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Warum Deutschland gegen Palästina stimmt

Heute morgen habe ich den bevorstehenden Showdown im Sicherheitsrat im Deutschlandradio kommentiert. Auszug:

Und damit droht, was Diplomaten fürchten wie der Teufel das Weihwasser: eine Stunde der Wahrheit. Wenn die Palästinenser es in New York zum Schwur kommen lassen, werden die Deutschen sie abblitzen lassen müssen, obwohl es das erklärte Ziel ihrer Politik ist, dass der Staat Palästina Wirklichkeit wird. Deutschland wird also gegen das Ziel seiner eigenen Nahostpolitik abstimmen, und seine Diplomaten werden Schwierigkeiten haben, dies der Welt zu erklären.

Dabei sind die Motive nicht so geheimnisvoll: Man will zum einen Amerika nicht alleine lassen auf der Bank der Neinsager – nicht so kurz nach der Libyen-Entscheidung schon wieder ein deutscher Sonderweg! Vor allem aber will Deutschland sich vor Israel stellen, das derzeit in völliger Isolation zu vereinsamen droht.

Deutschland kann in dieser Lage nur mit Israel stimmen, und das heißt hier: gegen eine Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der UNO. Auch die danach wahrscheinliche Kompromisslösung wird Deutschland verwerfen: eine Aufwertung des palästinensischen Status bei der Uno zum „Nichtmitgliedsstaat“. Israel akzeptiert auch dies nicht, erstens weil auch in dieser Formel das Wort Staat enthalten ist. Und zweitens weil es die Palästinenser in die Lage versetzen würde, vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israels Besatzung zu klagen.

Heimlich werden aber sowohl die Amerikaner wie die Deutschen denken: Was wir hier machen, ist nicht richtig. Niemand versteht das. Es waren doch die Israelis, die im letzten Jahr die Verhandlungen torpediert und die andere Seite damit erst auf diese Schiene gesetzt haben. Benjamin Netanjahu hatte Präsident Obama vor aller Welt gedemütigt, als er den Siedlungsbau wieder aufnehmen ließ. Und nun ist Obama gezwungen, Netanjahu zu stützen, obwohl er dessen Politik für schädlich hält. Merkel geht es nicht anders: Sie hat die Israelis angefleht und gedrängt, im eigenen Interesse mutige Schritte zum Frieden zu tun. Sonst würde man vom Arabischen Frühling überrollt. Vergebens.

Der Westen ist in Gefahr, den Rest an Glaubwürdigkeit zu verspielen, den er in der Region noch hat: Wenn Freiheit und Selbstbestimmung in Tunis, Tripolis und Kairo möglich sind, warum dann eigentlich nicht in Ramallah? …

Zum Nachhören klickst Du hier:

Palästina-Diplomatie

 

Gegen die Diskriminierung der Baha’i im Iran

Der Iran profitiert von den Unruhen in der arabischen Welt – zumindest indirekt, indem die Aufmerksamkeit von der Ungerechtigkeit abgelenkt wird, der Oppositionelle und Angehörige religiöser Minderheiten wie der Baha’i unterworfen sind. Hier eine aktuelle Aktion gegen das Vergessen:

 

Der verdiente Untergang der Rechtspopulisten von der „Freiheit“

Bei all der berechtigten Aufregung über eine gewisse Partei (?), die es erstmals ins Berliner Abgeordnetenhaus geschafft hat, sollte man nicht vergessen, wer es nicht geschafft hat: „die Freiheit“ des René Stadtkewitz.

Trotz Wilders, trotz Sarrazin-Hype, trotz 9/11- Auftritt von Stadtkewitz in New York, trotz Unterstützung durch die blonde Bestie aus Limburg und den schweizer SVP-Mann Oskar Freysinger beim „Großen Treffen der europäischen Freiheitskämpfer“ kurz vor der Wahl. Oder vielleicht gerade wegen der Unterstützung des letzteren? War es vielleicht die Anti-Europa-Lyrik des Herrn Freysinger, die dem Berliner Wähler den Rest gegeben hat? Ich zitiere:

Der Euro-Stier stand hoch gereckt,
Die Vorderhufe vorgestreckt,
Begattungsfreudig, fruchtbar stampfend
Und aus den roten Nüstern dampfend,
Im Geifermaul noch ein paar Kräuter,
Im Geiste schon den Griff ans Euter,
So stand das geile Euro-Tier
Und unter seinen Hufen … wir! (…)

Wie dem auch sei: Nicht einmal in Stadtkewitz‘ heimischen Revier Pankow hat er sich merklich über ein Prozent hinaus bewegen können. Damit kann man das Thema Rechtspopulismus in Deutschland (als parteipolitische Kraft) erst einmal begraben. Keine „incertitudes allemandes“ auf dieser Seite.

Deutschland hat eine offene Debatte mitten durch die Parteienwelt hindurch, wo andere Länder rechtspopulistische Parteien haben, die stellvertretend die Themen Einwanderung, Migration, Islam hochziehen. Und das ist besser so. In diesem Sinn: Dank an Herrn Buschkowsky.

Man kann nach diesem Wahlergebnis ein bisschen gelassener mit Phänomenen wie PI umgehen: deren Mobilisierungskraft ist und bleibt marginal. Sie haben vor allem die Funktion von Wutsammelbecken für den anonymen Mob. Man muss das wahrscheinlich beobachten als potenzielles Radikalisierungsmilieu – genau wie die islamistischen Websites. Aber politisch ist nichts zu befürchten.

Ich habe Herrn Stadtkewitz übrigens vor einigen Monaten getroffen. Damals dachten wir in der Redaktion, man sollte mal über die Chancen des deutschen Rechtspopulismus recherchieren (nachdem es hieß, eine „Sarrazin-Partei“ – was auch immer das wäre – könnte 18 Prozent holen). Wir haben den Artikel nie geschrieben, was auch an der Performance von René Stadtkewitz lag. Der Mann lohnte die Aufregung nicht. Allerdings ist er eine verachtenswerte Figur.

Eins ist mir aus dem Gespräch lebhaft in Erinnerung geblieben: Er hatte vor Jahren gegen die geplante Ahmadiyya-Moschee in Pankow agitiert und suggeriert, es handele sich um eine gefährliche Gruppe.

Ich fragte ihn also, ob er nicht wisse, dass die Ahmadiyyas in Pakistan schwerstens verfolgt werden von den wirklich gefährlichen radikalen Islamisten?

Ob er wisse, dass die erste Berliner Moschee von 1924 eine Ahmadiyya-Moschee war?

Ob er nicht wisse, dass die Ahmadiyya-Muslime unpolitisch seien, den Begriff Dschihad seit dem Auftreten ihres Propheten Mirza Ghulam Ahmad ablehnen, in dem übrigens manche Anhänger eine Wiederkehr Jesu manifestiert sehen?

Keine Antwort vom Freiheitskämpfer darauf. Nur glasige Blicke und der Kommentar: Es sei ja hier um einen Stellvertreterkampf gegen die freiheitsfeindliche Ideologie des Islam gegangen. Und da, so die Suggestion, ist dann eh alles erlaubt, und es kommt eben nicht so auf die Feinheiten an.

In Erinnerung an dieses Gespräch freut mich der Untergang der „Freiheit“ ungemein.

 

Der diplomatische Kampf um Palästina

In der ZEIT von heute (Nr. 38, S. 10) erkläre ich die Paradoxien, vor die Palästinas UN-Initiative den Westen stellt:

Kann man ein Veto gegen das Ziel seiner eigenen Politik einlegen? Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird die Welt nächste Woche erleben, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland – die entschiedensten Förderer einer Zweistaatenlösung – Palästina die Anerkennung verweigern, und zwar auf der Hauptbühne der internationalen Politik. Die Palästinenser wollen beim Sicherheitsrat die Vollmitgliedschaft in der Uno beantragen. Amerika hat bereits die Blockade angekündigt, und auch die Deutschen sind festgelegt, seit die Kanzlerin im April „einseitige Schritte“ in der Nahostfrage zurückgewiesen hat. Man kann den Palästinensern zwar die vollgültige Aufnahme verweigern, nicht aber die Anerkennung zweiter Klasse, die sie dann anstreben würden. Sie haben eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung sicher, die nötig ist, um analog zum Heiligen Stuhl (»Vatikanlösung«) als »Nichtmitgliedsstaat« aufgenommen zu werden. Auf die letzte Silbe kommt es ihnen dabei an: Staat.

150 Staaten für Palästina, und wir dagegen? Es droht der Offenbarungseid westlicher Nahostpolitik: Hat man nicht Freiheitswillen und Selbstbestimmungsstreben in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien gepriesen? Und nun ein schnödes Njet gegen einen Staat, dessen Aufbau wir uns paradoxer Weise eine Milliarde Euro pro Jahr kosten lassen?
Nahostpolitik nach dem Arabischen Frühling steht vor der nahezu unmöglichen Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Westens in der arabischen Welt wiederherzustellen – und zugleich Israels Isolation zu verhindern. Sonst droht die Freiheitsbewegung der Araber von der giftigen Freund-Feind-Logik des Nahostkonflikt aufgezehrt zu werden, von der sie sich zunächst erfolgreich frei gemacht hatte.
Der israelische Verteidigungsminister Barak sieht schon einen „Tsunami“ auf sein Land zukommen, wenn es die Selbstisolation weiter vorantreibt. Der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo, antiisraelische Demos in Jordanien und der Dauerstreit mit der Türkei führen vor Augen, dass Israel in diesen Wochen zu zerbrechen droht, was es sich über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat: diplomatische Beziehungen und verhaltene Freundschaft mit wichtigen Staaten des Nahen Ostens. Das ist auch eine Folge der Demokratisierung der Region: Außenpolitik kann im innenpolitischen Machtkampf ein Trumpf werden. Über Jahrzehnte hatte Israel in Ägypten ziemlich genau zwei Freunde – den Präsidenten und den Geheimdienstchef. Das reichte in autoritären Verhältnissen. Seit dem Sturz des Herrschers Hosni Mubarak im Februar aber ist Außenpolitik plötzlich Teil der Innenpolitik – und umgekehrt. Die ägyptische Regierung kann und will die Volksmeinung nicht mehr ignorieren. Das Verhältnis zu Israel ist die Sache aller Ägypter geworden.
Niemand weiß das besser als der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan, der Anfang der Woche in Kairo wie ein populärer arabischer Führer empfangen wurde. Erdogan versteht sich prächtig auf das Wechselspiel von Innen- und Außenpolitik. Daheim hält er mit Attacken gegen Israels Gazablockade und Siedlungspolitik die türkische Opposition in Schach. In der arabischen Welt wirbt er um die Herzen der Empörten und mehrt das Ansehen der Türkei.
Für Israel bedeutet die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik in Nahost, dass der alte Deal nicht mehr gilt: Hier der Kleinkrieg mit den Palästinensern, dort entspannte Beziehungen zu großen muslimischen Staaten wie Ägypten und der Türkei.
Damit bekommt die Initiative des Präsidenten Abbas – die man sträflicher Weise als einen Akt der Symbolpolitik unterschätzt hat – eine ungeheure Wucht. Der saudische Ex-Geheimdienstchef Turki Al-Faisal hat den Amerikanern soeben gedroht, wenn sie die Palästinenser im Stich ließen, würde sich das Königreich von der Allianz mit Amerika abwenden. Selbst die absolutistisch regierenden Saudis können sich nach den arabischen Revolten nicht mehr leisten, das Volk zu ignorieren.

Während ihn die arabischen Partner zum Handeln drängen, ist Obama allerdings schon im Wahlkampfmodus und damit ohne Spielraum. Die Republikaner warten nur auf die Gelegenheit, ihm Verrat an Israel vorwerfen zu können. Die israelische Regierung hat seinen Versuch, im vergangenen Jahr Verhandlungen zu initiieren, durch Sturheit in der Siedlungsfrage torpediert – und den Präsidenten damit vor aller Welt gedemütigt. Trotzdem muss er nun Netanjahu bei der Abwehr der palästinensischen Initiative unterstützen.
Dadurch rückt, wie schon bei der Libyen-Entscheidung, auch jetzt wieder Europa ins Ramnpenlicht. Nur zu gern würden die Außenpolitiker der EU den Nachweis erbringen, dass sie in der Lage sind, auch bei heiklen Fragen eine gemeinsame Position zu beziehen. Anders als zuletzt in Libyen, anders als bei den ersten Reaktionen auf die Umbrüche in Tunesien und Ägypten Anfang dieses Jahres.

Es gibt aber wenig Hoffnung, den Showdown noch zu verhindern. Außenminister Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton haben in Kairo, Amman und Jerusalem vergebens versucht, die Palästinenser zum Verzicht auf die Konfrontation im Sicherheitsrat zu drängen. In gewisser Weise wird die Sache für Europa sogar noch heikler, wenn Abbas doch noch einlenkt und nur eine »Mitgliedschaft light« anstrebt. Dann kann nämlich nicht der große Bruder Amerika mit seinem Veto die Sache regeln, sondern jeder Staat muß sich einzeln bekennen. Israel lehnt jede Form der Aufwertung Palästinas in New York ab. Es weiß dabei Amerikaner, Deutsche, Niederländer und Tschechen an seiner Seite. Aber Spanien, Frankreich, Polen, Portugal, Belgien, Schweden, Finnland und Luxemburg wären sogar bereit für eine vollständige Anerkennung Palästinas. Die Briten halten sich alles offen.
Damit droht, nur sechs Monate nach der Libyen-Entscheidung, die nächste außenpolitische Spaltung Europas. Nur die Deutschen könnten theoretisch die Europäer hinter einem Kompromißangebot vereinen – eine Art »Vatikanlösung« mit Abstrichen, die israelische Bedenken aufnimmt. Allerdings ist Deutschland erstens durch Merkels frühe Festlegung bei Israel im Wort. Und zweitens kann es sich nicht schon wieder gegen die Amerikaner positionieren. Der deutsche Sonderweg hat sich im libyschen Fall als Holzweg erwiesen. Jetzt also bloß nicht noch ein Signal, dass die Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik nicht mehr gilt! Dabei gilt die Verstocktheit der israelischen Regierung amerikanischen wie deutschen Diplomaten als gefährlich und selbstzerstörerisch. Man hält dennoch grummelnd zu Israel, nicht wegen, sondern trotz Netanjahu und Außenminister Lieberman – um den Schaden nicht größer zu machen. Doch die Gewißheit, dass es so nicht weiter gehen kann, wächst von Tag zu Tag.

An der Schwäche der Argumente gegen die palästinensische Initiative ist die heimliche Ambivalenz der Freunde Israels zu erkennen. Erstens die angebliche „Einseitigkeit“: Gibt es etwas Multilateraleres als eine Abstimmung der UN-Generalversammlung? Und sind umgekehrt israelische Siedlungen etwa keine „einseitige Maßnahmen“? Zweitens der Einwand, der Gang zur Uno könne »kein Ersatz« für direkte Verhandlungen sein. Er wäre überzeugend, wenn es noch einen Friedensprozeß gäbe. Gerade weil der klinisch tot ist und alle Wiederbelebungsversuche scheitern, geht Abbas diesen Weg. Drittens die drohende „Delegitimierung Israels“, wie die Regierung in Jerusalem seit Monaten warnt: Ein Palästina in den Grenzen von 1967 impliziert im Gegenteil logischer Weise den Staat Israel als Nachbarn.

Ein einziges Argument gegen die New Yorker Mutprobe der Palästinenser sticht wirklich: Den Tag danach kann niemand kontrollieren. Was, wenn die Menschen merken, dass die Anerkennung nichts in ihrem Leben verbessert? Was, wenn sie dann Abbas mitsamt der Autonomiebehörde hinwegfegen? Was, wenn sich ihre Lage sogar verschlechtert, weil der amerikanische Kongress Abbas die Mittel kürzt? Und was, wenn Israel sich weiter einigelt und Strafmaßnahmen ergreift? Und dann das Volk zu den Checkpoints marschiert?
Die Gefahr einer Intifada Nummer drei ist ernstzunehmen. Allerdings droht sie auch jetzt schon, unabhängig von der Abstimmung in der Uno, wie wir seit dem letzten Wochenende in Kairo wissen. Sie wäre wohl heute nicht auf Westjordanland und Gaza beschränkt. Nur Verhandlungen können sie verhindern.
Die Palästinenser haben den überkommenen Rahmen der Nahostverhandlungen seit Oslo und Madrid hinter sich gelassen, in dem ein paternalistisches „Quartett“ aus USA, EU, Uno und Rußland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte – zuletzt ohne Erfolg. Wer den Glauben an eine Zweistaatenlösung noch nicht aufgegeben haben, muß sich darauf einstellen.
Künftig wird ein (fast schon) Staat mit einem Staat verhandeln. Niemand kann den Palästinensern – nach so vielen Niederlagen – einen moralischen Sieg vor der Uno verwehren.Wie man es anstellt, dass er nicht in Gewalt und Chaos mündet, ist die große Frage. Es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind, und dies könnte ein solcher werden.

Mitarbeit: Martin Klingst, Matthias Krupa,
Michael Thumann

 

Für eine Republik der Außenseiter

Für das soeben erschienen Sonderheft des Merkur habe ich eine etwas antyzyklische Liebeserklärung an Amerika verfasst. Derzeit dominieren ja aus vielen guten Gründen die Abgesänge auf die Vereinigten Staaten – innere Zerrissenheit zwischen Tea Party und Obamas Versuchen einer politischen „Zentrierung“ der USA; Aufstieg neuer Mächte und geopolitische Schwächung durch Überdehnung; Niedergang des Modells einer Dienstleistungs- und Outsorcing-Wirtschaft. Alles leider richtig.

Nicht vergessen werden sollte aber, dass es politisch weltweit keine bewährte Alternative zu dem amerikanischen Erbe einer Verfassung der Freiheit gibt (siehe Europas eigene Krise).

Und daher fühlte ich mich veranlasst, Amerika als Republik der Außenseiter zu preisen. Ein Land, dass den Außenseiter als Heilsfigur und Helden der Selbstkritik hervorgebracht hat, das ist etwas Bemerkenswertes in der Geschichte.
Hier ein paar Absätze vom Schluß des Essays:

Thoreau, der Unausstehliche, der die Natur umarmte und die Menschen vor den Kopf stieß, war ein Virtuose der Fernstenliebe. Unfähig zu den alltäglichsten Freundlichkeiten, riskierte er für die Befreiung eines Sklaven seine Freiheit. Er nahm viele Wendungen der Alternativbewegung des folgen- den Jahrhunderts vorweg, vom gesinnungsmäßigen Vegetarismus bis zur Apologie des politischen Terrors des Abolitionisten John Brown. Wer wissen will, was vom Alternativbewusstsein bleibt in einer Welt ohne Alternativen, der muss auch heute noch Thoreau lesen, den Mystiker, die Nervensäge, das moralisch-politische Genie.
Aber in dem archetypischen Außenseiter der amerikanischen Literatur ist auch der Vordenker eines liberalen Individualismus zu entdecken, der er- staunlich aktuell klingt. Die Autorität der Regierung, sagt Thoreau am Ende seiner Rede Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, bedarf »der Vollmacht und Zustimmung der Regierten. Sie kann nur so weit Recht über meine Person und mein Eigentum haben, als ich es ihr konzediere. Der Fortschritt von einer absoluten zu einer begrenzten Monarchie, von einer begrenzten Monarchie zur Demokratie, ist Fortschritt hin zu wahrer Achtung für das Individuum. Ist die Demokratie, so wie wir sie kennen, die letzte mögliche Verbesserung der Regierungsform? Ist es nicht möglich, einen weiteren Schritt hin zur Anerkennung und Organisation der Menschenrechte zu nehmen? Es wird niemals einen freien und aufgeklärten Staat geben, so lange der Staat das Individuum nicht als eine höhere und unabhängige Macht anerkennt, von der all seine Macht und Autorität abgeleitet sind, und es entsprechend behandelt.«
Thoreau geht am Ende weit über die Begründung des Rechts auf zivilen Ungehorsam hinaus: »Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein und das Individuum respektvoll als Nachbarn zu behandeln; der es nicht als unvereinbar mit seiner Würde ansähe, wenn einige in Distanz zu ihm lebten, sich weder mit ihm einließen noch von ihm in Anspruch genommen würden, so lange sie die Pflichten von Nachbarn und Mitmenschen erfüllten. Ein Staat, der solche Früchte trüge und sie fallen ließe, sobald sie reif sind, würde den Weg für einen vollkommeneren und ruhmreicheren Staat bahnen, den ich mir auch vorstellen kann, aber noch nirgends gesehen habe.«
Das ist eine liberale Utopie von unerwarteter Seite. Ausgerechnet der Hypermoralist Thoreau schafft ein Gegenbild zum Konzept des Gouvernantenstaats, das in unseren Tagen die politischen Phantasien beflügelt: ein Staat, der die Leute in Ruhe lässt, weil er die individuelle Freiheit als Quelle seiner Legitimität anerkennt − eine Republik der Außenseiter.

Hier der (lange) Text.

 

Peinliches Eigenlob

Das Interview mit Ahmet Toprak läuft und läuft, was mich besonders freut, weil ich diesen Herrn mit seinem entschiedenen, aber konstruktiven Ton in der Debatte lieber an vorderer Stelle sähe als manche anderen Beiträger.

Soeben in meinen Blogstats:

So viele Leser können die wenigsten Printbeiträge aufweisen.

 

Mein unbewältigter 11. September

Einige Begegnungen in einem Jahrzehnt der Angst und des Irrsinns.

Es kommt alles wieder hoch in diesen Tagen.

Am 11. September war ich in der Türkei im Urlaub. Im Supermarkt bemerkte ich, dass fremde Leute miteinander bedeutungsvoll tuschelten. Etwas war passiert, und das Entsetzen war groß. Die Türken fühlten sich mitgemeint und angegriffen von den Attentätern, es gab keinerlei Schadenfreude, niemand machte „den Westen“ selbst verantwortlich (wie es später manche westliche Intellektuelle taten). Es gab sogar die Hoffnung, dass die Westler nun besser verstehen würden, mit wem man es zu tun hatte bei den radikalen Islamisten. Dass sich hier ein Konflikt anbahnen würde, den manche bald schon im Muster eines Zivilisationskonflikts zwischen dem Islam und dem Westen sehen würden – das schien in den ersten Tagen in der Türkei undenkbar.

***

Ein paar Wochen später war ich für eine Woche im Iran, in Teheran und Isfahan. Ich hatte lange verabredet, mit einem deutschen Künstler das Land zu bereisen, der dort die erste westliche Ausstellung seit der Revolution zeigen durfte, und zwar im Teheraner Museum für moderne Kunst, einer Errungenschaft der Schah-Zeit. Als ich in der Nacht des Sonntags, des 7. Oktober 2001, am Teheraner Flughafen in ein Taxi stieg, begrüßte mich der Fahrer mit den Worten: Sie haben gerade begonnen, Afghanistan zu bombardieren.
Es herrschte gefasste Ruhe in Teheran, viel mehr als im aufgeregten Berlin, wo gegen den Krieg demonstriert wurde. Die Chatami-Regierung hatte die Hoffnung, durch den Anti-Terror-Krieg aus der Isolation zu kommen. Das zerschlug sich schnell, als auch die vom Iran gesponserte Hisbollah auf die Liste der Organisationen geriet, die im Global War on Terror isoliert und besiegt werden sollten. Die Iraner sahen mit einer Genugtuung, die mich überraschte, die Vernichtung der Taliban kommen. „Wir hätten es irgendwann selber tun müssen„, sagte ein Teheraner zu meinem Erstaunen. „Wir leiden indirekt unter deren Regime, sehen Sie nur all die Flüchtlinge aus Afghanistan hier im Land – und all die Drogen, die hier eingeschmuggelt werden und die Jugend kaputt machen.
Damals schien es nicht denkbar, dass die Sache dazu führen würde, dass Iran einerseits viel mächtiger werden würde durch Amerikas Kriege, andererseits aber zu einem isolierten Paria-Staat wie später unter Ahmadineschad mit seinem Israel-Hass. Eine Frau in Teheran schockte mich mit diesem Kommentar zum Krieg in Afghanistan: „Ja, diese verdammten afghanischen Bauern sind amerikanische Bomben wert, aber für uns Iraner tut ihr nichts.“

***

Als ich aus dem Iran zurückgekehrt war, fragte mich unser Büroleiter Gunter Hofmann, der über sehr gute Verbindungen ins Schröder’sche Kanzleramt verfügte, ob ich mir vorstellen könnte, mal zu einer informellen Gesprächsrunde dorthin zu gehen. Es gehe um eine Art Brainstorming über das Thema des islamistischen Terrors, und schließlich hätte ich ja gerade auch Anschauung aus dem Iran und könnte vielleicht Interessantes über die Debatte dort beitragen. Ich sagte zu, wenn auch mit mulmigem Gefühl, war ich doch kein Experte. Ich stellte mir vor, dass da wahrscheinlich eine Reihe anderer Kollegen anwesend sein würden, die ebenfalls mehr Experten für die deutsche Öffentlichkeit als für den islamistischen Terror wären. Was sollte schon sein? Es wäre interessant zu sehen, wie das Kanzleramt nur Wochen nach den Anschlägen so tickte.
Steinmeiers Büroleiter Stephan Steinlein rief mich an, ob ich mal am Sonntagmorgen ins Kanzleramt kommen könnte – und übrigens, wen könnte man denn noch zum Thema Islamismus einladen?
Die Frage ließ mich stutzen, ich empfahl für den deutschen Kontext Werner Schiffauer wegen seiner Feldstudien über den „Kalifatstaat“ und Milli Görüs. Aha, interessant, bis Sonntag dann.
Sonntagmorgen im Kanzleramt wartete ich mit Professor Schiffauer darauf, dass man uns nach oben bringen würde. Außer uns war niemand da. Die anderen seien wohl sicher alle schon drinnen, vermuteten wir. Steinlein kam und führte uns in die oberste Etage, allerdings nicht in einen der üblichen Besprechungsräume, sondern in einen Bereich voller Beamter der Sicherheitsdienste. Ein U-förmiger Tisch war gedeckt, ihm gegenüber zwei Plätze, auf die Schiffauer und ich verwiesen wurden. Dann traten einige Herren aus einem anderen Raum hinzu, und mir wurde nun sehr mulmig: BND-Chef August Hanning, Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau, Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm und der Uwe-Karsten Heye, Schröders Sprecher, grüßten und setzten sich. Man warte noch auf Kanzleramtschef Steinmeier, dann könne das Hearing losgehen. Und da wurde mir klar: Es gab keine Kollegen, das hier war keine Hintergrundplauderrunde, es war ein Expertenhearing, und die Experten waren: Professor Schiffauer und ich. Zu dieser Zeit tagte regelmäßig die „Sicherheitslage“ der versammelten Dienste im Kanzleramt, weil man auch in Deutschland täglich mit Anschlägen rechnete.
Das hatten die Herren gerade hinter sich gebracht, nun sollte beim Lunch Experten-Input geliefert werden. Es kamen sehr gezielte Fragen zur radikal-islamischen Szene in Deutschland. Vor allem Steinmeier war sehr gut vorbereitet, wollte zum Beispiel wissen, wie sich die türkischen Islamisten von den arabischen Netzwerken unterscheiden, wo sie zusammenarbeiteten, wie militant sie jeweils seien, wo die ideologischen Unterschiede lägen etc. Hinter ihm an der Wand hing eine Karte Afghanistans mit zahlreichen Markierungen und Fähnchen drin.
Ich war dann doch recht froh, Professor Schiffauer an meiner Seite zu haben! Dennoch bin ich tausend Tode gestorben. Meine Eindrücke aus dem Iran konterte Hanning mit Sätzen, die so begannen: „Unser Mann in Isfahan berichtet aber, dass beim Freitagsgebet…“

Fromm saß die ganze Zeit mit mürrischem Blick dabei, rauchte eine nach der anderen und sagte nichts. Der hat dich durchschaut, dachte ich, der weiß, was das hier für ein Hochseilakt ist, der langweilt sich. Dann meldete er sich zu Wort: „Ich will jetzt mal bitte eines von den Herren wissen – sollen wir Milli Görüs weiter unter Druck setzen und verbieten oder nicht?“ Ich ließ Schiffauer den Vortritt. Er war für eine eher kooperative Linie, weil er die Gruppe nicht für gefährlich hielt. Ich plädierte für ein hartes Engagement, die Gruppe müsse sich nun entscheiden und klar von den politischen Zielen des Islamismus lossagen. Es wurde eine recht muntere Debatte, und ich habe nachher nie Klagen gehört. Aber als ich das Kanzleramt verließ, hatte ich ein taubes Gefühl, so wie ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Straße knapp einem Lastwagen entgangen ist, der ihn nur um Zentimeter verfehlt hat.
Kann es sein, dass die im Kanzleramt so absolut keine Ahnung hatten, wen sie fragen sollten bei dem Thema? Dass die von selber nicht einmal auf den Professor Schiffauer gekommen wären?
Es war wohl damals so. Die Politik war ganz und gar geschockt und überrascht von dem Thema, und ich war mitten hinein geraten in einen der Orientierungsversuche. Immerhin, Schaden habe ich offenbar nicht angerichtet.
Das war mein kurzes Leben als Kanzlerberater.
Später hat das Kanzleramt einen eigenen Experten eingestellt, einen erstklassigen Kenner Saudi-Arabiens und des Al-Qaida-Terrorismus. Ich bin bis heute dankbar für den Einblick dieses Sonntagmorgens, und ich würde ihn allen Verschwörungstheoretikern gerne gönnen.

***

Ende 2003 besuchte ich einige amerikanische Intellektuelle, um über die US-Debatte zum bevorstehenden Irakkrieg zu berichten. Mark Lilla, ein konservativer Kriegsskeptiker, den ich aus seinen Berliner Tagen kannte, machte mich auf seinen Freund Paul Berman aufmerksam, einen der führenden „linken Falken“. Paul verteidigte Bush gegen seine linken Freunde („Bush is not the enemy“) und er hatte gerade ein Buch geschrieben, in dem er erklärte, warum die Linke den Kampf gegen den Terrorismus der al-Qaida unterstützen musste – und warum sich hinter diesem Konflikt noch ein viel größerer verbarg.
Er leitete den neuen Totalitarismus der islamistischen Gefahr aus eindringlichen Analysen der Schriften von Sayid Qutb her, dem intellektuellen Vater der Muslimbruderschaft – und aus der Geschichte der Baath-Partei mit ihrem national-sozialistischen Programm zur Befreiung der Araber. Die Fusion dieser beiden Strömungen war in Pauls Sicht in Saddam Husseins Irak gegeben – Baathismus und Islamismus vereint im Kampf gegen den Westen. Gab es nicht Beweise für die Zusammenarbeit von Saddam und al-Qaida? Und selbst wenn nicht, stellten beide doch eine tödliche, islamofaschistische Gefahr dar, so schlimm wie im Kalten Krieg der Sowjetkommunismus.
Paul konnte den Beweis für diese Gefahr aus seinem Fenster in Brooklyn sehen, in Gestalt der Lücke, wo einst die Türme gewesen waren. Er war am 11. 9. zum Augenzeugen der Zerstörung des World Trade Center geworden. Wir trafen uns in einer Sushi-Bar in Manhattan und haben uns sofort gut verstanden. Paul erzählte von seinen kommunistischen Vorfahren, jüdische Einwanderer aus Russland, von seinem eigenen früheren Trotzkismus, von seiner allmählichen Gegnerschaft zur loony left, zur verzweifelten Michael-Moore-Linken. Ein linker, liberaler, anti-totalitärer Bush-Verächter und Kriegsbefürworter: Ich war begeistert. Auf dem Rückflug aus New York las ich sein druckfrisches Buch, das auch mich für den Irak-Krieg einnahm.

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Ich begann, mich für die irakische Diaspora zu interessieren. Ich las Kanan Makiyas Buch über Saddams Irak, Republic of Fear. Es schien Paul Bermans Sich zu bestätigen. Ich nahm zu Makiya Kontakt auf, der damals an der Brandeis University lehrte. Wir machten ein Interview über den geplanten Krieg, in dem ich kritische Fragen stellte, während er die Gründe für eine Intervention stark machte.
Er erwischte mich kalt mit dem Punkt, dass auch die Deutschen durch eine Invasion mit anschließendem nationbuilding in die Welt der zivilisierten Völker zurückgeholt worden waren. Ich fühlte mich mit meinen Bedenken gegenüber der Modernetauglichkeit der Iraker ein wenig rassistisch. Heute erscheint mir dieses Argument ein ziemlich billiger Trick.
Kanan Makiya ging später nach Bagdad zurück, nachdem die schlimmsten Zustände nach der Invasion dort vorbei waren. Doch nach den Plünderungen kamen die ethnischen Säuberungen und der religiöse Bürgerkrieg. Es wurde die Enttäuschung seines Lebens für den säkularen Schiiten aus der irakischen Elite. Dass diese Gesellschaft so kaputt war, hatte er aus seinem Exil nicht sehen wollen – oder können.
Er war in einer Gruppe tätig gewesen, die für das State Department an Nachkriegsplänen gearbeitet hatte. Er schickte mir Materialien aus diesen Sessions, damit ich einen Artikel darüber schreiben könnte. Ich habe das nicht getan, weil anderen Redakteuren mulmig dabei zumute war, dass man hier möglicher Weise einer Propagandainitiative der Bushies aufsitzen würde.
Heute bin ich froh darüber, denn bald erzählte mir Kanan Makiya, dass die ganze Arbeit dieser Gruppe für die Katz war, weil das Pentagon nichts von nationbuilding hören wollte. Es passte einfach nicht zu Rumsfelds Idee von einem „schlanken Krieg“ aus der Luft.
Kanan ist eine tragische Figur, wie so viele Exilanten, die davon träumen, ihr Land zurück zu bekommen und dann feststellen müssen, dass es dieses Land gar nicht mehr gibt. Man nimmt den bösen Führer weg, und zum Vorschein kommt eine zerstörte Gesellschaft. Das werden wir auch hier und da in den arabischen Revolutionen sicher wieder erleben, wenn auch – hoffentlich – nicht so extrem wie im Irak.

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Ende 2004 wurde ich von Jeffrey Gedmin, dem Direktor des Aspen-Institus in Berlin, zu einer Tagung über Iran auf einen Landsitz nahe Avignon eingeladen. Ich kam mit Jeffrey gut klar, weil ich damals die Positionen der „linken Falken“ teilte, die den Krieg im Irak unterstützten. Der wohl vernetzte Neocon Gedmin sah meinesgleichen wahrscheinlich als nützliche Idioten der Bush-Politik. Und er hatte nicht ganz unrecht damit. Gedmin hatte einige seiner Washingtoner Freunde nach Frankreich eingeflogen, zum Beispiel den EX-CIA- Mann Reuel Gerecht, einen Iran-Experten, der zuverlässig für einen harten Kurs gegenüber Teheran stand. Und harter Kurs, das hieß nun Krieg.
Stargast des Tages war John Bolton, der damals Staatssekretär für Rüstungskontrolle war. Er wurde eigens mit dem Hubschrauber eingeflogen. Schnell wurde mit deutlich, dass hier gar nicht mehr über die eventuelle Notwendigkeit eines Krieges gegen den Iran debattiert werden sollte. Es ging eigentlich nur noch darum, die Europäer an den ohnehin geplanten Krieg heranzuführen. Ich war einigermaßen geschockt zu bemerken, dass unsere Freunde schon fest entschlossen waren, nach dem Irak nun das nächste Glied der Achse des Bösen zu bombardieren. Nackter Irrsinn. Eine Hybris, die man durch keine Einwände mehr erreichen konnte. Zweifel wurden weggewischt. Einwände, die Machbarkeit betreffend – mit zwei bereits laufenden Kriegen in Afghanistan und Irak, und jeweils unmenschlichen Aufgaben, was das nationbuilding betraf – wurden schnöde abgewiesen durch Kommentare wie: „We have lots of planes to bomb them to hell.“ (Reuel Gerecht) Auf die erschrockene Frage meiner Frau, die für die Welt an dem Treffen teilnahm, wie man denn zugleich einen neuen Krieg nebst Stabilisierung in Afghanistan und Wiederaufbau im Irak bewältigen wolle, sagte Bolton: „We don’t do nationbuilding. It was a mistake to start it in the first place.
Was hätte man denn sonst im Irak machen sollen? Bolton: „You go in. You hit them hard. You leave. And then it’s: Good bye and Good luck with your country!“

Wir verließen Avignon mit dem Gefühl einer drohenden Katastrophe. Und so ist es dann ja auch gekommen. Im Jahr darauf ging der Aufstand im Irak los. Iran hatte sich damit als Ziel vorerst erledigt. Alle Energie wurde nun für den Surge gebraucht. Tausende amerikanischer Soldaten haben mit dem Leben dafür bezahlt, und sicher auch Zehntausende Iraker.

***

Im August 2006 traf ich Hazem Saghieh in London zum Interview. Er verantwortete damals die Meinungsseiten bei der liberalen panarabischen Tageszeitung Al Hayat und galt als einer der führenden arabischen Liberalen. Hazem war ein ursprünglich libanesischer Linker, der mit Entsetzen seit den Siebzigern den Aufstieg des Fundamentalismus in der arabischen Welt beobachtet hatte – und zugleich einer der schärfsten Kritiker von Autokraten wie Saddam Hussein oder Assad, die sich die Wut der arabischen Straße zunutze gemacht hatten.

Ich traf ihn kurz nachdem in London Pläne für große Attentate aufgedeckt worden waren, und wir sprachen über die ohnmächtige Wut der arabischen Jugend.
Hazem erzählte mir, dass er vor dem Irakkrieg zu einem Expertenhearing in einem regierungsnahen Thinktank eingeladen worden war. Man wollte dort über den Irakkrieg reden und sondieren, wie er wohl in der arabischen Welt aufgenommen werden würde.
Hazem warnte vor dem Krieg, obwohl seine Ablehnung von Saddams Terrorherrschaft außer Frage stand. Die Amerikaner, sagte er mir, erklärten sich damals die Lage in den arabischen Ländern analog zu der in Osteuropa im Kalten Krieg. Sie dachten, sie mussten nur die böse Herrschaft der Diktatoren loswerden, damit die gute, unterdrückte Gesellschaft sich endlich frei und demokratisch entfalten könnte.

„Aber so läuft es in unseren Gesellschaften in Nahen Osten nicht. Es gibt keine Zivilgesellschaft im Irak, die an die Stelle des bösen Herrschers treten kann. Osteuropa war lange während des Kalten Krieges in einer Art unglücklicher Liebe dem Westen und seinen Idealen verbunden. Bei uns ist das nicht so. Wir werden von der Tyrannei in den Bürgerkrieg übergehen.“
„Die haben mir zugehört da in Washington„, sagte Hazem, „höflich, aber ein wenig peinlich berührt. Ich wurde nie wieder eingeladen.“

Heute frage ich mich manchmal, was Hazem wohl über Tunesien, Ägypten und Libyen denkt, wo es nicht so finster zu kommen scheint, wie er zu Recht für den Irak befürchtet hatte.
Aber dort sind es ja auch Kräfte von innen, die die Tyrannen stürzen, wenn auch in Libyen mit äußerer Hilfe.
Was wohl Hazem zu alledem denkt? Er ist vor Jahren aus London zurück nach Beirut gegangen. Ich muss ihn mal wieder anrufen.

 

„Afghanistan war kein Irrtum“

War der Afghanistan-Krieg  ein Irrweg? Was sind die Kriterien, nach denen Deutschland sich in Auslandseinsätze begibt – oder nicht? Was sind die Folgen eines Nicht-Einsatzes?

Zusammen mit meinem Kollegen Peter Dausend habe ich den Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière zu Deutschlands Auslandseinsätzen und den Folgen des 11. September befragt. Aus der ZEIT Nr. 37 vom 8. September, S. 9

DIE ZEIT: Herr de Maizière, nach dem 11. September bestimmte die Idee vom Kampf der Kulturen die Politik des Westens. Jetzt befreien sich die Araber selbst. Verändert die arabische Rebellion unseren Blick auf den Islam?
Thomas de Maizière: Hoffentlich. Noch ist nicht entschieden, ob die Verhältnisse demokratisch und stabil bleiben. Aber es sieht positiv aus. Am 11. September sahen wir zunächst eine kriminelle, terroristische Bande, die den Namen des Islam missbrauchte. Das war die erste Phase. In der zweiten erlebten wir schon fast einen Kampf der Kulturen. Zehn Jahre danach haben wir ein aufgeklärteres Bild: Die islamische Welt ist viel differenzierter, als wir das in den ersten beiden Phasen wahrgenommen haben. Der Terrorismus bleibt zwar eine dauerhafte Herausforderung für die Welt. Wir erkennen aber nun die Vielfalt einer großen Weltreligion, von einem aufgeklärten bis zu einem menschenverachtenden Verständnis.
ZEIT: Ist die Welt sicherer nach dem Sturz der Tyrannen? Oder unsicherer?
de Maizière: (zögert lange) Es gab in der Geschichte demokratische Aufbrüche, die zu stabilen demokratischen Verhältnissen geführt haben, und solche, die zu neuen autoritären Regimen geführt haben, weil nur Personen ausgewechselt wurden. Ich habe gezögert, weil ich mich frage, was gehört eigentlich alles zur Sicherheit? Beherrschen von Bedrohungen? Vorhersehbarkeit? Freiheit?
ZEIT: Stabilität?
de Maizière: Stabilität ist kein Wert an sich. Veränderung kann kurzfristig mehr Unsicherheit bringen. Aber dauerhafte Stabilität braucht demokratische Strukturen.
ZEIT: Nordafrika liegt vor der europäischen Haustür, nicht vor der Amerikas. Haben wir erkannt, dass der Wandel dort unsere Sache ist?
de Maizière: Das ist begriffen, hoffe ich. Die erste Reaktion auf die Revolutionen war eine fast schon zynische: Hauptsache, es kommen keine Flüchtlinge durch – und deshalb hat Europa ein Interesse an Nordafrika. Jetzt blicken die Europäer aber anders dorthin. Sie haben hoffentlich gelernt, dass demokratische Stabilität im Norden Afrikas für alle gut ist. Nur sie verhindert am Ende auch Migrationsströme.
ZEIT: Nach dem 11. September haben sich alle deutschen Regierungen zum Afghanistan-Einsatz bekannt. Heute gehen selbst führende Politiker, die den Einsatz mit beschlossen haben, auf Distanz. War der Krieg doch ein Irrweg?
de Maizière: Nein, Afghanistan war kein Irrtum. Es ärgert mich, wenn heute diejenigen, die auch die Dimensionierung dieses Einsatzes verantwortet haben, plötzlich sagen, im Nachhinein war das alles nicht richtig – und uns dann die Folgen überlassen.
ZEIT: Aber auch Ihre Regierung rüstet doch nach zehn Jahren mehr und mehr die Erwartungen ab.
de Maizière: Der Einsatz dauert schon so lange wie Erster und Zweiter Weltkrieg zusammen. Die überzogenen Erwartungen an das Ziel des Einsatzes mussten zurückgeschraubt werden. Wir wollen nur noch erreichen, dass erstens von Afghanistan kein Terror exportiert werden kann und dass zweitens dort hinreichend stabile Sicherheitsstrukturen mit afghanischem Gesicht entstehen. Das ist das Ziel der neuen Strategie. Wir sind alle mit Illusionen da hineingegangen.
ZEIT: Was folgern Sie daraus?
de Maizière: Es kann sich rächen, der Versuchung nachzugeben, die Zustimmung der Bevölkerung zu einem Einsatz durch moralische Überhöhung zu bekommen. Kurzfristige Zustimmung wird dann womöglich mit langfristiger Abneigung erkauft. Zwar braucht man eine politisch-moralische Begründung für einen Einsatz. Aber man muss genauso den möglichen Blutzoll und die Kosten nüchtern abwägen.
ZEIT: Wird man dann aber nicht immer sagen: lieber ohne uns? Geht es ganz ohne Idealismus?
de Maizière: Aus Idealismus sollte man nie Soldaten in fremde Länder schicken, das muss ich so hart sagen. Man muss bereit sein, ein Risiko einzugehen. Man muss auch Zuversicht haben. Und ein militärischer Einsatz muss moralisch legitimiert sein. Wenn er nur aus moralischen Gründen stattfindet, ohne dass er pragmatisch, militär-fachlich, ökonomisch abgesichert ist, dann trägt er nicht.
ZEIT: Afghanistan soll seine Sicherheit selbstständig organisieren – für solch ein pragmatisches Ziel sollen deutsche Soldaten töten und sterben?
de Maizière: Mit einem solchen Ziel sind wir nicht nach Afghanistan gegangen, und es hätte als Begründung wohl auch nicht gereicht. Aber jetzt ist es die richtige Strategie, um rauszugehen. Wenn man einmal drin ist, darf man in dem Land kein Chaos hinterlassen. Ein Afghanistan, das seine Sicherheit selbst gewährleisten kann, macht es uns möglich, uns zurückzuziehen.
ZEIT: Wir haben Sie immer so verstanden, dass Sie allgemeingültige Kriterien für die künftige Beteiligung der Bundeswehr vorlegen wollten …
de Maizière: Keine Kriterien, sondern Maßstäbe. Es gibt keinen Kriterienkatalog, den ein Verteidigungsminister, eine Regierung abarbeiten kann, um zu entscheiden, ob wir uns beteiligen oder nicht. Die Maßstäbe heißen erstens, nationale Sicherheit, zweitens internationale Verantwortung und drittens – das muss hinzukommen – die Umstände: Sind wir durch andere Einsätze gebunden? Wie lang wird es dauern? Haben wir das geeignete Gerät? Wie ist das Ansehen Deutschlands in der betroffenen Weltregion?
ZEIT: Wir sind seit dem Kosovo-Krieg 1999 in Kampfeinsätzen. Die breite Ablehnung zeigt, dass die Politik deren Sinn nicht vermitteln kann.
de Maizière: Für die meisten Deutschen bedeutet Auslandseinsatz Kämpfe in Afghanistan. Sie übersehen die Vielzahl von Stabilisierungs- und Beobachtungsmissionen wie etwa im Sudan, Kongo oder vor der Küste Libanons. Wir müssen die Breite dieser Einsätze stärker ins Bewusstsein heben, dann wird auch die Zustimmung steigen. Afghanistan ist nicht die Folie künftiger Einsätze.
ZEIT: Also doch: nie wieder Afghanistan?
de Maizière: Nein. Aber der Sturz einer Regierung, das Besetzen eines Landes sind denkbar schwerste Eingriffe. Sie müssen besonders gut begründet, besonders gut rechtlich abgesichert werden und dürfen nie auf Dauer angelegt sein. Keine Regierung, das ist unsere Botschaft, darf sich darauf verlassen, dass immer andere für ihre Sicherheit sorgen. Fördern und fordern gilt auch hier. Das Land, das man durch einen Eingriff gefördert hat, muss gefordert werden, die Ursachen dieser Intervention selbst zu beseitigen.
ZEIT: Sie reden gern von Solidarität als Grundprinzip der internationalen Politik.
de Maizière: Lieber rede ich von Verantwortung.
ZEIT: Zur Solidarität in der Nato war die ­Bundesregierung aber in der Li­byen-Frage nicht fähig. Ist Schwarz-Gelb zu schwach,
um einem weiteren Auslands­einsatz zuzustimmen?
de Maizière: Mitnichten. Natürlich wären wir fähig gewesen, in Libyen dabei zu sein. Wir haben uns politisch anders entschieden.
ZEIT: Ohne Blick auf die öffentliche Meinung?
de Maizière: Vor allem aus militär-fachlichen Gründen, aus damaliger Sicht. Ich sage aber: Die Anfragen an Deutschland werden zunehmen. Und wir können nicht immer Nein sagen.
ZEIT: Sie haben gewarnt, es gebe auch »Folgen eines Nicht-Einsatzes«? War da Libyen gemeint?
de Maizière: Ich wollte auf etwas Grundsätz­liches hinaus: Auch die Entscheidung, nichts zu tun, kann politisch-moralische Folgen haben. Denken Sie nur an Ruanda oder Darfur. Das Nichteingreifen im Süden von Somalia führt heute dazu, dass mehr Menschen durch eine Hungersnot sterben. Mit einem Nicht-Einsatz ist man nicht auf der ethisch sicheren Seite.
ZEIT: Nicht-Einsätze sind leichter zu vermitteln, besonders in Krisenzeiten, in denen die Deutschen sich auf sich selbst zurückziehen möchten.
de Maizière: Ich glaube, es gibt zwei konkurrierende Mentalitäten hierzulande: Die einen sagen, wir sind in der Welt zu Hause, wir sind ein wichtiges Land in Europa, wir tragen Verantwortung für das Klima, das Finanzsystem und auch für die gemeinsame Sicherheit. Andere sagen, das ist uns zu komplex, zu gefährlich, zu teuer, das verstehen wir nicht. Wäre es nicht besser, wir zögen uns auf uns selbst zurück und steckten den Kopf in den Sand? Deutsche Innerlichkeit aber ist weder politisch noch moralisch noch ökonomisch eine Option. Unser Reichtum entsteht nicht durch Selbstgenügsamkeit. Wir zählen mit unseren 85 Millionen nicht viel, wenn wir unter uns bleiben. Ich erkläre das überall und kann über mangelnde Zustimmung nicht klagen.
ZEIT: Zusammen mit Frank-Walter Steinmeier sind Sie der populärste deutsche Politiker. Und das frei von Glamour, wo gestern alle Guttenberg zujubelten? Wie kommt’s?
de Maizière: Das weiß ich auch nicht, ist vielleicht auch nicht von Dauer. Dass harte Arbeit und Substanz sich auf Dauer auszahlen, darauf setze ich. Ich könnte aber eh nicht anders.
ZEIT: Vom 11. September bis zur heutigen Krise gesprungen: Sind Schulden und dubiose Finanzprodukte für die Stabilität des Westens gefährlicher als Terrorismus und schmutzige Bomben?
de Maizière: Das sind nun aber wirklich Äpfel und Birnen. Beides ist schlecht. Dass wir die demokratiegefährdende Wirkung von Schulden seit den siebziger Jahren unterschätzt haben, ist leider wahr.