Rolle spielen, und zwar wahrscheinlich in jedem Land eine andere. Eine Wiederholung des iranischen Falls ist wenig wahrscheinlich, wo die Islamisten schließlich alles übernahmen und die restliche Opposition terrorisierten, ermordeten und außer Landes drängten. Dies schon allein deshalb, weil der Iran als Modell so grandios gescheitert ist und die Parole vom Islam als Lösung diskreditiert hat.

Die interessanten Debatten der kommenden Zeit werden sich wahrscheinlich zwischen den verschiedenen Strängen des Islamismus – oder politischen Islams, oder islamisch geprägter Politik – abspielen, und nicht zwischen Islamisten und Säkularen (wie ich zunächst erwartet hatte). Soll es in Ägypten einen religiösen Rat der Ulema geben (eine Art religiösen Wächterrat der Politik), und wie weit sollen seine Kompetenzen gehen? Sollen tatsächlich Frauen von hohen Ämtern ausgeschlossen sein, wie es die konservativen Kräfte in der MB 2007 forderten? Oder passt das nicht mehr in die Post-Tahrir-Welt? Kann ein Kopte theoretisch Präsident von Ägypten werden?

Ein sprechender Moment der letzten Wochen war Erdogans Besuch in Kairo. Dort hat er für das türkische Modell eines säkularen Staates geworben. Die MB waren nicht sehr amüsiert. Das ist interessant: Der Vertreter eines modernen politischen Islams wirbt für die Trennung von Religion und Staat, und wird dafür von den Islamisten kritisiert, die sich sehr viel mehr Verschränkung von Religion und Staatlichkeit wünschen. Der im Westen als Islamist verdächtigte Erdogan findet sich plötzlich in der Rolle, von konservativeren Brüdern für seine paternalistische Einmischung kritisiert zu werden. Von den Türken will man sich kein Gesellschaftsmodell aufdrängen lassen. Zu westlich. Willkommen in unserer Welt, Bruder Recep! (Auch den äpyptischen Militärs, die anscheinend mit den MB schon hinter den Kulissen koalieren, ist das türkische Modell sicher nicht so sympathisch, seit Erdogan das Militär immer weiter zurückgedrängt hat.) Zur entscheidenden Rolle des türkischen Modells gibt es ein sehr aufschlußreiches Interview auf Qantara.de mit der Soziologin Nilüfer Göle. Darin  sagt sie:

Göle: Ich denke, dass das, was Erdoğan zuletzt in Kairo in Bezug auf den Säkularismus sagte, ein sehr wichtiges Signal ist. Ich kann die Frage, ob seine Aussagen aufrichtig oder Teil einer versteckten Agenda sind, nicht beantworten, weil das hieße, sich auf bloße Verdächtigungen zu stützen; ich glaube aber, dass es ein wichtiger Moment in dem Sinne war, dass es ihm darum ging, nicht zu einem populistischen Diskurs beizutragen.

Wenn Erdoğan sagt, dass wir den Säkularismus neu interpretieren und wir ihn als post-kemalistischen Säkularismus verstehen müssten, dann erscheint dieser Säkularismus viel offener und kann alle unterschiedlichen Glaubenssysteme umfassen. Eine solche Definition des säkularen Staates erfordert die gleiche Distanz des Staates zu allen Glaubenssystemen, mit der die religiöse Freiheit auch für Nicht-Muslime gesichert werden kann. In Erdoğans Kairoer Rede sehen wir seinen Versuch, mit den Mitteln des Säkularismus einen Rahmen für die Rechte der Nicht-Muslime in der arabischen Welt zu definieren. Und in diesem Sinne hat diese Definition des laizistischen Staates, der eben nicht nur eine Reproduktion des kemalistischen Laizismus ist, durchaus das Potenzial, die autoritären Züge, die ihm eigen sein können, zu überwinden und die Tür zu einem post-säkularen Verständnis der religiös-laizistischen Kluft zu öffnen.

 

Ebenfalls in Qantara.de schreibt Khaled Hroub über Erdogans Moment in Kairo:

Erdogan hat den Islamisten in Kairo mitgeteilt, dass der Staat sich nicht in die Religion der Menschen einzumischen habe und zu allen Religionen denselben Abstand halten solle. Er müsse säkular sein, wobei Säkularismus nicht Religionsfeindlichkeit bedeute, sondern der Garant für die freie Religionsausübung aller sei. Der Staat, den die arabischen Islamisten im Sinn haben, ist ein religiöser Staat, der jedem Individuum die Religion aufzwingt und natürlicherweise nur eine einzige Auslegung der Religion kennt.

Welcher der von den heutigen Muslimbrüdern oder Salafisten vorgeschlagenen islamischen Staaten würde denn die völlige Freiheit der anderen Religionen und Überzeugungen, wie Christentum, Judentum, Hinduismus oder Sikhismus akzeptieren? Welche dieser Staaten würden den islamischen Konfessionen, die den jeweils herrschenden Islamisten nicht passen, wie z.B. den diversen schiitischen Schulen, den Ismailiten, der Bahai-Religion, der Ahmadiyya-Bewegung usw., Freiheit und Sicherheit gewähren?

Ist es nicht eine Schande, dass im Westen unter den Bedingungen des Säkularismus die Muslime aller Konfessionen in Frieden und gegenseitiger Achtung miteinander leben, während sie in jedem ihrer islamischen Länder daran scheitern, sozialen Frieden zu schaffen und sich gegenseitig zu achten?

Der Vorsitzende der Ennahda in Tunesien, Rachid Ghanouchi, beruft sich immer wieder auf das türkische Modell. Seine Partei will er im Sinne der AKP als moderne, demokratische Partei verstanden wissen, die analog zu den Christdemokraten ihre Werte aus der Religion zieht, aber keine Theokratie und kein Kalifat anstrebt und den Pluralismus bejaht. Allerdings waren das bisher alles Bekenntnisse aus der Opposition heraus, unter der Notwendigkeit, sich gegen den Verdacht zur Wehr zu setzen, man habe eine versteckte Agenda, die sich erst nach Wahlen zeigen werde. One man, one vote, one time? Bald wissen wir mehr.

 

 

 

 

Deutsche Ohnmacht, deutsche Übermacht

Mein „Politisches Feuilleton“ für das Deutschlandradio (hier hören) von heute:

Eine Tatsache, die man dieser Tage über die Macht lernen kann, ist, dass sie nicht unbedingt da ist, wo man sie vermutet. Deutschland strebt einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, einen Platz am weltpolitischen Tisch der Erwachsenen. Es scheinen sich aber Zweifel eingeschlichen zu haben, ob das noch zeitgemäß ist. Zu Recht.

Denn dahinter steckt ein überlebtes Konzept von deutscher Macht und Bedeutung. Man kann das sehen, seit Deutschland ein sogenanntes „nicht ständiges Mitglied“ im Sicherheitsrat ist – also auf Zeit und mit beschränkten Rechten. Die Erfahrung dieses Jahres ist ernüchternd.

Erst haben die Deutschen sich bei der Libyen-Entscheidung an die Seite Chinas und Russlands gestellt, und wurden dafür von den alten Verbündeten kritisiert. Diese Deutschen, so ätzten Amerikaner, Briten und Franzosen, braucht wirklich niemand im Sicherheitsrat. Jüngst hat Deutschland dann versucht, eine scharfe Resolution gegen Syrien zu forcieren, um dem Diktator Assad in den Arm zu fallen. Prompt scheiterte die Sache nun an Russen und Chinesen. Und dabei hatte der Außenminister die doch zu neuen strategischen Partnern der Deutschen erklärt.

Dann ist da noch die Sache mit Palästina: Deutschland stimmt gegen die Aufnahme des Landes in die UNO, obwohl wir doch für Palästinas Unabhängigkeit eintreten. Wir tun das für Israel. Plausibel machen kann man das niemandem.

Nach fast einem Jahr im Sicherheitsrat weiß keiner, wofür Deutschland warum steht. Und warum es unbedingt dabei sein will.

Es zeigt sich ein merkwürdiges Paradox: Deutschland agiert ohnmächtig und widersprüchlich im machtvollsten Gremium der Welt. Zugleich hat Deutschland in der internationalen Politik mehr Macht und Bedeutung, als seinen Politikern manchmal lieb ist. Die Macht aber ist nicht da, wo man sie vermutet, und sie äußert sich nicht durchs Abstimmungsverhalten am East River in New York. Deutschland ist zu klein – und diese Regierung zu desorientiert – für eine unabhängige Politik im Sicherheitsrat.

In Europa dagegen ist Deutschland heute zu groß, keine eigenständige Politik zu verfolgen. Die Eurokrise hat Deutschland vor aller Augen zum unverzichtbaren Land auf dem Kontinent gemacht. Darin liegt eine gewisse Ironie, war der Euro doch eine französische Erfindung, die ursprünglich das neue, große, wiedervereinigte Deutschland einhegen sollte. Es ist anders gekommen. Der deutsch-französische Motor, so spottete kürzlich ein britischer Kommentator, gleiche heute einem BMW-Motorrad mit einem Peugeot-Beiwagen. Am Steuer sitzt Angela Merkel, und Nicolas Sarkozy muss sich im Beiwagen kräftig mit in die Kurve legen, immer in die Fahrtrichtung der deutschen Kanzlerin.

Noch jedes Mal haben die Franzosen mitziehen müssen, wenn die Deutschen vorangingen: Ob es darum geht, zu welchen Bedingungen die Griechen gerettet werden, wann es einen Schuldenschnitt geben, oder welche Stabilitätskriterien in Europa gelten sollen; wie die Banken an der Rettung zu beteiligen sind, oder wie groß der Hebel des EFSF sein soll – immer sind es die Deutschen, die sich durchsetzen. Frankreich hingegen ist sechs Monate vor einer Präsidentenwahl in Gefahr, von den Ratingagenturen herabgestuft zu werden.

In der deutsch-französischen Partnerschaft wollten die Franzosen die Deutschen früher ausbalancieren. Heute dient sie dem Zweck, Frankreichs Schwäche und Deutschlands Stärke zu kaschieren. Frankreichs ständiger Sitz im Sicherheitsrat ist da nur noch ein schwacher Trost.

Deutschlands wahre Macht liegt heute in Europa. Unsere Sicherheit und Stabilität hängt von den Staatsschulden unserer Nachbarn ab, von faulen Krediten in ihren Banken, von ihrem Rating. Die Massenvernichtungswaffen, die unser System gefährden, stecken nicht in einem Bunker in Nahost, sondern in den Schließfächern unserer Kreditinstitute und den Haushaltsplänen unserer Partner. Sie zu entschärfen, wird lange Verhandlungen und starke Nerven brauchen.

Und deswegen wird Deutschland im Sicherheitsrat kaum gebraucht. In Europa aber umso mehr.