Lesezeichen
 

Amerikanisches Krisentagebuch X

Jetzt fängt die Krise an, auch ganz oben weh zu tun. New York Magazine hat die Restaurantkritikerin Gael Greene herausgeschmissen, weil man sich die ca.  50.000 Dollar Autorenhonorar im Jahr nicht mehr leisten kann. Gael Greene hat über 40 Jahre für das Blatt gearbeitet und die moderne amerikanische Verehrung des „Chefs“ (Meisterkochs) begründet. Sie ist ein Original, das als Vorlage für die Heldinnen von Sex and the City hätte dienen können. Sie war nicht nur eine begnadete Schreiberin über Gaumenfreuden, sondern auch allen anderen sinnlichen Genüssen zugetan. Die beiden großen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, hat sie einmal treffend beobachtet, sind „Küchenkunst und Klitoris“.

*

Der neue ökonomische Chef-Berater des kommenden Präsidenten, Larry Summers, war bis vor zwei Jahren Präsident von Harvard. Dort mußte der seinen Hut nehmen, weil er etwas Inkorrektes über die mangelnde Häufigkeit von Frauen in den harten Wissenschaften gesagt hatte. Nun kommt er zurück, und zwar mit Macht: Er wird ein entscheidender Einflüsterer des Präsidenten sein, und zwar beim wichtigsten Thema. Summers galt als ein wirtschaftlich eher liberaler Demokrat. Er war an der Deregulierung unter Clinton in den 90ern beteiligt. Unterdessen ist er nach links gerückt und hat die Ungleichheit als das große Thema entdeckt. Um zu erläutern, wie sich die amerikanische Gesellschaft auseinanderentwickelt hat, erzählt er gerne folgendes Gedankenexperiment:

 To undo the rise in income inequality since the late ’70s, every household in the top 1 percent of the distribution, which makes $1.7 million on average, would need to write a check for $800,000. This money could then be pooled and used to send out a $10,000 check to every household in the bottom 80 percent of the distribution, those making less than $120,000. Only then would the country be as economically equal as it was three decades ago.

(Jeder Haushalt aus dem oberen 1 Prozent (durchschnittlich 1,7 Mio $ Jahreseinkommen) müßte einen Scheck über 800.000 $ schreiben. Dann könnten die unteren 80% der Bevölkerung je 10.000 $ davon bekommen. Und dann wäre man bei der selben Einkommenverteilung, die vor dreißig Jahren herrschte.)

*

Harvard hat einen Einstellungsstopp in der Fakultät für Künste und Wissenschaften verkündet. Harvard finanziert sich zum wesentlichen Teil (ausser durch Gebühren von ca. 50.000 $ pro akademischem Jahr) durch seine Stiftung. Letztes Jahr betrug das Stiftungsvermögen 36,9 Mrd. $. Nun sind allerdings bei amerikanischen Universitäten bis zu 35 % des Stiftunsgvermögens in riskanten Investments angelegt – Hedge Fonds, Immobilienfonds, Risikokapitalanlagen und Aktien. Und diese Werte sind rapide gefallen. Die Universitäten versuchen, einige dieser Werte zu verkaufen, doch zur Zeit gibt es keinen Markt dafür. Das nächste Jahr wird hart, selbst für Harvard.

*

Das Paradox der jetzigen Lage: Amerika hat sich selbst und die Welt durch einen Zusammenbruch von Verantwortlichkeit auf allen Ebenen des (Witschafts-)Lebens in die Krise gerissen: Menschen, die dazu niemals ausreichende Mittel hatten, haben Häuser gekauft; andere Menschen haben ihnen sehenden Auges Kredite gegeben, die niemals eine Chance hatten, zurückgezahlt zu werden; wieder andere Menschen haben diese Schulden in attraktive Obligationen verwandelt, mit denen wiederum andere Menschen weltweit Handel trieben; wieder andere Menschen haben diese Schrottpapiere bewertet als seien sie bombensicher, um damit Geld zu machen; und schließlich haben wieder andere diese Papiere gekauft und damit spekuliert, als käme es nicht darauf an, dass der ganzen Wertschöpfungskette kein einziger Wert zugrunde lag. Und nachdem dieses Pyramidenspiel der Unverantwortlichkeit aufgeflogen ist, erwartet Amerika erstens, dass die Welt den Schaden finanziert, indem sie weiter Dollars kauft. Und zweitens hat die neue Regierung keine Wahl, als zu versuchen, den Kredit wieder zum Laufen zu bringen – in anderen Worten: die Leute zum Leichtsinn zu verführen. Warum macht mich das nervös?

 

Muslimischer Kreationist lobt Essay-Preis aus: Widerlegt Darwin!

Radikale Muslime wollen die Leugnung der Evolution nicht länger radikalen Christianisten überlassen. Der türkisch-muslimische Kreationist Harun Yahya lobt auf seiner Website einen Essay-Wettbewerb zur Widerlegung Darwins aus.

Als Preis winken 64.000 Dollar.

 

Screenshot vom 25. November, J. Lau

Harun Yahya pflegt einen Kult um seine flamboyante Person.

Harun Yahya   Foto: Website

Doch so schrill das alles anmutet: Der Mann ist alles andere als harmlos.  Er ist auch durch hanebüchene Verschwörungstheorien über die Kooperation der „radikalen Zionisten“ beim Holocaust notorisch geworden.

(Tom Heneghan weist auf seinem excellenten Faithworld-Blog bei Reuters auf diesen Wettbewerb hin.)

 

Die erste saudische Girl-Band…

…heißt AccoLade, und hier kann man ihren Song hören. 

Mehr dazu bei der NYT:

They cannot perform in public. They cannot pose for album cover photographs. Even their jam sessions are secret, for fear of offending the religious authorities in this ultraconservative kingdom.

But the members of Saudi Arabia’s first all-girl rock band, the Accolade, are clearly not afraid of taboos.

The band’s first single, “Pinocchio,” has become an underground hit here, with hundreds of young Saudis downloading the song from the group’s MySpace page. Now, the pioneering foursome, all of them college students, want to start playing regular gigs — inside private compounds, of course — and recording an album.

 

Evangelikaler Pastor: Mehr (ehelicher) Sex, bitte!

Hierzulande stellt man sich die Evangelikalen zu oft als verbissene Fundamentalisten vor, deren Leben sich um die wörtlich verstandene Bibel und die Widerlegung der Evolutionstheorie dreht. Sexualiät ist nur in Form von Gegnerschaft zur Schwulenehe und Abtreibung ein Thema, möchte man meinen. Stimmt nicht.

Ein texanischer Pastor einer evangelikalen „Mega-Church“ hat seine Schäfchen durch eine ungewöhnliche Initiative überrascht. Er hat ihnen im Sonntagsgottesdienst aufgegeben, eine Woche lang jeden Tag Sex mit ihren Ehepartnern zu haben, um die ehelichen Bande zu stärken:

This is not a gimmick or a publicity stunt, Mr. Young says. Just look at the sensuousness of the Song of Solomon, or Genesis: “two shall become one flesh,” or Corinthians: “do not deprive each other of sexual relations.”

“For some reason the church has not talked about it, but we need to,” he said, speaking by telephone Friday night on his way to South Africa for a mission trip. There is no shame in marital sex, he added, “God thought it up, it was his idea.”

Mehr hier.

 

Iran: Kampagne gegen „zionistische Spione“

In Iran gibt es zur Zeit eine regelrechte Kampagne gegen „zionistische Spione“. Reuters Indien berichtet über einen Staatsanwalt, der die Todesstrafe für drei iranische Staatsbürger  beantragen will, die derzeit als Spione angeklagt sind:

„The mission of this team was to assassinate, bomb and kill some of the country’s military scientists and also blow up the country’s military, missile and important strategic bases,“ ISNA news agency quoted Tehran prosecutor Saeed Mortazevi as saying.

Erst kürzlich war ein iranischer Geschäftsmann unter der gleichen Anklage hingerichtet worden.

Die Facebook-Gruppe für Hossein Derakhshan, dem man nach inoffiziellen Quellen Ähnliches vorwirft, ist hier.

 

David Ignatius: Free Hossein Derakhshan!

Einer der prominentesten Kommentatoren zur Aussenpolitik, David Ignatius von der Washington Post, legt sich für Hossein Derakhshan ins Zeug: 

„When Fareed Zakaria and I created PostGlobal in June 2006, one of the first people we asked to join our panel of global commentators was an Iranian blogger named Hossein Derakhshan. He was a natural choice–smart, outspoken, unpredictable, fearless. He already had a wide following among young Iranians, inside and outside Iran, and we wanted to share his views with a wider audience.

Derakhshan has been a lively member of the PostGlobal group–sometimes defending the Iranian regime, sometimes criticizing it. Anyone who wants to see the range of his views can go to his page on PostGlobal for a sample of his posts. He returned to Tehran a few weeks ago, after living mostly in Canada since 2000, and we were looking forward to seeing what this iconoclastic voice would say about his native country.

Last weekend we learned that Derakhshan has been arrested and accused of spying for Israel. He had traveled there in 2007, openly and publicly–writing about his experiences for his own weblog, „Editor: Myself.“ We fear that his real crime in the eyes of the Iranian authorities was that he dared to visit the Jewish state and write about its people as human beings–as opposed to the demons of Iranian official propaganda. He was traveling on a Canadian passport, which unlike that of Iran doesn’t forbid contact with Israel.

This arrest will only deepen Iran’s isolation from the rest of the world. We live on a planet where people are increasingly free to travel, think, talk, and communicate via the Internet. It’s a global community in which millions of young Iranians feel part–we know that from the tens of thousands of Iranian blogs, and from the Iranian traffic we get at PostGlobal. Does the Iranian government really think that it can dam this tide of free-flowing information? Does it imagine that by arresting one of its most prominent young bloggers, it will create anything other than scorn, at home and abroad?

Hossein Derakhshan is part of the international network of thinkers and commentators that is symbolized by PostGlobal. We know that members of this network–commentators and readers alike–join us in protesting Derakhshan’s arrest and calling for his freedom.“

 

Noch eine dumme Fatwa: die Yoga-Fatwa

Der nationale Fatwa-Rat vom Malaysia hat Yoga für unislamisch erklärt. CNN zitiert eine Muslima, die seit 10 jahren Yoga praktiziert und voller Wut ist: „Diese Fatwa ist eine Schande für meinen Glauben.“ Auch die BBC hat einen jungen Muslim aufgespürt, der sich an die Fatwa nicht halten wird – und weiter Yogakurse und seine Moschee besuchen wird.  

In Südostasien tut sich etwas Beunruhigendes: Die religiösen Autoritäten verfallen immer mehr der Strategie, eine religiöse Reinheit durchzusetzen, und dies in traditionell religiös synkretistischen Gesellschaften. Es droht die Saudifizierung der Region, die für den Islam vielleicht noch die größten Hoffnungen birgt, mit der modernen Welt zu einem Arrangement zu kommen.

Über ähnliche Entwicklungen in Indonesien hatte ich hier bereits berichtet.

 

Warum Al-Kaida Angst vor Obama hat

Auf der Website von Newsweek schreibt der marokkanische Kollege Achmed Benchemsi, Herausgeber von TelQuel und Nichane, warum Ayman Al-Zawahiri so nervös ist angesichts des kommenden amerikanischen Präsidenten:

Al Qaeda and all its followers badly need to perpetuate Samuel Huntington’s „clash of civilizations“ paradigm. The West and Islam are deadly enemies, in the radicals‘ view. The more irreconcilable the former, the happier the latter. In this regard, the agenda of Bush and the neocons was a true blessing for the terrorists. Consider this: after 9/11 and the U.S. strike on Afghanistan, Al Qaeda was badly hit and its leaders were piteously hiding in caves. Later, by attacking Iraq for no valid reason–which caused, as a direct or indirect consequence, hundreds of thousands of deaths among innocent civilians–Bush’s administration provided Al Qaeda leaders with a new rationale. They reinvigorated, prospered and recruited hundreds, if not thousands, of brand-new adeptsfollowers, infused with a strong willingness for jihad. „War on terror“? If they could, they would just keep it on forever.

Al Qaeda’s true problem with Obama has indeed nothing to do with the color of his skin. By proposing to meet Iran’s Ahmadinejad without preconditions instead of just bombing him out, the American president-elect thinks outside of the confrontation box. The radicals just hate that. And above all, they hate the idea of the United States resuming the chase of Al Qaeda operatives in the mountains of the Pakistan-Afghanistan borders. He’s coming to them, how could they not react fiercely?

There is something else, which I witness everyday in the streets of Casablanca, where I live: Muslims tend to claim Obama as their own—because he’s black, because he comes from an oppressed minority, because his middle name is Hussein. I presume this holds true for all the nonradical Muslims (the vast majority of them) throughout the world. Not that they think Obama is a Muslim himself—he made clear that he was not. Yet he could have been. His father was. Anyway, this man looks like a „brother“ to many Muslims, which is indeed a good thing for the prospect of global peace.

Not surprisingly, Zawahiri’s video message targeted this specific point: „Obama is not a Muslim, he’s a renegade who abandoned his ancestor’s religion to embrace the ‚crusaders faith‘ and the ‚Zionists‘ ideology‘,“ Zawahiri suggests. The genuine message being: please don’t like him!

Well, too bad for them: we do. We will like him more, of course, if he keeps his promise of backing out of Iraq within 16 months and putting the Israeli-Palestinian peace process back on track. Meanwhile, let’s all of us, Muslims and Westerners, take advantage of the honeymoon period. And let’s enjoy the terrorists‘ embarrassment: it’s a rare occasion.

Hier ein Interview mit dem klugen und mutigen Benchemsi (frz), dessen Zeitschriften schon verboten wurden, weil er das Königshaus kritisiert hatte.

Hier sieht man Benchemsi (rechts) beim Betreten des Gerichts in Casablanca. Er mußte sich im letzten Jahr dort verantworten wegen „mangelnden Respekts vor dem Königshaus“.

Achmed Benchemsi  Foto: AFP – Abdelhek Senna