Lesezeichen
 

In eigener Sache

Danke für den Einsatz an alle, die sich hier Mühe geben, die Debatte konstruktiv (doofes Wort, ist ja nicht der Sozialismus hier) und offen zu halten. Ich muss schon sagen, dass es mir zunehmend schwer fällt, angesichts mancher Kommentare noch an den Sinn eines solchen Blogs zu glauben.

Aber dann wieder sind die Klickzahlen so gut, dass ich annehmen darf, dass viele mitlesen, die hier nicht herumtrollen.

Das Denunziatorische und Obsessive ist im Forum in letzter Zeit jedoch recht stark geworden. Nicht nur die üblichen Heinis und Erols machen da mit und werfen mit persönlichen Beleidigungen um sich. Warum kann Kritik nicht in aller Schärfe auf Unterstellungen und Anwürfe verzichten? Schwer demotivierend, das.

Zum Beispiel: Man reist etwa in Israel und der Westbank herum und redet mit Leuten, und berichtet dann davon in aller Widersprüchlichkeit. Schon muss man sich wieder von Schnellklickern und Copypaste-Meinungsführern vorhalten lassen, man habe eben keine Ahnung, weil man nicht die politisch korrekten Artikel auf Pajamas Media inhaliert hat oder nicht die richtigen Youtube-Videos von irgendwelchen radikalen Hirnis berücksichtigt. Da kann man schon denken, dass mancher sich eben durch Anschauung seine Weltsicht lieber nicht kaputt machen lassen will.

Kann es sein, dass mancher einfach nicht gestört werden will in seiner Meinungsfreude?

Ich setze mich als Autor hier bewußt, wenn auch nicht immer freiwillig, der Gefahr aus, öffentlich Irrtümer, Fehleinschätzungen, Peinlichkeiten zu begehen (ich sage nur: Mavi Marmara). Zum Reizthema Sarrazin habe ich auch schon hyperventilierenden Quatsch geschrieben (dass er etwa aus der Partei rausgeschmissen gehört…).  So isses nun mal. Sicher fallen vielen noch andere Dinge ein. Ein Blog ist nicht zum Rechthaben da, sondern zum Ausprobieren von Haltungen, Thesen, Meinungen.

Das setzt allerdings voraus, dass man nicht permanent niedergebügelt wird und nicht immer die gleichen Schlachten ablaufen.

Mich interessieren Gegenargumente, Fragen, andere Einschätzungen. Aber ich lasse mir hier nicht gerne eine finstere Agenda andichten. Wer das tun will, wende sich bitte an “Nürnberg 2.0″ oder ähnliche Seiten. Da gibt es genügend Gleichgesinnte, es könnte sehr gemütlich werden.

Da ich dieses Forum bis auf weiteres offen lassen möchte – auch wenn ich zur Zeit wieder einmal schwer genervt bin – werde ich kommentarlos alles löschen, was ich einfach zu blöde oder zu beleidigend finde.

 

Präsident Gauck (und ich)

Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mit Joachim Gauck im SWR über Zivilcourage heute debattiert. Damals war er an der Wahl zum Bundespräsidenten gescheitert. Nun wird es wohl doch noch reichen.

Ich freue mich darüber.

Von vielen wird Gauck unterdessen skeptisch gesehen, weil er Thilo Sarrazin „Mut“ attestiert hat. Ich halte bekanntlich wenig von Sarrazin, aber ich finde es dennoch falsch, Gauck nun abzulehnen, weil er sich mit Sarrazin in dem Punkt identifiziert, dass er gegen den (vermeintlichen) Mainstream Stellung bezieht.

Es wäre ungerecht, Gauck auf diese Äußerung zu reduzieren. In einem ganz wertfreien Sinn hat er schließlich Recht, dass Sarrazin Mut gezeigt hat. (Über Sinn und Unsinn seiner Thesen ist damit noch nichts gesagt.)
Wie dem auch sei, Joachim Gauck ist einer, mit dem man über solche Dinge streiten kann (anders als mit dem Sturkopf Sarrazin, der einfach nicht zuhört.)
Hier kann man sich davon überzeugen (wir waren uns erstaunlicher Weise über einen türkischen jungen Mann aus Kreuzberg völlig einig, den großartigen Aycan Demirel (ab 18:00)):

SWR Debatte Zivilcourage

 

 

Nach Wulffs Rücktritt: Was Angela Merkel den NSU-Opfern sagen muss

Christian Wulff, der am Freitag zurückgetreten ist,  hatte sich das Thema des inneren Zusammenhalts der Einwanderungsgesellschaft als Schwerpunkt ausgesucht. Er hatte mit seinem Satz über den Islam etwas Richtiges getroffen. Auch die Reaktion seiner Gegner, teilweise aus der eigenen Partei, ja aus dem Kabinett (Friedrich) hat das bewiesen.

Dass er nun erkannt hat (wenn auch erst durch die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens!), dass er nicht mehr der Richtige ist für den Job des Präsidenten und für diese Mission, ist zu begrüßen. Es ging einfach nicht mehr.

In seinem Statement sagte er:

Es war mir ein Herzensanliegen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Alle sollen sich zugehörig fühlen, die hier bei uns in Deutschland leben, eine Ausbildung machen, studieren und arbeiten, ganz gleich, welche Wurzeln sie haben. Wir gestalten unsere Zukunft gemeinsam.

Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft am besten entfalten und einen guten Beitrag zur europäischen Einigung leisten kann, wenn die Integration auch nach innen gelingt.

Wulff hätte gerne am kommenden Donnerstag die Trauerfeier für die Opfer der NSU-Mordserie geleitet. Nun wird die Bundeskanzlerin seine Aufgabe übernehmen und dort sprechen. Einfach wird das nicht. Aber es ist gut, dass die Kanzlerin selber in die Lücke geht und ein Zeichen setzt.

Es wird nämlich unterschätzt, wie erschüttert viele türkische Deutsche von dieser Mordserie, vom Versagen der Behörden und der Medien („Dönermorde“) bis heute sind. Schon die letzten Jahre einer zunehmend als Demütigung und Kujonierung empfundenen „Integrationsdebatte“ haben viel Schaden angerichtet. Der Erfolg des Buchs von Thilo Sarrazin wurde als eine Abstimmung gegen Türken an der Ladenkasse empfunden. Mehrere türkische Bekannte haben mir erzählt, dass sie in Folge dieser Debatte Freunde verloren haben. Es wurde nicht verstanden, dass sie Sarrazins Buch und seine Interventionen – von den „Kopftuchmädchen“ über die „Gemüsehändler“ bis zu den „belgischen Ackergäulen“ als persönliche, ehrabschneidende Angriffe empfanden. Und dass die breite Zustimmung der Bevölkerung die Sache erst recht schlimm machte.

Die Enthüllung über die Mordserie kam noch dazu. Ohnehin angeknackstes Vertrauen war nun bei vielen ganz dahin: Die Hinrichtung von Türken, wie sich nun herausstellte, durch Neonazis, war jahrelang den Opfern und ihrem mutmaßlichen „Milieu“ zugeschrieben worden. Im Begriff „Dönermorde“ schien der antitürkische Rassismus zu sich zu kommen.

Gerade bei gut ausgebildeten und erfolgreichen deutschen Türken trifft man derzeit auf eine Mischung aus enttäuschter Liebe zu ihrer Heimat, auf Wut, Trauer und allgemeine Aufgewühltheit, in einem Maß, dass einem Angst um dieses Land und seinen Zusammenhalt machen kann.

Wir verlieren gerade die Besten. Auch die, die nicht weggehen, schließen innerlich mit Deutschland ab.

Wulff wurde fast schon bis über das Maß des Möglichen vonseiten der türkischen Community verteidigt. Man sah ihm sehr viel nach wegen des einen richtigen Satzes über den Islam. Es gab sogar Verschwörungstheorien, dass Wulff wegen dieses Satzes gehen musste. Darauf reagiert nun der Zentralratsvorsitzende der Muslime, Ayman Mazyek, sehr besonnen:

Wir haben uneingeschränktes Vertrauen in unser Rechtssystem. Und jeder in unserem Lande muss sich diesem gegenüber auch im Bedarfsfall stellen, auch ein Bundespräsident.

Ich teile die Verschwörungstheorie einiger in unserer Commnunity ausdrücklich nicht, wonach Herr Wulff wegen seinen Aussagen zum Islam den Hut nehmen musste.

Wohl aber sollte man sich fragen, wie es denn zu diesen Theorien kommen kann. Warum fühlen sich manche so alleingelassen und so unerwünscht, dass ihnen derartige Theorien plausibel vorkommen?

Ob es etwas mit dem zunehmend enthemmten und verhetzten Klima in vielen Internetforen zu tun hat – auch hier bei mir kann man das ja immer wieder beobachten, wenn ich bestimmte „islamkritische“ Flashmobs wecke.

Die Bundeskanzlerin macht gerade selbst die Erfahrung. Sie hat zu einem „Zukunftsdialog“ per Website eingeladen – und das Ergebnis ist, dass das Thema Nummer eins in der Kategorie „Wie wollen wir zusammenleben?“ dieses hier wurde:

„Islamkritik wird pathologisiert und kriminalisiert!“ Das ist das Topthema der internetaktiven Deutschen. Es erhält auf der Website der Bundeskanzlerin die meisten Stimmen. Nummer zwei ist die Legalisierung von Cannabis. Also sollte man das vielleicht nicht zu ernst nehmen?

Doch. Darum bin ich auf den kommenden Donnerstag gespannt. Es ist gut, dass Angela Merkel nicht den Bundestagspräsidenten Lammert („Leitkultur“) oder – Gott bewahre – den Bundesratspräsidenten Seehofer („sträuben bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung in die Sozialsysteme“) am Donnerstag reden lässt.

Dies hier ist Chefsache. Hat die Kanzlerin endlich verstanden, dass etwas geschehen muss?

Die Opfer der Mordserie brauchen ein klares Signal, dass Deutschland mit ihnen fühlt, dass wir dem Eindruck entgegentreten werden, dass die Institutionen des Rechtsstaates nicht jeden Bürger gleichermaßen schützen, und schlicht: dass sie zu uns gehören.

Es geht um eine Geste der Empathie.

Die träge Mehrheit im Land braucht auch ein Signal: Es gibt Rassismus in diesem Land, meinetwegen kann man es auch „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennen.

Die Bundeskanzlerin muss auf die beschämende Tatsache reagieren, dass Politik, Medien und Sicherheitsorgane eine Dekade lang nach dem Motto „blame the victim“ vorgegangen sind. Etwas ist faul in diesem Land. Zeit es anzusprechen.

Helmut Kohl hat sich seinerzeit  geweigert, die Opfer des Solinger Brandanschlags von 1993 durch seine Anwesenheit bei der Trauerfeier zu ehren. Er denunzierte die Anteilnahme als „Beileidstourismus“. Merkel kommt nun ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt, wenn auch durch den Zufall des Wulffschen Rücktritts. Sie sollte das als Chance begreifen, nicht als lästige Pflicht.

 

Wilders weitet seinen Rassismus aus

Ich begrüße, dass Geert Wilders seinen Rassismus universalisiert. Zur Zeit sorgt eine Website seiner „Partei für die Freiheit“ für Aufsehen, die sich als „meldpunt“ (Meldestelle) für „Mittel- und Osteuropäer“ anbietet:

Heeft u overlast van MOE-landers? Of bent u uw baan kwijtgeraakt aan een Pool, Bulgaar, Roemeen of andere Midden- of Oost Europeaan? Wij willen het graag horen.

„Werden Sie von Mittel- und Osteuropäern belästigt? Oder haben Sie ihren Job an einen Polen, Bulgaren oder Rumänen oder andere Mittel- und Osteuropäer verloren? Wir wollen davon gerne hören.“

Nun haben 10 Botschafter betroffener Länder protestiert. Das ist verständlich, wird aber wenig Folgen haben, weil Mark Ruttes Minderheitsregierung von Wilders Duldung abhängt.

Interessant ist die Sache als Symptom der Transformation des Rechtsextremismus. Das Massaker von Utoya hat der islamophoben Ausrichtung gewisse politische Grenzen aufgezeigt. Die EU- und Euro-Krise eröffnet eine andere mögliche Front: Agitation gegen das Europa der 27 (und der 17). Aberwitzig ist es schon, dass Wilders unter dem Banner der „Freiheit“ gegen die Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der EU agitiert.

Für jeden wahren Wirtschaftsliberalen ist Freizügigkeit im Gegenteil doch ein Kernbestandteil eines wiedervereinigten Europas ohne Mauern. Ein Grund der Strukturprobleme des europäischen Wirtschaftsraums ist mangelnde Beweglichkeit des Faktors Arbeit (im Vergleich mit den USA, wo sich regionale Krisen durch Wanderung leichter ausgleichen können).

Wilders interessiert sich für solche Dinge überhaupt nicht. Er ist ein Protektionist mit rassistischem Einschlag. Die muslimischen Migranten drängten sich nach 9/11 und van Gogh als Hauptgegner auf. Aber die Agitation in diese Richtung stößt nun an ihre Grenzen.

Muslime bleiben zwar mit Sicherheit aus ideologischen Gründen die Hauptgruppe, an der er sich auch in Zukunft abarbeiten wird. Aber Osteuropäer sind ihm nun eben auch recht. Überall in West- und Nordeuropa sind tief verankerte Stereotypen über die „Ostmenschen“ mit ihrer „kriminellen Ader“ und ihrer „niederen Kultur“ immer noch leicht abrufbar.  Man betrachte die zitierten holländischen Headlines auf der Website: „Osteuropäer immer kriminieller“, „Schamlose Diebe“, „Könnt ihr nicht lieber zurückkehren“.

Weil die Regierung Rutte Wilders bisherige Agenda schon weitgehend übernommen hat, nutzt sich seine Anti-Islam-Pose zusehends ab. EU und Euro sind also die nächste Arena für seine Polemik. (Ein deutscher Erfolgsautor bereitet dem Vernehmen nach auch ein neues Buch auf diesem Feld vor.)

Ich begrüße diese Ausweitung der Kampfzone, weil damit deutlich wird, dass Wilders nicht das Problem der Muslime und ihrer Vertreter ist. Er ist eine Herausforderung für alle Europäer, denen etwas an der Freiheit liegt.

 

Wiedersehen mit Hebron

Fast fünf Jahre nach meinem letzten Besuch war ich wieder in Hebron, der zentralen Stadt im Westjordanland, südlich von Jerusalem. Die Stadt ist heute ruhig und so sicher wie lange nicht mehr. Der Preis dafür ist, dass Hebron aufgehört hat, als normale Stadt zu existieren. Sie ist zum Ort eines Kampfs um die historische, religiöse, mythische Wahrheit geworden. Hebron ist extrem, aber die Stadt ist auch ein Mikrokosmos der israelischen Besatzung.

Seit 5000 Jahren ist dieser Ort ununterbrochen bewohnt, er hat schon vieles gesehen. Wer sich von der Wahrheit des Satzes von Christopher Hitchens überzeugen will, „dass Religion alles vergiftet“, ist hier am richtigen Ort. Islam und Judentum beanspruchen das Erbe des Patriarchen, der hier nach dem Glauben beider Religionen begraben liegt – Abraham (nebest Sarah und Rachel).

Einige Bilder von meiner Reise: Diese zentrale Straße der Altstadt ist verwaist. Sie ist „steril“ im Jargon des israelischen Militärs, d.h. Palästinenser dürfen sich hier nicht aufhalten. (Mit dem Abkommen über die Palästinensische Autonomie wurde Hebron zweigeteilt in H1 und H2. H1 steht unter Kontrolle der PA, H2 – die historische Altstadt -, ist von jüdischen Siedlern bewohnt, die durch die Armee geschützt werden.)

Hebron, Stadtzentrum: "sterile Zone", also unzugänglich für Palästinenser

An dieser ebenfalls „sterilen“ Ecke hat sich während der „Zweiten Intifada“ ein  Selbstmordattentat ereignet. Man achte auf die Leuchtreklame.

Jehuda Shaul von der israelischen NGO „Breaking the Silence“ war Soldat in Hebron während der Terrorwelle der Zweiten Intifada. Heute engagiert er sich gegen die Besatzung. Er führt Gruppen durch Hebron, um die Realität der Okkupation aus der Sicht eines Ex-Soldaten zu erklären. Hier hält er ein Foto aus dem Jahr 1999, das zeigt, wie die verlassene Straße einmal in besseren Zeiten aussah.

Im Zentrum Hebrons: Armeeposten auf verlassenem Marktgebäude. Auf dem Plakat werden die historischen Ansprüche der Siedler formuliert.

Haus an der Shuhada Strasse in Hebron: Palästinenser dürfen das Haus nicht durch den versiegelten Vordereingang betreten. Die Familie im Obergeschoss hat einen Käfig an ihrem Balkon angebracht, um sich vor Steinwürfen der Siedler zu schützen. Auf den Plakaten unten und oben wird der Kampf um das historische Recht am Ort ausgetragen.

Sperrmauer in Hebron zwischen jüdischem und arabischem Teil mit Graffito des zerstörten Zweiten Jerusalemer Tempels.

Im arabisch kontrollierten Teil Hebrons: Israelis haben in H1 keinen Zutritt. Die IDF errichten je nach Sicherheitslage Checkpoints und Kontrollen und können den Zugang zu diesem Teil der Stadt abschnüren.

Am Ende dieser Straße in H1 ist der israelische Checkpoint, an dem die für die Palästinenser Hebrons erlaubte Zone endet.

Soldat auf Patrouille in H2, dem israelisch kontrollierten Teil Hebrons. Der Lieferwagen gehört Siedlern in der Stadt, die an die Soldaten kostenlose Süßigkeiten und Erfrischungen verteilen.

 

(Alle Fotos: J. Lau. Mehr zum Thema in meiner kommenden Reportage für das ZEIT-Magazin.)

 

 

Sderot, eine Stadt im Raketenhagel

Kobi Harush ist der Chef des Sicherheisdienstes von Sderot, der südisraelischen Stadt am nördlichen Ende des Gazastreifens. In einem früheren Leben war er der persönliche Fahrer Ariel Scharons. Er ist ein ziemlich harter Kunde, ein lakonischer Kettenraucher. Aber seine Zeit hier hat ihn sichtbar mitgenommen. Denn die Sicherheit, für die er zuständig ist, gibt es in Sderot nicht, außer in den ubiquitären Bunkern. Sie prägen das Stadtbild. Jede Bushaltestelle hat einen Bunker, jeder Kinderspielplatz. Jede Wohnung sowieso. Die Schulen haben alle schußsichere Verglasung.

Kobi Harush vor der Kulisse Sderots   

Wir treffen ihn zusammen mit Motti Numan, dem zuständigen IDF-Kommandeur der Region. Die beiden erwarten uns auf einem Hügel westlich der Stadt, von dem aus man weit in den Gaza-Streifen hinein schauen kann. Nur einen Kilometer weit entfernt verläuft die Grenze.

Sderot ist das einfachste Ziel für Raketen- und Granatenangriffe. Nachts ist die Stadt, in der etwa 20.000 Menschen leben, leicht mit bloßem Auge zu sehen. „Die schießen einfach in die Richtung des Lichts“, sagt Motti Numan. „Die Raketen sind sehr ungenau, aber es geht auch mehr um die Terrorwirkung als um konkrete Treffer.“ Ein Viertel der Bewohner hat Sderot verlassen. Übrig bleiben die, die es sich nicht leisten können, anderswo hinzuziehen.

Die Terrorwirkung des Raketenbeschusses hält weiterhin an. Kobi Harush spricht von 8.400 Angriffen auf Sderot in den letzten 10 Jahren. Besonders schlimm war es nach dem Rückzug aus Gaza, als Hunderte Raketen in einzelnen Monaten gezählt wurden. Heute ist Sderot ein vergessener Ort, selbst in Israel. Man hat sich daran gewöhnt, dass immer wieder Raketen die Stadt bedrohen. Es ist kaum noch eine Medlung wert. „Mit Ausnahme der Woche, in der die Shalit-Verhandlungen zuende gingen, haben wir keine Pause gehabt. Damals wollte die Hamas den Abschluss nicht gefährden. Seither geht es wieder auf niedrigem Niveau weiter.“

Der Bombenterror reicht, um die Stadt im steten posttraumatischen Zustand zu halten, bleibt aber unterhalb der Schwelle, ab der die Armee eingreifen und zurückschlagen müßte.  Die Vorwarnzeit für die Bewohner liegt bei 15 Sekunden vom Sirenenklang bis zum Einschlag. Kinder werden regelmäßig trainiert, innerhalb von 15 Sekunden von der Toilette in den Bunker zu rennen.

„Für uns gibt es kein Posttrauma“, sagt Kobi Harush, „nur Dauertrauma. Zwei Drittel der Kinder hier sind in einer Form therapeutischer Behandlung.“ Kein anderes Land würde sich so etwas gefallen lassen, sagt er resigniert. Dass der Beschuss nach dem Rückzug weiterging, spricht für ihn dafür, dass Hamas auch Sderot „befreien“ will, wie ganz Israel.

Hinter dem Hügel beginnt Gaza.                Fotos: J.Lau

Kobi erzählt von seinem palästinensischen Freund Said, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Während der israelischen Militäraktion „Gegossenes Blei“ hatte er sich gefragt, wie es Said wohl ginge. Er hatte noch eine Nummer, also rief er an. Said war am Telefon, er sei unversehrt. Weil er weder zu Hamas noch zu Fatah gehörte, ginge es ihm allerdings schlecht. Kobi veranstaltete unter Freunden eine Sammlung für Said, man übergab ihm das Geld am Checkpoint Eretz: „Wir sind früher in Gaza einkaufen gegangen, oder zum Baden an den herrlichen Strand – einen der schönsten Strände in der ganzen Region. Wieso machen die nichts draus? Das könnte ein Paradies sein.“

Motti Numan ergänzt verschmitzt, Juden hätten an den Strand längst ein Casino gebaut: „Aber diese Leute schießen mit Raketen sogar noch auf das Kraftwerk in Ashkelon, das Strom auch für sie erzeugt – weil es mit seinen Kaminen ein gutes Ziel abgibt. Das ist doch irre.“

 

Israel im „perfekten Sturm“ – ein Gespräch mit einem Oberst

Knapp eine Woche war ich in Israel und der Westbank unterwegs, um mit besatzungskritischen NGO’s, Ex-Soldaten, Offizieren und Intellektuellen über die Lage im Lande zu sprechen. Eine größere Reportage wird folgen.

Hier werde ich in loser Folge einige Notizen von meinen Gesprächen veröffentlichen. Den Anfang macht Colonel Avi Gil, den ich vorgestern treffen konnte. Dank an den IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar, (der eine eigene Story verdient hätte), dies ermöglicht zu haben.

Zwanzig Grad im südlichen Israel, ein herrlicher Sonnentag Anfang Februar, als wir die Kaserne im Herzen von Beer Sheva betreten – anderthalb Autostunden südlich von Tel Aviv. Avi Gil, ein drahtig–athletischer, nicht sehr großer Mann mit einem graugesprenkeltem Bürstenhaarschnitt, leitet von der Wüstenstadt aus das Südliche Kommando der Israelischen Streitkräfte.
Der Oberst – noch keine vierzig Jahre alt – hat seit seinem Eintritt in die Armee 1990 eine steile Karriere gemacht, die sicher noch nicht am Ende ist: Fallschirmjäger, Kompanieführer in der Offizierschule, Kommandeur der Spezialkräfte während der Operation „Defensive Shield“ in der West Bank (während der Terrorwelle der Zweiten Intifada), zwischenzeitlich Verbindungsoffizier zu den Marines in den USA, schließlich ab 2009 Brigadekommandeur in der West Bank – in anderen Worten: er war damals so etwas wie der heimliche Herrscher in den besetzten Gebieten.
Die Koordination der Armee mit der Palästinensischen Autonomiebehörde war dort sein tägliches Brot. Er habe über die Jahre gelernt, den meisten auf der anderen Seite zu trauen, sagt er. „Den meisten!“, betont er. Nach dem Blutbad der Zweiten Intifada habe es ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Stabilität gegeben, das bis heute bestehe. Er zeigt mir in seinem Büro eine Bildcollage, die man ihm zum Abschied aus der Westbank mitgegeben hat. Da sieht man Avi Gil Tee Trinken mit palästinensischen Sicherheitskräften, Politikern, Beamten – bei allen möglichen Gelegenheiten wie Einweihungen und sonstigen Feiern: „Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, ob so etwas möglich ist, hätte ich Sie für verrückt gehalten.“
Die Lage habe sich in der Westbank sehr verbessert, sowohl was die Sicherheit angeht – Israels Hauptsorge –, als auch die Lebensumstände der palästinensischen Bevölkerung. Avi Gil, der nur wenige Jahre zuvor Spezialkräfte geleitet hatte, die Terroristen in der Westbank jagten, hatte am Ende seiner Zeit als Kommandeur der Ephraim Brigade nahezu freundschaftliche Verhältnisse zu Offizieren der PA. Am Ende konnte er Städte in den besetzten Gebieten sogar ohne schutzsichere Weste besuchen: „Mein Konzept lautet: Du darfst die Realität nicht nur durch das Visier deines Gewehrs wahrnehmen.“

Ein sonniger Tag an der Grenze zu Gaza, in der Pufferzone vor der Sperrmauer. Von dem höher gelegenen Terrain gegenüber haben palästinenische Sniper immer wieder auf einen nahen Kibbutz geschossen.

 

Trotzdem ist er der Meinung, dass es noch nicht an der Zeit ist, sich aus der Westbank zurückzuziehen. Die PA bemühe sich, und sie unterstütze den Terror nicht mehr, „aber wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir die Sicherheit Israels in deren Hände legen können“.
Der Oberst erwähnt hier den Mord an der Familie Fogel in der Siedlung Itamar, der sich bald jähren wird. Die gesamte Familie, inklusive eines schlafenden Babys, war im März letzten Jahres von palästinensischen Terroristen ausgelöscht worden. Im Westen hat dieser Vorfall nicht viel Aufsehen erregt wegen des Arabischen Frühlings und Fukushima. In Israel wird es immer wieder erwähnt, wenn man über die Brüchigkeit der klage spricht. Gil erinnert sich noch mit Grauen an der Anruf, der ihm um halb Eins nachts aus dem Bett holte.
Und dann jedoch benutzt er ein erstaunliches Bild: „Wir müssen uns langsam vorwärts bewegen. Wir sind wie ein Paar nach einer schlimmen Krise. Wir müssen erst einmal wieder Vertrauen aufbauen.“
Ein Paar? Von Regierungspolitikern würde man diese Sprache nicht hören. Wie so oft, sind Soldaten pragmatischer und unideologischer als die Lautsprecher der großen Politik.
Gil ist dennoch sehr vorsichtig, trotz der Wandlungen, die er in seinem eigenen (Soldaten-)Leben mitgemacht hat. Und damit ist der Oberst, wie mir scheint, nicht weit entfernt von der Einstellung des Durchschnittsisraelis: Man will den Friedensprozess gerne vorwärts gehen sehen. Aber zur Zeit überwiegt (wieder) das Gefühl, in einer absolut unberechenbaren und hoch entflammbaren Lage zu sein. Nicht nur wegen der Eskalation mit Iran. Das gilt auch für die Lage in Israels Süden, dessen Sicherheit in den Händen von Avi Gil ist.
„Unsere Nachbarschaft ist mitten in einem perfekten Sturm. Die erste Böe dieses Sturms haben wir 2006 in Gaza erlebt, als Hamas in einem Coup die Macht übernahm.“ Hamas, sagt Gil, sei in einer Identitätskrise, die sich in einem Machtkampf zwischen der politischen Führung außerhalb Gazas und dem Kern der militärischen und politischen Führung in Gaza ausdrücke. Hamas müsse sich entscheiden, ob sie auf Erfolg bei Wahlen setze wie die Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien, oder weiter auf Dschihad. Zur Zeit sei die Führung unter Khaled Meschal außerhalb Gazas eindeutig geschwächt, auch durch den Verlust der syrischen Basis in Damaskus. Ismail Hanije, der politische Führer aus Gaza, sympathisiere mit der Idee, der neue große Repräsentant nach Außen zu werden, wobei ihm seine neuen Reisemöglichkeiten helfen. Dass Hamas sich wegen des Erfolgs des Muslimbrüder nach Ägypten orientiere, sei im Prinzip nicht schlecht für Israel, es könne auch zu einer größeren Berechenbarkeit führen.
Die militärische Führung unter Leuten wie Ahmad Jabari setze aber naturgemäß auch den Dschihad zur „Befreiung ganz Palästinas“ (worunter das heutige Israel inklusive Westbank verstanden wird). Aber man halte sich derzeit zurück, um in Ruhe die militärischen Kapazitäten wiederaufzubauen, die Israel in „Cast Lead“ vernichtet hat. Die florierende Tunnelwirtschaft mache das möglich. Unterdessen halten mit Duldung der Hamas konkurrierende Gruppen den militärischen Dschihad auf kleiner Flamme am Leben.
Ich frage den Oberst, ob Hamas denn tatsächlich die Kontrolle über alle militanten Gruppen habe: „Zu achtzig Prozent ist es direkte Kontrolle, zu zehn Prozent der Unwille zur Kontrolle und bei weiteren zehn Prozent keine Kontrolle durch Hamas.“ In jedem Fall sei Terror auf niedrigem Niveau – gerade so, dass eine israelische Gegenoperation zur Zeit unverhältnismäßig wirken würde – im Moment ideal für Hamas. Und für ihn bleibe Hamas als absolute Regierungsmacht die verantwortliche Adresse, ganz egal wer gerade die Raketen abschieße.
Der Oberst macht sich große Sorgen um den Sinai, der zum gesetzlosen Niemandsland wurde, seit Ägypten mit sich selbst beschäftigt ist. Fünf Beduinenstämme kontrollieren das gesamte Gebiet mit ungeheurer Brutalität (vor allem gegen afrikanische Migranten, die von dort nach Israel einwandern wollen.) Der Sinai sei heute ein ideales Aufmarschgebiet für Terrorgruppen, wie sich im letzten August bei den Attacken nahe Eilat gezeigt habe.
Israel werde alles tun, um den Friedensvertrag mit Ägypten am Leben zu erhalten. Aber die Herausforderung für Israel liege darin, dass „wir uns von der Situation einer Friedensgrenze hin bewegen zu einer Grenze mit einem Friedensarrangement zwischen zwei Staaten und Terroraktivitäten“. Die Lage derzeit sei paradox: „Es ist sehr viel friedlicher als vor wenigen Jahren, aber wenn nur eine Rakete einen Kindergarten trifft, dann halte ich es für undenkbar, dass wir hier einfach nur sitzen bleiben. Auch die permanente Aufrüstung in Gaza könne dazu führen, dass man handeln müsse, um eine ‚breakout capability‘ zu verhindern – eine Aufrüstung mit Waffen, die den Status Quo verändern, wie etwa Langstreckenraketen, die weite Teile Israels erreichen können. „So könnten wir uns – ohne den Willen zu einer weiteren militärischen Operation – in einer Lage vorfinden, die sie unvermeidlich macht.“ Ein amerikanischer Journalist hat ihn vor einiger Zeit gefragt, was er bevorzugen würde: Den Status Quo erhalten, militärisch eingreifen oder sich zurückziehen? Na was wohl, habe er geantwortet. „Ich habe Zwillinge, und ich hätte gerne, dass meine Jungs nach der Schule einfach ein Studium anfangen können wie junge Leute überall auf der Welt – dass sie nicht mit 18 gleich zum Militärdienst müssten. Aber danach sieht es leider nicht aus.“

 

Ägyptischer Schauspieler wegen Blasphemie verurteilt

Der Schauspieler Adel Imam, einer der bekanntesten Stars des ägyptischen Kinos, ist in absentia zu drei Monaten Haft verurteilt worden – wegen Beleidigung des Islams.
Mir ist er unvergesslich als Hauptdarsteller in der Verfilmung des Romans „Der Jakubian Bau“ von Alaa al Aswani. Da spielt er den melancholischen Playboy Zaki Pascha mit einer traurigen Grandezza. Adel Imam ist weit mehr als ein „Komiker“, wie es heute in den Meldungen heißt. Ich kann mir (noch) nicht vorstellen, dass der islamistische Anwalt mit dieser Sache durchkommt und auch die Revision gegen Imam gewinnt. Aber so viel ist klar: Die Kräfte, die auch in Ägypten zum Kulturkampf gegen alles Säkulare blasen, sehen sich durch das Wahlergebnis ermutigt.
Die Bundesregierung muss in ihrem Dialog mit den Herrschenden in Ägypten deutlich machen, dass sie den Angriff der Islamisten auf die Freiheit nicht hinnehmen wird.
Unter Mubarak hat man allzu oft zugesehen, wenn Freiheiten eingeschränkt wurden. Jetzt ist die Chance da, es anders zu halten.
Almasryalyoum schreibt:

The Arab world’s most famous comic actor, Adel Imam, has received a three-month jail sentence for insulting Islam in films and plays, a court document showed on Thursday.

Imam, who has frequently poked fun at authorities and politicians of all colors during a 40-year career, has one month to appeal the sentence and will remain out of jail until the appeal process is concluded.

The sentence Wednesday evening came weeks after Islamists swept most seats in parliamentary elections. The case was brought by Asran Mansour, a lawyer with ties to Islamist groups, and had languished in court for months, judicial sources said.

Mansour accused the actor of offending Islam and its symbols, including beards and the Jilbab, a loose-fitting garment worn by some Muslims, the Egyptian news portal Ahram Online reported.

Among films and plays targeted by the lawyer were the movie „Morgan Ahmed Morgan“ and the play „Al-Zaeem“ („The Leader“), the report said.

Hier ein Trailer für die Verfilmung des „Jakubian Baus“:

Yacoubian Building von MinoTunesien

 

Nächste Woche in Jerusalem!

In eigener Sache: Ich werde hier bis Ende nächster Woche wenig oder vielleicht auch gar nichts posten können, weil ich eine aufregende Reise nach Israel unternehme.
Ich bitte um Geduld – die Reise wird sicherlich auch für unsere Debatten hier einiges abwerfen.
Zur Einstimmung das Zitat eines meiner Säulenheiligen, des philosophierenden Hafenarbeiters Eric Hoffer, dessen Buch „The True Believer“  (“The opposite of the religious fanatic is not the fanatical atheist but the gentle cynic who cares not whether there is a god or not”) ich nur wärmstens empfehlen kann:
Hoffer schrieb 1968 über Israel:

“The Jews are a peculiar people: Things permitted to other nations are forbidden to the Jews.

Other nations drive out thousands, even millions of people, and there is no refugee problem. Russia did it. Poland and Czechoslovakia did it.Turkey threw out a million Greeks and Algeria a million Frenchmen. Indonesia threw out heaven knows how many Chinese–and no one says a word about refugees.

But in the case of Israel, the displaced Arabs have become eternal refugees. Everyone insists that Israel must take back every single Arab. Arnold Toynbee calls the displacement of the Arabs an atrocity greater than any committed by the Nazis. Other nations when victorious on the battlefield dictate peace terms. But when Israel is victorious it must sue for peace.

Everyone expects the Jews to be the only real Christians in this world.”

Daran ist immer noch sehr viel. (Auch wenn das mit den Flüchtlingen so ganz nicht mehr stimmt. Abbas und Olmert hatten einen Kompromiss verhandelt. Gescheitert sind ihre Verhandlungen nicht an der Flüchtlingsfrage.)

Ich werde mir in Tel Aviv, Jerusalem, Ramallah, Hebron und in der Nähe des Gaza-Streifens mit Freunden, NGO-Vertretern, Intellektuellen, IDF-Offizieren ein Bild von der Lage und von der Stimmung im Lande machen.

Bis bald!

 

Tunesiens Salafisten terrorisieren Intellektuelle

Letzte Woche sollte in Tunis der Prozeß gegen den Direktor des TV Senders Nessma beginnen,  der im letzten Herbst den Film „Persepolis“ von Marjane Satrapi ausgestrahlt hatte. Der Prozeß wurde schließlich verschoben, doch die Aufregung um den Casus Karoui hält an. Dem Angeklagten drohgen schlimmstenfalls 5 Jahre Haft wegen Blasphemie. Die gute Nachricht: Tausende von Tunesiern haben gegen diesen Prozeß demonstriert, in dem sie völlig zu Recht einen entscheidenden Moment erkennen, in dem sich das Schicksal des Landes entscheiden kann.
Es geht um die Frage, ob das neue Tunesien unter Führung der islamistischen „Ennahda“-Partei den aggressiven bärtigen Lumpen nachgibt, die sich bei den Salafisten sammeln und die Gesellschaft mit ihren Moralvorstellungen zu terrorisieren beginnen.

Wie wird sich die manchmal als „moderat“ beschriebene Ennahda gegenüber den extremistischen Salafisten verhalten? Wird sie eines Tages eine Linie ziehen und efinieren, wie sie es mit den Freiheiten hält? Oder wird sie wie bisher einen Schlingerkurs fahren, bei dem mal der Übereifer der Langbärtigen kritisiert, und dann wieder die gemeinsame Verurteilung der „Gottlosigkeit“ herausgekehrt wird?

 

Zwei säkulare Intellektuelle – der Journalist Zyed Krichen und der Professor Hamid Redissi – haben im Umfeld des Prozesses den Mob bärtiger junger Männer kennengelernt, der sich anschickt, die Herrschaft über die Straße und die Institutionen Tunesiens zu übernehmen. Die Szene wurde gefilmt (s. oben ab ca. 1:20), und sie ist beklemmend. Ein Spießrutenlauf zweier mutiger Männer, beschimpft von hasserfüllten Jungspunden, die nur auf eine Gelegenheit wareten, lozuschlagen.
Und so kommt es dann auch: Krichen wird von hinten auf den Kopf geschlagen, Redissi will ihm zu Hilfe kommen und wird von dem Angreifer mit einem brutalen Kopfstoß traktiert. Der Angreifer wurde zwar später zur Rechenschaft gezogen. Aber ein Ennahda-Sprecher verurteilte zugleich den Film, der den Anlass für die ganze Aufregung bot, als „eine Verletzung des Heiligen“.

Damit wird dem islamistischen Pöbel hintenrum dann doch wieder Recht gegeben.

Ich habe schon in meinem ersten Bericht zum Thema das Bild wiedergegeben, dass angeblich gotteslästerlich ist. Ich tue es hiermit wieder.

Die kleine Marjane rechtet mit Gott. Aus „Persepolis“        Screenshot: JL

Man kann den betreffenden Film, eines der großen Meisterwerke der Filmkunst der letzten Jahre, im Netz komplett sehen. Wer wirklich glaubt, die Szene mit dem kleinen Mädchen, das Gott zürnt, weil der ihren lieben Onkel nicht vor der Hinrichtung bewahrt hat, sei Gotteslästerung, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. (Hiob? Ayjjub? Ring a bell?)
Es handelt sich eindeutig um die Darstellung eines inneren Konflikts, in dem eine Heranwachsende mit einem Gott, den sie imaginiert, hadert. Hier wird Gott gezeigt, wie ein Kind ihn sich vorstellt, als gütigen alten Mann mit Rauschebart. Er sagt: Was soll ich machen, die Menschen hören ja nicht auf mich! Eine religiöse Grunderfahrung wird auf eine rührend-menschliche Weise dargestellt. Das Thema der kurzen Passage in dem Film ist die Theodizee, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels.
DAS gezeigt zu haben, soll Grund sein, einen TV-Direktor wegen Blasphemie zu verurteilen? Krank.

Ich hoffe, falls diese Farce weitergeht und es tatsächlich zum Prozess kommen sollte, dass dann unsere Regierung und die EU sich vehement für Nabil Karoui einsetzen. Man muss den Verantwortlichen in Ennahda deutlich machen, dass dieses Thema eine klare Haltung erfordert.

Ein Politbüro-Mitglied der Partei lässt sich von der New York Times wie folgt zitieren:

“It’s like a war of attrition,” said Said Ferjani, a member of Ennahda’s political bureau, who complained that his party was trapped between two extremes, the most ardently secular and the religious. “They’re trying not to let us focus on the real issues.”

Das ist nicht akzeptabel: Meinungs- und Pressefreiheit, und auch Religionsfreiheit (inklusive der Freheit von der Religion, wenn gewünscht) ist ein real issue.