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Eine demokratische Revolution in der Türkei

In der Türkei spielt sich ein Umsturz ab – aber diesmal ist es eine Coup des Volkes für mehr Demokratie. Nichts zeigt den Abschied vom Autoritarismus so deutlich wie diese Nachricht: Nur einen Tag nach dem überwältigenden Mehrhheitsvotum für die Verfassungsreform hat eine breite Koalition von Befürworten und Gegnern des Referendums Klagen eingereicht – gegen die überlebenden Generäle des Putsches von 1980. Nun wird der greise Putschist Kenan Evren sich vor Gericht für die Menschenrechtsverletzungen der achtziger Jahre verantworten müssen, was bisher durch einen speziellen Verfassungsartikel verhindert wurde. Künstler, Intellektuelle, Kommunisten, Kurden machen sich gemeinsam die Möglichkeit zunutze, die ungesühnten Verbrechen der Militärjunta zu verfolgen.
Und es sind ausgerechnet die von ihnen früher oft verdächtigten islamischen Konservativen von Erdogans AKP, die ihnen durch das Referendum zu diesem Recht verholfen haben.

Ist das Land weiter gespalten, wie manche Kommentatoren behaupten? So einfach ist es nicht. Erdogan hat es geschafft, die Wählerbasis seiner Partei bei dem Referendum enorm zu verbreitern. Die meisten liberalen Intellektuellen haben ihn unterstützt, auch wenn viele sagten „Ja, aber es ist nicht genug“ (so ihr Slogan). Zugleich hat er eine große Gruppe der Ultranationalisten von der MHP an sich binden können, obwohl deren Führer zum Boykott aufgerufen hatten. Die MHP steht vor dem Aus.

Die Kemalisten von der CHP haben sich blamiert. Außer einem „Nein“ hatten sie nichts zu bieten – eine eigene Vision für eine moderne Türkei fehlte völlig. Zum Sinnbild der Unfähigkeit der einst staatstragenden Partei wurde die peinliche Tatsache, dass der Parteiführer Kilicdaroglu selber nicht wählen konnte, weil er im Istanbuler Wählerverzeichnis nicht registriert war. Im Wahlkampf hatte er sich dazu hinreißen lassen, antieuropäische Verschwörungstheorien über die Reformen zu verbreiten, weil die EU die Erdoganschen Reformen positiv bewertet hatte. Die CHP ist versucht, sich aus hilfloser Opposition gegen die AKP zur antieuropäischen Partei zu entwickeln.
Die CHP mutete ihren Wählern zu, ein Reformpaket, dass die Türkei verwestlicht und an Europa heranrückt, weil es  Arbeiter- und Minderheitenrechte stärkt und den Bürgern durch einen Ombudsmann mehr Einfluss bringt, abzulehnen – und zwar wegen alter Vorbehalte gegen die vermeintlichen „Islamisten“. Vorbehalte, die in den letzeten Jahren widerlegt worden sind durch die Demokratsierung und den ökonomischen Boom des Landes. Die alte Republikpartei ist zur Partei des Neins und des Verdachts geworden. Die Zukunft gestalten die anderen.
Und hier liegen vielleicht die wahren Probleme des türkischen Systems: Auf absehbare Zeit gibt es keine nennenswerte Opposition mehr für Erdogan, der für ein breites Spektrum wählbar geworden  ist – vom rechten Rand bis zur linksliberalen Elite. Erdogan könnte vesucht sein, seinen Erfolg – es ist schon die siebte gewonnene Wahl, seit er Bürgermeister von Istanbul wurde – für einen Wandel des Regierungssystems zu nutzen. Es wird bereits darüber debattiert, ob die Türkei mit einem Präsidialsystem nicht noch stabiler würde. Erdogan hat bewiesen, dass er in einem solchen System wahlen gewinnen könnte.

Aber die Türkei braucht heute nicht mehr Macht für die Exekutive und mehr Zentralismus, sondern im Gegenteil mehr Dezentralisierung und eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft. Es wird befürchtet, dass die Regierung durch die Reformen einen stärkeren Einfluss auf die Justiz bekommen wird. Die Gefahr ist real, denn die Verfassungsrichter werden künftig mehrheitlich vom Präsidenten benannt. Wenn Erdogan das Votum als Ermunterung verstehen sollte, einen autoritären Weg einzuschlagen, hin zu einem Putinismus alaturka, dann würde er seine breite Koalition verlieren.
Was die Kritiker allerdings beiseite schieben, ist die Tatsache, dasss auch das Parlament nun erstmals drei Verfassungsrichter berufen kann – und dass die türkische Justiz bisher alles andere als eine neutrale Macht war. Die Überpolitisierung der Justiz, die sich als letztes Bollwerk des Kemalismus sah und abweichende Meinungen unter den Vorwürfen des Islamismus und des Separatismus gnadenlos verfolgte, musste gebrochen werden.
Jetzt wird man allerdings sehen müssen, ob die Politisierung wirklich zugunsten einer unabhängigen Justiz beendet wird – oder nur umgekehrt wird durch eine nicht dem Militär, sondern der Regierung hörige Richterschaft.
Was mit den angeklagten Generälen geschehen wird, ist ein erster Test.
Wer dieser Tage mit türkischen Diplomaten und Spindoktoren der Regierungspartei redet, trifft auf ein neues türkisches Selbstbewußtsein. Nicht zu Unrecht: 30 Jahre nach dem Militärcoup hat das Land sich klar für die Demokratie stark gemacht. Dieser 12. September wird die Türkei nachhaltig verändern.
In Europa wird das viel zu zaghaft aufgenommen. Man spürt in den klammen europäischen Reaktionen die Angst, dass einem immer mehr Argumente gegen den Beitritt der Türkei aus der Hand geschlagen werden. Dabei sollte man das doch feiern: Das wichtigste islamisch geprägte Land in unserer Nachbarschaft hat sich unter großem Ringen und nach langer demokratischer Debatte eindeutig für den westlichen Weg entschieden.

 

Ein Türke wird Nato-Chefplaner

Der Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat den türkischen Diplomaten Hüseyin Diriöz zu seinem Stellvertreter ernannt.

Das ist aus verschiedenen Gründen pikant. Die Türken waren bekanntlich gegen Rasmussens Kandidatur, weil jener in der Karikaturen-Affäre sehr harsch aufgetreten war. Nun darf man in dieser Benennung ein Geschäft auf Gegenseitigkeit mit der Türkei vermuten. Rasmussen konnte nur Generalsekretär werden, weil er den Türken hohe Ämter versprochen hatte.

Diriöz ist ein Vertrauter von Abdullah Gül, und mithin ein AKP-Insider. Nun wird aber gerade das jüngere Verhalten der türkischen Regierung vis-à-vis Israel von manchen als Abwendung von dem alten West-Kurs gedeutet. Seit die Türkei auf den israelkritische Kurs eingeschwenkt ist – beginnend mit der Gaza-Offensive im letzten Jahr, hat ein Trommelfeuer des Türkenbashings begonnen.

Und nun bekommt ein türkischer Diplomat einen der höchsten Nato-Posten? Interessant.

Erdogan hat offenbar sehr gut gepokert bei der Bestallung von Rasmussen.

Und die Türkei hat wieder einmal gezeigt, dass nichts ohne sie läuft. Dass darüber in unseren Medien kaum berichtet wird, ist merkwürdig. Die deutsche Politik möchte sich über die Türkei am liebsten gar nicht mehr äußern. Ein schwaches Bild.

 

Türkei: Mit Öcalan reden? Israel: Mit Hamas reden?

In der Türkei kommt es wieder zu blutigen Gefechtigen zwischen der Armee und den kurdischen PKK-Milizen.
Hinter der Eskalation steht offenbar der inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan. Er hatte aus seiner Haft den Gesprächsprozess aufgekündigt. Erdogan deutet dies als Desinteresse der PKK an einer Versöhnung.
Die im türkischen Parlament vertretene Kurdenpartei BDP fordert nun aber einen direkten Dialog der Regierung mit Öcalan: Es könne nur eine Lösung des festgefahrenen Problems geben. Sie rief die Regierung erneut auf, offiziell und direkt mit dem inhaftierten Öcalan zu verhandeln.
„Wenn man einen Dialog mit der PKK und Öcalan aufnimmt“, so betonte BDP-Chef Selahattin Demirtas, „dann ist die BDP der Meinung, dass die Frage der Gewalt gelöst werden kann. Daran glauben wir fest.“

Erdogan lehnt das ab. Derselbe Staatsmann ist aber der Meinung, dass Israel sich mit der Hamas an einen Tisch setzen müsse. Im Grunde haben die israelische und die türkische Regierung bei allen Unterschieden sehr ähnliche Strategien zum Umgang mit den militanten Minderheiten auf jenen Gebieten, die umstritten sind. Netanjahu glaubt, die Palästinenser in der Westbank durch ökonomische Entwicklung befrieden zu können, so dass sie keinen vollwertigen Staat mehr anstreben werden (economic peace). Der Hamas soll so durch Förderung der Fatah das Wasser abgegraben werden. Erdogan hat das türkische System für die Kurden sehr geöffnet, um den Druck aus den Autonomiebestrebungen zu nehmen. Beide Regierungen wollen keinen Friedensprozess, bei dem sich beide Seiten Aug in Auge gegenübersitzen.

Vielleicht fahren sie ja deshalb im Moment so aufeinander ab, weil sie so ähnlich ticken?

 

Wie die Türkei über die Köpfe der Araber herrscht

Mit Kulturimperialismus! Durch den Erfolg türkischer Soap-Operas, die den arabischen Markt dominieren. Ein faszinierender Artikel in der New York Times zeigt, dass die Türkei auf allen Gebieten dabei ist, als Soft Power den Nahen Osten aufzurollen:

A Hamas leader not long ago was describing to a reporter plans by his government to start a network of Shariah-compliant TV entertainment when his teenage son arrived, complaining about Western music and his sister’s taste for the Turkish soap operas. Then the son’s cellphone rang.

The ring tone was the theme song from “Noor.”

If this seems like a triumph of Western values by proxy, the Muslim context remains the crucial bridge. “Ultimately, it’s all about local culture,” said Irfan Sahin, the chief executive of Dogan TV Holding, Turkey’s largest media company, which owns Kanal D. “People respond to what’s familiar.” By which he meant that regionalism, not globalism, sells, as demonstrated by the finale of “Noor” last summer on MBC, the Saudi-owned, Dubai-based, pan-Arab network that bought rebroadcast rights from Mr. Sahin. A record 85 million Arab viewers tuned in.

That said, during the last 20 years or so Turkey has ingested so much American culture that it has experienced a sexual revolution that most of the Arab world hasn’t, which accounts for why “Noor” triumphed in the Middle East but was considered too tame for most Turks. Even Mr. Sahin wonders, by contrast, whether the racier “Ask-i Memnu,” a smash with young Turks, threatens to offend Arabs unless it is heavily edited.

“You have to understand that there are people still living even in this city who say they only learned how to kiss or learned there is kissing involved in lovemaking by watching ‘Noor,’ ” explained Sengul Ozerkan, a professor of television here who conducts surveys of such things. “So you can imagine why the impact of that show was so great in the Arab world and why ‘Ask-i Memnu’ may be too much.

“But then, Turkey always acts like a kind of intermediary between the West and the Middle East,” she added.

Or as Sina Kologlu, the television critic for Milliyet, a Turkish daily, phrased it the other day: “U.S. cultural imperialism is finished. Years ago we took reruns of ‘Dallas’ and ‘The Young and the Restless.’ Now Turkish screenwriters have learned to adapt these shows to local themes with Muslim storylines, Turkish production values have improved, and Asians and Eastern Europeans are buying Turkish series, not American or Brazilian or Mexican ones. They get the same cheating and the children out of wedlock and the incestuous affairs but with a Turkish sauce on top.”

Ali Demirhan is a Turkish construction executive whose company in Dubai plans to help stage the next Turkish Emmys there. One recent morning he was at a sunny cafe in a mall here recalling a Turkish colleague who had just closed a deal with a Qatari sheik by rustling up three Turkish soap stars the sheik wanted to meet.

Mr. Demirhan sipped Turkish coffee while Arabs shopped nearby. “In the same way American culture changed our society, we’re changing Arab society,” he said, then paused for dramatic effect. “If America wants to make peace with the Middle East today, it must first make peace with Turkey.”

 

Türken müssen sich für Juden stark machen

In einem sehr mutigen Editorial für die Jüdische Allgemeine segelt Bilkay Öney, SPD-Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus, hart am Wind:

„Die Regierungspartei AKP scheint zwei Dinge leider nicht voneinander trennen zu können: die außenpolitische Linie in ihrer Haltung zu Israel und die innenpolitischen Erfordernisse für die knapp drei Millionen Bürger türkischer Herkunft, die in der Bundesrepublik leben.

Die türkische Gemeinde bildet die größte Minderheitengruppe in Deutschland. Sie ist gleichzeitig diejenige, die im Mittelpunkt der Integrationsdebatte steht und sich am häufigsten gegen Vorurteile wehren muss. Für dieses Anliegen ist die Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinschaft unerlässlich. Bisher hat diese die türkische Minderheit stets verteidigt und in Schutz genommen: beim Kopftuchstreit, beim Moscheenstreit und als in Mölln (1992) und Solingen (1993) die Häuser von Türken brannten. Nun brennt es politisch wieder. Denn jemand zündelt. Aber wo ist die türkische Stimme in Deutschland, die sich für jüdische Belange starkmacht?

(…) Tatsächlich finden sich Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen beiden Minderheiten – auch in religiösen Bräuchen; von der Beschneidung bis hin zum Gebot, kein Schweinefleisch zu essen. Immer, wenn türkische Jugendliche sich mit ihren palästinensischen Schulfreunden, ihren muslimischen Glaubensbrüdern, solidarisieren und judenfeindliche Äußerungen von sich geben, hilft es, sie auf diesen Vergleich hinzuweisen. Jugendliche kann man aufklären. Die Schule ist dafür ein geeigneter Ort und bietet auch genügend Anschauungsmaterial.

Noch erschreckender ist es, wenn judenfeindliche Äußerungen in intellektuellen Kreisen der deutsch-türkischen Community kursieren. Neulich etwa, als eine türkische Professorin monierte, die Juden würden nicht nur die Finanzwelt beherrschen, sondern auch die Wissenschaft. Alle Nobelpreisträger seien Juden, sagte sie, das könne doch kein Zufall sein. In solchen Momenten schnürt es mir die Kehle zu. Aufgewühlt stellte ich der Professorin Gegenfragen: Wie hätte wohl das türkische Militär reagiert, wenn sich israelische Friedensaktivisten gegen den Willen Ankaras auf den Weg in die kurdischen Gebiete gemacht hätten, um die PKK mit Hilfsladungen zu versorgen? Hätte das türkische Militär die Israelis passieren lassen?“

 

Noch ein Schiff für Gaza? Teheran und Ankara, die neue Achse?

Da braut sich etwas zusammen. Der Iranische Rote Halbmond hat angekündigt, zwei Schiffe zwecks „humanitärer Hilfe“ nach Gaza zu schicken. Eines soll mit Hilfsgütern, das andere mit „Experten“ bestückt sein. Freiwillige werden auf der Homepage des Roten Halbmonds noch gesucht.

Die Revolutionsgarden waren von der Idee so begeistert, dass sie gleich anboten, die Schiffe gegebenenfalls zu begleiten, falls der Revolutionsführer Khamenei dazu einen Befehl erteile.  (Dass die Garden sich mit ihren vergleichsweise leichten Booten besser nicht mit der israelischen Marine anlegen sollten, steht auf einen anderen Blatt. Andererseits: Noch ein paar Opfer wären dem Teheraner Regime ganz recht. Offenbar gibt es gegenüber der Türkei schon so etwas wie einen Märtyrer-Neid.)

Natürlich ist es kein Zufall, dass Teheran die Gaza-Angelegenheit jetzt hochspielt. Soeben sind Sanktionen gegen Iran beschlossen worden. Der UN-Sicherheitsrat hat mit 12 von 15 Stimmen dafür gestimmt. Betroffen werden vor allem Firmen der Revolutionsgardisten sein, die am Nuklearprogramm beteiligt sind. Auch Banken werden zusätzlich zum Ziel dieser vierten Runde von Sanktionen. Und ein Waffenembargo trifft die Streitkräfte hart. Man möchte so davon ablenken, dass Teheran noch nie so weitgehend politisch isoliert dastand wie heute. Russen und Chinesen tragen die Sanktionen nämlich mit. Um diese beiden an Bord zu haben, waren zwar keine „lähmenden (crippling) Sanktionen“ möglich. Aber die Amerikaner und die Europäer werden nun noch einmal bilateral drauflegen, um die Wirkung zu verstärken. Die Kosten für Irans Atomprogramm steigen enorm.

Da passt es gut, wenn das Regime sich als Schutzmacht der Palästinenser aufführt. Es beobachtet misstrauisch, wie die Türken sich in letzter Zeit zum Hauptsponsor der palästinensischen Sache – und auch des Schützlings der Iraner, der Hamas – aufschwingen. Natürlich will man sich von Ankara nicht den Schneid abkaufen lassen. Darum ist es gut möglich, dass die Boote tatsächlich auslaufen werden.

Es ist schon mal passiert. Im Dezember 2008 versuchte ein iranisches Schiff, die Blockade Gazas zu unterbrechen. Die Israelis haben es ohne Verluste von Menschenleben abgefangen. Dass es diesmal so friedlich abgehen wird, ist nicht ausgemacht.

Noch einen Grund gibt es, warum derzeit die Gaza-Aufregung so gut in die Teheraner Agenda passt: Dieser Tage jährt sich der Wahlbetrug Achmadinedschads und die blutige Niederschlagung des Volksaufstandes. Nur zu gerne würde das Teheraner Regime vergessen machen, was damals geschah: Die Herrschaft stellte sich gegen das Volk, und die Welt wurde Zeuge eines blutigen Putsches, bei dem Dutzende Menschen starben.

Das sollen wir vergessen, wenn ein iranisches Hilfsboot von Israelis aufgebracht wird. Aber die Welt ist nicht so vergesslich.

Zum Fürchten ist an dieser Farce der neue Wettlauf von Teheran und Ankara um die Volksmeinung in den islamischen Ländern. Erdogans Regierung hat gegen die Sanktionen gestimmt, genau wie Brasilien. Man bedenke: Der Libanon hingegen, in dem die (iranhörige) Hisbollah mitregiert, hat sich immerhin der Stimme enthalten. Die Türkei aber stimmt gegen die vitalen Interessen ihrer Nato-Partner.

Natürlich wird jetzt offiziell gesagt werden, es gebe keine Beziehung dieser Handlungsweise zum EU-Beitrittsprozess. Aber der Moment, in dem die EU in einer der wichtigsten Fragen außenpolitisch mehr mit China und Russland gemein hat als mit dem türkischen Aspiranten auf Mitgliedschaft, ist ein entscheidender auch für das Erweiterungsprojekt.

Mag sein, es ist am 9. Juni 2010 gestorben.

 

Fotos: Wie die israelischen Soldaten geschlagen wurden

Die größte türkische Tageszeitung Hürriyet hat Fotos von den Ereignissen an Bord der Marmara veröffentlicht. Man sieht auf ihnen, wie die israelischen Soldaten von den Gaza-Aktivisten geschlagen werden. Bei mindestens einem Soldaten sind blutende Wunden zu sehen. Ein anderer wird eine Treppe hinauf (oder hinunter) geschleppt. Zwei der Aktivisten warten mit Eisenstangen (die aussehen wie Schiffsausrüstung) auf die Soldaten.

Die Fotos zeigen klar, dass die Aktivisten an Bord entschlossen Gewalt anwendeten. Und da sie aus der Kamera eines Beteiligten stammen und in einer türkischen Zeitung veröffentlicht wurden, werden sie auch nicht als israelische Propaganda abgetan werden können.

 

Ein türkischer Blick auf das Gaza-Desater

Der außenpolitische Kopf der regierenden AKP, der Abgeordnete Suat Kiniklioglu, fordert heute in der Herald Tribune eine offzielle Verurteilung Israels durch die USA, eine Bestrafung der Verantwortlichen in Israel – und eine Aufhebung der Blockade Gazas.

Er macht auch klar, dass es hier um den Nahen Osten im Ganzen geht – und dass die Türkei bei dessen Gestaltung gehört zu werden erwartet.

Kiniklioglu ist in Amerika sehr gut verdrahtet. Eine Zeitlang hat er das Büro des German Marshall Fund in Ankara geleitet. Zitat:

„Along with many European nations, the U.N. and global public opinion, the U.S. has a moral responsibility to condemn Israel’s violence.

Turkey is closely monitoring the U.S. response. As Foreign Minister Ahmet Davutoglu noted, this is not a choice between Turkey and Israel. It is a choice between right and wrong, between legal and illegal.

In many respects, the Middle East is approaching an important crossroad. The United States will determine what sort of Middle East it will be dealing with in the future by its response to Israel’s actions. This could not be more urgent given the tension surrounding Iran’s nuclear program, the precarious situation in Iraq and the ongoing war in Afghanistan.

Furthermore, the flotilla raid has once again highlighted that the blockade on Gaza is no longer sustainable or justifiable.

Gaza today constitutes an open-air prison. According to Amnesty International, 1.4 million Palestinians are subject to a collective punishment whose aim is to suffocate the Gaza Strip.

Mass unemployment, extreme poverty and food price rises caused by shortages have left four in five Gazans dependent on humanitarian aid. That is why the Freedom Flotilla wanted to deliver aid. It also wanted to make a point of the need to allow Gazans to trade and interact with the rest of the world.

Turks have welcomed the Jews escaping from the Inquisition in Spain in 1492. Our diplomats have risked their lives to save European Jews from the Nazis. The Ottoman Empire and Turkey have traditionally been hospitable to Jews for centuries.

But we can no longer tolerate the brutal policies of the current Israeli government, especially if they cost the lives of our citizens. The conscience of neither the Turks, nor the international community, can any longer carry the burden of the Netanyahu government’s irresponsible policies. Both Israel and Turkey deserve better.“

Und aus einem weiteren Kommentar der New York Times sticht dieser Satz hervor: „One big winner in this week’s fiasco was the Iranian regime.“ Unter anderem dadurch, dass Israel der iranischen Propaganda in die Hände spielt – und seinen wichtigsten Verbündeten in der islamischen Welt, die Türkei, derart entfremdet. Allerdings hatte Erdogan schon seit der Operation „Gegossenes Blei“ Absetzungsbewegungen von Israel erkennen lassen. Aber warum muss man ihn auch noch antreiben?


 

Türkische Zeitung über Israel: „Hitlers Kinder“

In Reaktion auf den israelischen Angriff auf die „Mavi Marmara“ kriecht in der Türkei der Antisemitismus unbehelligt aus den Kellern. Die der regierenden AKP nahestehende Tageszeitung Yeni Safak („Neue Morgendämmerung“) macht heute mit der Zeile „Hitlers Kinder“ auf.

Damit sind die Israelis gemeint, die aus der Marmara ein „Konzentrationslager“ gemacht hätten. Juden als Nazis, das ist ein bekannter Topos der Entlastung und Relativierung: Holocaustleugnung light.