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Die Avatar-Intifada

Bild: Reuters

Ende vergangener Woche protestierten diese Palästinenser im Na’vi-Kostüm am israelischen Sperrzaun nahe Bilin gegen die Besatzung.

Quelle.

 

Wurde der Talibanführer gefangen oder verraten?

Die Festnahme des Talibanführers Mullah Baradar ist erfreulich über die Tatsache hinaus, dass den Aufständischen in Afghanistan damit ein wesentlicher Schlag zugefügt werden konnte.

Die Kooperation zwischen dem pakistanischen Geheimdienst ISI und der CIA lässt hoffen, dass Pakistan endlich den Kampf gegen die Dschihadisten aufnimmt, statt sie als Werkzeug seiner Einflussnahme im Nachbarland zu päppeln und zu protegieren. Mullah Baradar wurde ausserhalb der südpakistanischen Stadt Karatschi festgenommen. Dabei soll die amerikanische Telefonüberwachung eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Die pakistanische Zeitung Dawn schreibt:
Mullah Baradar’s capture from a place on the outskirts of Karachi was the result of increasing US pressure on Pakistan to pursue a policy of killing or capturing the Taliban leadership believed to be hiding in the country.

The detention of one of their most powerful commanders sent a clear message to the Taliban leadership that Pakistan was no more a safe haven for them.

Pakistani intelligence had been keeping a close track of the movement of the Taliban leadership which had earlier moved freely.

Mullah Baradar’s arrest demonstrated increasing cooperation between the Central Intelligence Agency and Pakistan’s Inter Services Intelligence.

Pakistan hofft offenbar, sich durch die Kooperation gegen die Taliban Aktien im Poker um die Zukunft Afghanistans zu erwerben: gut so!

Allerdings gießt Al-Dschasira etwas Wasser in den Wein: Mullah Baradar könnte, vermutet der Sender, einer Intrige in der Talibanführung zum Opfer gefallen sein. Er war angeblich bei geheimen Verhandlungen mit der afghanischen Regierung in Dubai beteiligt. Dies sei bei den Hardlinern der Bewegung nicht auf Zustimmung gestossen.
Und nun habe man ihn womöglich aus dem Verkehr gezogen, indem man ihm dem Feind ausliefert. (Mit leuchtet daran nicht ein, dass es doch viel zu gefährlich ist, einen Mann mit diesem Wissen aufzugeben. Hätte man ihn nach der Logik von Al-Dschasira nicht besser liquidiert?)

Jedenfalls: Wenn Mullah Baradar zum verhandlungsbereiten und verhandlungsfähigen Teil der Bewegung gehört, ist seine Festnahme vielleicht schlechte Nachricht für alle, die eine „politische Lösung“ des Konflikts für unabdingbar halten.

Hier der Bericht von Al-Jazeera English:

 

Doch, man kann konservativ und gewinnend sein

Ein Konservativer, wo man gerne hingeht: David Cameron, Chef der britischen Tories und Herausforderer Gordon Browns zeigt, wie man bürgerliche Politik heute begründet.
Armut, Zusammenhalt, Bildung – die großen Themen werden nicht auf „Steuern runter“ oder „Mehr Netto“ reduziert. Ja, wer staatliche Leistungen bezieht, muss auch selber leistungswillig sein. Aber es gibt eben nicht die Botschaft: „Eure Armut kotzt uns an“ – wie bei Westerwelle, der der Mittelschicht immer neue Argumente zum „opting out“ liefert. Man kann auch Konservativer sein, ohne sich wie Rumpelstilzchen aufzuführen und auf Kosten der Bedürftigen zu argumentieren. Man kann die Probleme von „generations and generations on welfare“ artikulieren, ohne Sozialromantik und ohne schneidigen Ton der Herablassung.
So jemanden könnte man eventuell wählen – „even if you have never voted Tory“.

 

Taliban: Nr.2 gefasst?

Das waren noch Zeiten: Congressman Charlie Wilson in AFG

In übereinstimmenden Nachrichten der New York Times und der BBC ist die Rede davon, dass Mullah Baradar, der militärische Chef der Taliban, bereits vor einer Woche von amerikanischen Truppen und von mit ihnen kooperierenden Pakistanern (!) gefasst worden sein soll.

Die Times schreibt:

Details of the raid remain murky, but officials said that it had been carried out by Pakistan’s military spy agency, the Directorate for Inter-Services Intelligence, or ISI, and that C.I.A. operatives had accompanied the Pakistanis.

In anderen Worten: Das ISI und die CIA versuchen den Geist wieder in die Flasche zu stopfen, den sie einst herausgelassen hatten. Sehr gute Nachrichten, vor allem wegen des pakistanischen Umdenkens, das sich hier zeigt. Anders gesagt: „Charlie Wilson’s War“ wird zuende geführt.

Baradar ist die Nummer 2 hinter dem Talibachef Mullah Omar, und seine Bedeutung für die militärische Strategie der Taliban im afghanischen Süden wird sogar noch höher eingeschätzt als die des Anführers.

Sollte sich diese Nachricht bestätigen, wäre dies ein Grund zur Hoffnung. Und es würde auch erklären, warum die Großoffensive  in Helmand just in diesen Tagen stattfindet.

Ein ausführliches Porträt findet sich hier.

Paragh Kanna warnt aber davor, in den möglichen (noch unbestätigten) militärischen Erfolgen bereits die Wende sehen zu wollen, die einen politischen Prozess (und das heisst:  Verhandlungen mit den Clanführern) überfüssig machen würde:

The olden system of influential tribal elders, though battered in the Pashtun areas, has withstood the Taliban’s violent campaign to destroy and replace it with militant Islamic rule. No matter how tumultuous and intermittently brutal the situation, kinship networks and their leaders retain persuasive influence.

Regrettably, most officials and analysts fail to grasp that the Pashtun region is a potentially fruitful theater for dialogue and engagement. Its tribes have not only been fierce fighters for centuries, but also expert negotiators; they violently punish those who break promises, but honor agreements and loyalty as well. If the Obama strategy emphasizes “people-to-people ties,” these are the people who are crucial to enlist in both the short and long term. The tribal order can’t be defeated by fighting against it, but it can be gradually and incrementally modernized through thoughtful engagement. Many tribal leaders have appealed responsibly for just such an approach, including influential opinion-shapers in isolated North Waziristan. To turn away from this opportunity would be tragic.

 

Künstliche Hymen in Ägypten

Viel zu lange nicht mehr bei Sandmonkey vorbeigeschaut, dem unglaublich frechen ägyptischen Blogger.

Er schrieb schon gegen Ende letzten Jahres über einen Hype in den ägyptischen Medien – künstliche Hymen, die es sexuell aktiven jungen Frauen ermöglichen würden, Jungfräulichkeit am Tage ihrer Hochzeit zu simulieren (nicht zu verwechseln mit der chirurgischen Rekonstruktion).

Ich liebe diesen unverschämten Sound seines Posts:

But what is the issue that is uniting the Egyptian opposition and the government, and is so urgent that it took not one, but two session of the parliament to discuss? Unemployment? Food Riots? Swineflu? The Jooz, again? No, the answer is far more sinister than that, and it even has a sinister Japanese sounding name to accompany it: GIGIMO. And ladies and gentlemen, it’s a hymen.

Proving one more time that when it comes to Muslim women, it’s what’s between their legs, Egypt is simmering over a Chinese device that fakes female virginity. The device is reportedly available in Syria for $15 and is quite popular. No one knows if the device is being sold in Egypt yet, but just the mere thought of a device, which is said to release liquid imitating blood, allowing a woman to fake virginity on her wedding night, has driven the conservative society crazy. Weiter„Künstliche Hymen in Ägypten“

 

Warum Bin Laden schon verloren hat

Wieder einmal muss ich auf Fareed Zakaria von Newsweek verweisen. In einem längeren Essay geht er der Frage nach, wie es um die Chancen der Dschihadisten steht, die Weltordnung herauszufordern. Zakaria ist der Meinung, dass die radikeln Islamisten den Kampf um die öffentliche Meinung in den massgeblichen islamisch geprägten Ländern verloren hätten. Die sei vor allem der gewandelten Haltung der so genannten „moderaten islamischen Regime“ – allen voran Saudi Arabien – geschuldet.

Während die Saudis die extremistischen Imame früher gefördert  oder mindestens haben gewähren lassen, hätten sie nun verstanden, dass der Antiterror-Kampf auch der um das Überleben ihres Systems ist. Al Qaida und seine Affiliationen wiederum hätten durch die Antiterrormassnahmen der letzten 8 Jahre Manövrierraum verloren und seien gezwungen  worden, immer mehr lokale Ziele zu verfolgen – teils mit desaströsen Folgen. Man kann zwar noch die schmutzigen Ecken des Globus aufmischen wie Jemen oder Somalia, doch im Irak, in Pakistan und in Indonesien verlor man durch die Brutalität des Vorgehens gegen andere Muslime – die häufigsten Opfer der Anschläge – an Boden.

Außerdem habe in der islamischen Welt eine Debatte über die Ursprünge des eigenen Zurückbleibens begonnen, die nicht mehr als Kolonialismus oder Kulturimperialismus abgetan werden könne. Ausgangspunkt dafür sei der „Arab Human Development Report“ von 2002 gewesen, ein Dokument der UN, angefertigt von arabischen Wissenschaftlern.

Während die Saudis verstanden haben, dass die Radikalen, die sie einst gefördert haben, ihr eigenes System angreifen, steht Pakistan nach Zakarias Eindruck erst am Anfang dieses Lernprozesses. Aber immerhin: Auch hier habe er begonnen. Der Kampf gegen die pakistanischen Taliban ist ein Beleg dafür.

Diese Diagnose bedeutet nicht, dass nun alles vorbei ist und wir friedlichen Zeiten entgegensehen. Im Gegenteil: Al Qaida ist in dem hoffnungslosen und zerrütteten Zustand von heute ein sehr viel schwerer zu bekämpfender Gegner als am Ende des fürchterlichen Jahres 2001 mit den lokalisierbaren Lagern in Afghanistan:

„The focus of our concern now is not a broad political movement but a handful of fanatics scattered across the globe. Yet Washington’s vast nation-building machinery continues to spend tens of billions of dollars in Iraq and Afghanistan, and there are calls to do more in Yemen and Somalia. What we have to ask ourselves is whether any of that really will deter these small bands of extremists. Some of them come out of the established democracies of the West, hardly places where nation building will help. We have to understand the changes in the landscape of Islam if we are going to effectively fight the enemy on the ground, rather than the enemy in our minds.“

(Letzteres ist auch hier in diesem Blog immer wieder zu beherzigen.)

Es wird nicht immer gelingen, junge Fanatiker wie den Unterhosenbomber von fürchterlichen Anschlägen abzuhalten. Aber: Sein eigener Vater hat ihn bei den amerikanischen Behörden angezeigt!  Zakaria: „Were the fathers of these boys convinced that the United States would torture, maim, and execute their children without any sense of justice, they would not have come forward. I doubt that any Chechen father has turned his child over to Vladimir Putin’s regime.“

Zakaria zitiert auch mehrere Umfragen über die Akzeptanz des Dschihadismus in der islamischen Welt, die Anlass zur Hoffnung geben:

„The data on public opinion in the Muslim world are now overwhelming. London School of Economics professor Fawaz Gerges has analyzed polls from dozens of Muslim countries over the past few years. He notes that in a range of places—Jordan, Pakistan, Indonesia, Lebanon, and Bangladesh—there have been substantial declines in the number of people who say suicide bombing and other forms of violence against civilian targets can be justified to defend Islam. Wide majorities say such attacks are, at most, rarely acceptable.

The shift has been especially dramatic in Jordan, where only 12 percent of Jordanians view suicide attacks as „often or sometimes justified“ (down from 57 percent in 2005). In Indonesia, 85 percent of respondents agree that terrorist attacks are „rarely/never justified“ (in 2002, by contrast, only 70 percent opposed such attacks). In Pakistan, that figure is 90 percent, up from 43 percent in 2002. Gerges points out that, by comparison, only 46 percent of Americans say that „bombing and other attacks intentionally aimed at civilians“ are „never justified,“ while 24 percent believe these attacks are „often or sometimes justified.“

This shift does not reflect a turn away from religiosity or even from a backward conception of Islam. That ideological struggle persists and will take decades, not years, to resolve itself. But the battle against jihadism has fared much better, much sooner, than anyone could have imagined.“

 

Nachrichten über den Tod dieses Blogs sind übertrieben

Jetzt kann ich es ja sagen: Es war ein Experiment. Ich bin diesem Blog ferngeblieben, damit das Institut für Medienpsychologie der Universität Hohenheim die Folgen des Input-Entzugs bei chronischen Blognutzern über drei Wochen im hiesigen Kommentarbereich studieren konnte. Die in der Zwischenzeit verfassten Kommentare werden im Rahmen der Studie „Realitätsverlust. Diskursstrategien schwer abhängiger Digitalnomaden bei plötzlicher Abwesenheit des Blogmasters“ ausgewertet. Mit der Fertigstellung der Studie ist im kommenden Wintersemester zu rechnen. Erste Ergebnisse werden hier exklusiv vorgestellt.

Ironie aus: In Wahrheit ist eine Kombination von Umständen für meine Abstinenz verantwortlich. Erstens war ich ausgepowert. Ich habe eine größere Sache über Juden in Deutschland recherchiert und geschrieben, in deren Folge Charlotte Knobloch – ohne meine Absicht – entmachtet wurde. Ich war zwar nur der Reporter des terminalen Zerwürfnisses im Zentralrat der Juden, aber es nimmt einen trotzdem mit.

Zweitens hat die jüngste Islamkritiker-Debatte in den Feuilletons, die meine Kollegen auf Trab hält, auf mich einen gegenteiligen Effekt. Ich kann es auf folgenden Begriff bringen: Narkolepsie. Darunter versteht man eine Krankheit, die den Patienten plötzlich und gegen seinen Willen bei hellichtem Tage in heftigen Schlafdrang versetzt. Seit mehr als fünf Jahren beschäftige ich mich praktisch pausenlos mit dem Komplex Integration, Immigration, Islam, Islamismus – doch der heutige Streit zwischen „Aufklärungsfundamentalismus“ und „Alleshalbsowildismus“ streckt mich von einer auf die andere Sekunde nieder. Auf dieser abgehobenen Ebene ist dazu bei bestem Willen nichts Interessantes mehr beizutragen. Auch darum habe ich dieses Blog gemieden. Ich musste mal nachdenken.

Meine Begegnungen mit Juden haben mich für unsere Islamdebatte sehr zum Grübeln gebracht. Leider habe ich davon vieles nicht verwenden können. Cilly Kugelmann, stellvertretende Leiterin des Jüdischen Museums, war regelrecht angewidert von der Minarettdebatte. Muslimischer Antisemitismus ist ein Problem – aber die Unterdrückung der religiösen Symbole einer Minderheit ist absolut intolerabel für Juden, die gerade versuchen, die Diaspora-Erfahrung positiv neu zu besetzen. Die gleichen Äußerungen kamen von Lala Süsskind, Präsidentin der Jüdischen Gemeinde in Berlin, und Rabbiner Jehuda Teichtal von Chabad Lubawitsch. Kopftuchverbote sieht man extrem skeptisch – denn sie würden perückentragende Ortodoxe ja auch treffen müssen. Der ganze kulturkämpferische Furor unserer Islamdebatte ist für Juden sehr verdächtig. Rabbiner, die Frauen nicht die Hand geben, sind etwas ganz Normales selbst für gemäßigte Orthodoxe.

Übrigens macht es vielen Juden hierzulande auch keine Freude, dass Israel von Islamhassern vereinnahmt wird, die sich gerne Israelfähnchen oder Gilad-Shalit-Hafttage-Zähler auf die Websites pappen. Wer solche Freunde hat,…

 

Abwesenheitsmeldung

Sorry, ich weiß natürlich, dass das so eigentlich überhaupt nicht geht: Ich habe mein Blog sträflich vernachlässigt und mit etwa 3 tägliche Kommentare zur aktuellen Debatte zwischen Broder, Kelek, Chervel, Steinfeld, Kreye etc. verkniffen.

Es geht derzeit leider nicht anders. Ich bin auf einer umfangreicheren Recherche über den Wandel des jüdischen Lebens in Deutschland für eine Titelgeschichte der nächsten Woche.

Bitte um Verständnis!

 

Nicht in kurzen Hosen – fast 100 Tage Außenminister Westerwelle

Mein Porträt aus der ZEIT dieser Woche, Nr. 4, S. 2:

Er hat wirklich vom Beten gesprochen. Nicht »Anteilnahme«, »Solidarität«, oder wie die ohnmächtigen Phrasen des Beileids sonst heißen. Nein: »Wir beten für die Verletzten in Haiti«, erklärt Guido Westerwelle in Tokio, auf der ersten Station seiner Asienreise.

Etwas grünlich-bleich schaut er in die Kameras – kein Wunder nach dem zermürbenden Nachtflug über die endlosen Permafrost-Weiten Sibiriens. Vielleicht ist ihm das fromme Wort im Meiji-Schrein eingefallen, dem Shinto-Heiligtum im Herzen des Hauptstadt. Aus Respekt vor den Göttern musste er dort ohne Mantel im dünnen Diplomatenanzug einen heiligen Tamaguschi-Zweig auf den Altar legen. Am Ende der Zeremonie war er dann so durchgefroren, dass auch der heilige Reiswein, den man hier trinkt, keine Wärme mehr brachte. Angesichts des Grauens von Port-au-Prince, über das Westerwelle von seinen Mitarbeitern ständig informiert wird, steht der Außenminister erstmals vor einer Katastrophe »biblischen Ausmaßes«, bei der auch ein geölter Apparat von fast 7000 Mitarbeitern zunächst einfach hilflos ist.

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Im Meiji-Schrein, Tokio Foto: JL

Nicht einmal hundert Tage ist der Ex-Oppositionsführer nun mit seiner Transformation in den Außenpolitiker Westerwelle beschäftigt. Und doch zeichnen sich schon erste Linien seiner Amtsführung ab. Überraschende Lockerungsübungen zum Türkeibeitritt, die Aufwertung des Nachbarn Polen auch auf Kosten der Vertriebenenfunktionärin Steinbach, ein mahnender Blitzbesuch im zerfallenden Staat Jemen, und schließlich der Versuch, unverklemmt die Interessen der deutschen Industrie und die Menschenrechte in China zu vertreten – das ist nicht nichts.
Jeder Asientrip ist dieser Tage eine Reise an die Grenze der Macht. Denn wie man mit dem jungen Riesen China umgehen soll, der selbst noch kein rechtes Gefühl für seine wachsende Kraft hat, weiß in Wahrheit niemand. Schmeicheln hilft derzeit so wenig wie drohen, locken so wenig wie mahnen – wie zuletzt selbst Obama und Google erfahren mussten, beides größere Gewichte im Ring als ein deutscher Außenminister (siehe auch Seite 9). Aber es hilft ja nichts, im Umgang mit China muss man sich kenntlich machen, nicht zuletzt fürs Publikum daheim. Es ist ein Klischee der Diplomatie, dass Asiaten so viel Wert darauf legen, »das Gesicht nicht zu verlieren«. Ein Peking-Besuch ist heute mehr ein Test der Würde des Gastes.
Westerwelle macht es so: Er fliegt demonstrativ über Japan dorthin und nimmt sich in Tokio mehr Zeit als nötig. Er isst ausführlich mit dem japanischen Amtskollegen zu abend und übernachtet in Tokio, obwohl es unpraktisch ist. Er preist die »Wertepartnerschaft« mit Japan, was im Umkehrschluss bedeutet, dass es eine solche mit China eben (noch) nicht gibt. Und in Peking, bei seiner Begegnung mit dem chinesischen Außenminister Yang Jiechi, der extra eine Afrikareise unterbrochen hat, um den Deutschen kennenzulernen, spricht er dann drei Mal vor der Presse von den »Meinungsunterschieden«, die man nicht unter den Teppich kehren wolle. Das ist – zumal bei einem Antrittsbesuch – hart an der Grenze zum Unfreundlichen.
China in Menschenrechtsfragen zu kritisieren und doch offensiv die Interessen der zahlreich mitreisenden deutschen Industrie zu vertreten, sei kein Widerspruch, meint Westerwelle. Er glaube an »Wandel durch Handel«. Der chinesische Kollege lächelt fein dazu. Mag sein, dass auch der nette Herr Yang daran glaubt. Nur wer hier am Ende wen wandelt, das ist für ihn womöglich noch nicht ausgemacht.
Mit dem Besuch in Peking ist Westerwelles weltweite Vorstellungsrunde abgeschlossen. Er wirkt noch ein wenig überrascht davon, dass er das ohne Fehltritt hinbekommen hat. Gerne streicht er heraus, er sei schließlich »nicht in einem Schloss aufgewachsen«, sondern in einem Bonner Altbau-Reihenhaus. Wenn er eifrig hinterherschiebt, zwischen dem Schlossbesitzer Guttenberg und Guido, dem Reihenhauskind, gebe es keine Konkurrenz in der Regierung, dementiert sich das von selbst. Am Ende des Monats müssen Guttenberg und Westerwelle in der wichtigsten außenpolitischen Frage dieses Landes eine gemeinsame Linie vertreten – bei der Londoner Afghanistankonferenz. Nachdem sich Liberale und Christlichsoziale seit Beginn der Regierung lustvoll beharkt haben, wäre das mal etwas Neues.
Westerwelle verdankt als Außenminister ironischer Weise nicht zuletzt der CSU sein frisches Profil. Es war seine Idee, sich bei seinem ersten Besuch in Warschau darauf festzulegen, Erika Steinbach dürfe nicht in den Beirat der Vertriebenenstiftung einrücken, weil sie der Versöhnung mit Polen im Wege stehe. Und wenige Wochen später preschte er auf eigene Rechnung in Istanbul vor, indem er Deutschlands Interesse an einem Beitritt der Türkei zur EU betonte. Verblüffte türkische Journalisten hakten nach, ob denn nun Westerwelles Wort oder das der Union von der »privilegierten Partnerschaft« gelte. Dieser konterte mit dem Bonmot, er sei nicht »als Tourist in kurzen Hosen« am Bosporus unterwegs: »Das, was ich sage, zählt.«
CSU-Generalsekretär Dobrindt adelte dann Westerwelles Nein zu Steinbach und sein Ja zur Türkei zu einem veritablen Politikwechsel: Der Außenminister solle in Istanbul keine »Geheimdiplomatie« mit den Türken betreiben, wie er es schon in Warschau mit den Polen getan habe, grummelte es aus Wildbad Kreuth. Der Gescholtene empörte sich, doch in Wahrheit kam ihm die Gelegenheit sehr zupass, in der Regierung kenntlich zu werden. Die Kanzlerin ließ ihn gewähren. Es kommt ihr gar nicht ungelegen, dass der Vize ihr den Grund liefert, Erika Steinbach aus dem deutsch-polnischen Spiel zu nehmen. Und auch als Gegengewicht zu den Populisten in der CSU, die den Türken gerne laut die Tür zur EU vor der Nase zuschlagen würden, ist Westerwelle für Merkel von Wert. Eine Art stille Arbeitsteilung.
Bei der Afghanistan-Konferenz kommende Woche in London sieht es anders aus. Wie Westerwelle bisher agiert hat, zeigt seine Schwäche: Mag sein, dass ihm als Außenminister hier ein innenpolitischer Reflex zum Verhängnis wird. Er ist der Versuchung erlegen, sich ganz die zivile Seite des Einsatzes zueigen zu machen – und den anderen die unpopuläre Frage der Truppenstärke zuzuschieben. Zum Jahreswechsel ließ Westerwelle sich aus dem Weihnachtsurlaub vernehmen, er werde nicht nach London anreisen, wenn es sich um eine »reine Truppenstellerkonferenz« handele. Man brauche vielmehr einen »breiten politischen Ansatz« und eine »Gesamtstrategie«.
Er tat, als stünde er wie ein einsamer Rufer für den zivilen Aufbau gegen eine Phalanx von militaristischen Ledernacken. Will Westerwelle als Vizekanzler selbst noch die Opposition friedensrhetorisch überholen? Er redet viel von Abrüstung und möchte gerne ein neuer Genscher werden. Vielleicht ist Westerwelles Genscherismus aber eine selbst gestellte Falle. Was Friedenspolitik in einer Welt der asymmetrischen Bedrohungen heißt, muss neu definiert werden. Nun aber liegt der Verdacht in der Luft, dass da einer Deutschland auf Kosten der Verbündeten als Friedensmacht profilieren will.
Dass der deutsche Außenminister eine Konferenz boykottieren könnte, die seine Kabinettschefin initiiert hat, war eine absurde Vorstellung, und darum korrigierte sich Westerwelle auch noch vor Silvester. Es war sein bisher einziger großer Fehler. In London sollte doch von Beginn an eben jener »breite Ansatz« verfolgt werden, den Westerwelle lauthals fordert: Korruptionsbekämpfung, gute Regierungsführung, Kampf dem Drogenhandel, Polizei- und Militäraufbau und die Förderung der Landwirtschaft. Angela Merkel ist schließlich auf die Idee mit der Konferenz nicht zuletzt verfallen, um sich aus der Debatte um den deutschen Angriff in Kundus und die »kriegsähnlichen Zustände« dort zu befreien.
Ob das gelingen kann, hängt nun vor allem an Westerwelle. Die Kanzlerin wird kommende Woche in einer Regierungserklärung noch einmal vor heimischem Publikum für das deutsche Engagement in Afghanistan werben. Aber in London steht dann Westerwelle für Deutschland – am Tag 92 seiner Amtszeit, der sein schwerster werden wird.
Es ist eine paradoxe Botschaft, die er dort vertreten muss. Wir müssen stärker reingehen, damit wir früher rausgehen können! Wir müssen mehr helfen, damit die Afghanen selbstständiger werden! Schafft er das – die Ernüchterung über das in Afghanistan Erreichbare darzustellen und doch zu einer (letzten) großen Anstrengung zu motivieren? Auf seiner Arabienreise zeigte er Geistesgegenwart, als er kurzfristig in den Jemen abzweigte und dort sehr herzhaft den Präsidenten aufforderte, den Kampf gegen den Terror nicht nur mit Bomben, sondern auch durch Entwicklung und Korruptionsbekämpfung zu führen.
Ach ja, noch etwas: Das Thema »erster schwuler Außenminister der Welt« ist durch. In der Türkei: Kein Kommentar. Saudi-Arabien: Nobles Schweigen des Königs. Auf der Asienreise war Westerwelles Lebenspartner Michael Mronz dann mit dabei. Die beiden kamen gemeinsam die Gangway herunter. Alle taten so, als sei das die normalste Sache der Welt. Und so war es dann auch, wenigstens für diesen einen Moment.