Mursi in Berlin: Lehrjahre eines Antizionisten

Wenn ein ehemaliges Mitglied einer radikalen Gruppe in ein politisches Amt kommt, ist es unvermeidlich, dass seine Vergangenheit durchleuchtet wird. Joschka Fischer hätte Mohammed Mursi darüber sicher ein paar interessante Hinweise zu geben.

Ich bin der Meinung, entscheidender für die Beurteilung eines Politikers ist, was er heute sagt, als was er früher einmal gesagt hat. Noch wichtiger: Wie er heute handelt. Das ist der Prüfstein, und nicht so sehr, was er früher für Sprüche geklopft hat. Ob er etwa beim PLO-Kongress 1969 dabei war, wie der spätere deutsche Außenminister, wo doch damals vom „Endsieg“ der Palästinenser über Israel geträumt wurde. In Israel hat man ihm das gerne nachgesehen – er war jung und brauchte den Thrill, und später wurde er dennoch einer der verlässlichsten Freunde Israels in der deutschen Linken (wo es davon nicht gerade wimmelt).

Ich will die Parallele nicht zu sehr strapazieren, aber beim Anhören des Vortrags von Mursi vorgestern abend im Berliner Humboldt-Forum mußte ich doch sehr an Fischer denken. So sehr nämlich die von Memri dokumentierten Äußerungen Mursis die israelische Öffentlichkeit erregen – so cool bleibt einstweilen die israelische Politik und Diplomatie.

Nach dem Motto: Was erwartet Ihr denn, Leute! Der Typ ist Muslimbruder, und die sind imprägniert mit „Antizionismus“. Das ist nun mal seit Jahrzehnten ein Hauptgeschäftsgebiet dieser Truppe! Und zwar um so mehr, als seit Sadat, fortgeführt von Mubarak, der Kalte Frieden zwischen uns herrscht, inklusive einer ziemlich guten Sicherheitskooperation! Die Glaubwürdigkeitslücke zwischen inoffizieller Kooperation und öffentlicher Israelkritik in Ägypten haben die Brüder immer ausgenutzt. Sie haben Mubarak und die Seinen, aber auch die PA und Abbas als Geschöpfe Israels und der USA angeprangert und den „Widerstand“ (i.e. Hamas) glorifiziert. Genau das tut Mursi ja auch in den betreffenden Videos, und dann würzt er das Ganze noch mit einer Prise koranischem Antijudaismus, „Affen und Schweine“ inklusive.

So machen es halt die Religiösen. Nur soll niemand glauben, dass der säkulare Israelhass harmloser ist. Glauben Sie etwa, ein Mubarak hatte etwas für Israel übrig? Er hat immer wieder hetzen lassen, wenn es ihm passte. Das Ressentiment gegen den jüdischen Staat ist weit verbreitet. Mursi ist noicht mehr als Mainstream. Es ist eben nicht leicht, mehrere Kriege zu verlieren. (Deutsche kennen sich damit aus.) Der israelisch-arabische Konflikt: die eine Seite kann nicht glauben, dass sie gewonnen hat, während die andere Seite nicht zur Kenntnis nehmen kann, dass sie verloren hat. Und dann noch zuzusehen, wie ein kleines Land voller Einwanderer in Wohlstand und Freiheit und Pluralismus  lebt, obwohl die ganze Nachbarschaft ihm mehrfach schon das Lebenslicht auszublasen versucht hat: not an easy one.

What else is new?

Viel wichtiger für die israelische Sicht (und auch die deutsche) ist, dass Mursi beim letzten Gaza-Krieg sehr hilfreich war, Hamas und die anderen, noch radikaleren Gruppen, in die Schranken zu weisen. Er hat den Konflikt eben nicht angefacht, wie es die Iraner getan hätten, er hat vermittelt und Israel damit geholfen, die Sache zu begrenzen. Übrigens: Was die anti-schiitische Allianz angeht, die sich gegen Teheran und Damaskus aufbaut, war er auch sehr klar, Islamist hin oder her. Er ist zwar nach Teheran zum Treffen der Blockfreien gefahren, was schon einige Ängste schürte, aber dort hat er dann Ahmadinedschad und Assad den Kopf gewaschen, vor laufenden Kameras. Klar, das Kalkül geht auf einen Sieg der Muslimbrüder auch in Syrien gegen die herrschenden Alawiten, aber für Israel war es dennoch erleichternd zu sehen, dass Ägypten sich nicht in die „Achse des Widerstands“ einordnet.

Der israelische Botschafter in Berlin war bei Mursis Rede anwesend. Er saß gleich in der dritten Reihe und machte sich Notizen. Er ist ein Spezialist für die arabische Welt, hat dort viel Zeit verbracht und spricht die Sprache. Es muß ihm gefallen haben zu hören wie Mursi bei jeder Gelegenheit in Berlin auf seine Äußerungen von 2010 angesprochen wurde. Mursi war sehr genervt und sagte, er habe „heute schon fünf mal“ auf diese Fragen geantwortet.

Man konnte dann einen Mann erleben, der gerade Bekanntnschaft mit der Bürde seines Amtes macht. Die Zeit ist vorbei, als er ohne Konsequenzen Sprüche klopfen konnte. Er ist ohne das erhoffte Geld, nur beladen mit guten Ratschlägen, aus Berlin abgefahren. Er hat niemanden mit seinen Ausflüchten überzeugt, die Äußerungen seien „aus dem Kontext gerissen“ worden.

Sein Versuch einer Erklärung hat alles noch schlimmer gemacht. Kurz gesagt lief der darauf raus zu sagen, er habe nichts gegen Juden (schon aus religiösen Gründen, Buchbesitzer und so), seine Äußerungen hätten den „Zionisten“ gegolten. Er sprach weiter von den „Zionisten“ und ihren Verbrechen. Er verfing sich in Geschichten über bombardierte Schulen und angegriffene Züge, in denen Zivilisten zu Schaden kamen. Es sprach nicht von „israelischen Verbrechen“ oder von „Exzessen des israelischen Militärs“. Nein, Zionismus sagt er, weil er das Wort Israel nicht in den Mund nehmen will. Die Dämonisierung der „Zionismus“ als Ideologie, die aus harmlosen Juden Verbrecher macht, ist politisch schlimmer als ein altes Vorurteil gegen eine andere Religion.

Darum haben mich seine Versuche einer Einordnung überhaupt nicht beruhigt. Mursis politisiches Handeln – oder das seines Apparates – ist bisher (!) weitaus realistischer und pragmatischer als seine Ideologie.

Immerhin: Er hat seine Äußerungen nicht wiederholt. Er hat nicht einmal behauptet, dass sie so noch gelten. Zu sagen, sie seinen aus dem Kontext gerissen worden, ist ja nur eine gesichtswahrende Form zuzugeben, dass sie so nicht mehr gesagt werden können.

Bleibt das Problem mit dem „Zionismus“-Begriff Mursis. Mit dem Kopf steckt dieser überforderte Mann noch mitten in der Geisteswelt der islamistischen Opposition.

Mag sein, dass ihn bald die nächste Revolution hinwegfegt. Vielleicht aber auch nicht. Es wird spannend sein zu sehen, was passiert, wenn die  Ideologie auf die Realität trifft, wie hier in Berlin.

 

 

Das Ende der Zwei-Staaten-Lösung

Aus der ZEIT vom 17.1.2013, S. 3:
In diesem einen Wort schnurrt die gesamte Nahostpolitik der letzten Jahrzehnte zusammen: Zwei-Staaten-Lösung. Auf Konferenzen von Madrid über Oslo bis nach Annapolis rangen Präsidenten, Premiers und Kanzler darum. Nahostquartette, Sonderbeauftragte, Roadmaps – alles richtete sich immer auf dieses Ziel. Hier bestand ein seltener Konsens der Weltgemeinschaft, geteilt von Amerikanern, Europäern, Russen, Chinesen: Wir wissen vielleicht nicht, wie wir dahin kommen, aber wir wissen, was beim »Friedensprozess« zwischen Israelis und Palästinensern herauskommen muss: zwei Staaten für zwei Völker.
Weil diese Idee so evident klingt und so allgemein anerkannt ist, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Zeit über sie hinweggehen könnte – ohne dass es eine überzeugende Alternative gibt. Doch genau das passiert gerade. Das Fundament der Nahostdiplomatie zerbröselt.
Diese Idee hat den überkomplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf einen schlichten menschlichen Kern zurückgeführt: Die anderen gehen nicht weg, sie bleiben da und haben das Recht, nach eigenem Gusto zu leben. Und das geht nun mal am besten in zwei Staaten.
Widerstand dagegen hat es immer gegeben. Kein Wunder: Die vermeintlich göttlich sanktionierten Ansprüche beider Seiten, Leid, Vertreibung, Terror, die Tragik von hundert Jahren Kampf – all das soll in der Idee von den zwei Staaten versachlicht und entgiftet werden. Von den Palästinensern verlangt dies, sich von der Illusion zu verabschieden, Israel sei ein Irrtum der Geschichte, der sich wieder korrigieren ließe. Für die Israelis heißt es, zu erkennen, dass ihr Staat nur dann jüdisch und demokratisch bleiben kann, wenn sie die Besatzung beenden und das Land teilen. Die Zwei-Staaten-Lösung war stets eine Zumutung für die Träumer des Absoluten, von denen es im Heiligen Land auf beiden Seiten allzu viele gibt.
Das Oslo-Abkommen vom September 1993 hat sie offiziell zum international akzeptierten Programm ausgerufen. Neuerdings aber klingen die Bekenntnisse verräterisch mau: Es gelte, »die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung offenzuhalten«, betonten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Ende letzten Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Und dann geschah etwas, womit niemand rechnete: Die israelische Regierung handelte genau entgegengesetzt. Sie konterte die Sorgen ihrer Partner mit der Genehmigung weiterer Siedlungen in besonders sensiblen Gebieten.

Bildschirmfoto 2013-01-18 um 12.16.36

(Diese Karte zeigt die Zerklüftung des Westjordanlands in Autonomiezonen, die den Palästinensern teils allein (A, dunkelgrün) oder auch in geteilter Verantwortung mit den Israelis (B, hellgrün) unterstehen. Die Zonen C, in denen allein Israel die Verantwortung hat und die Siedlungen liegen, sind als Wasser dargestellt: Es gibt nur Inseln der Autonomie, das Westjordanland ist ein Archipel. Quelle: Strange Maps.)

Das war ein Schock für die israelfreundliche Bundesregierung, die eben noch Netanjahus Militärschläge gegen die Terroristen in Gaza verteidigt hatte: eine Demütigung auf offener Bühne. Wer sich umhört, trifft bei Berliner Diplomaten seither auf einen verbotenen Gedanken: Kann es sein, dass die Zwei-Staaten-Idee tot ist? Und wenn sich das herumspricht: Was dann?
Es gibt derzeit täglich neues Futter für solchen Defätismus. Am kommenden Dienstag wird in Israel gewählt. Der Wahlkampf gibt den Blick auf einen radikalen Wandel der politischen Kultur in Israel frei. Der Schriftsteller Amos Oz, Doyen der Friedensbewegung, mahnt, diese Wahl sei von »existenzieller Bedeutung«. Doch der »Friedensprozess«, für den Oz wirbt, ist ein Verliererthema geworden, das politische Karrieren vernichtet. Für keine Partei außer der Splittergruppe Meretz – Oz’ politische Heimat – steht die Lösung des Konflikts überhaupt noch auf der Tagesordnung. Es gibt in Israels Parteienlandschaft keine relevanten Kräfte mehr, die für ein Abkommen mit den Palästinensern eintreten.
Die Arbeitspartei hat sich ganz auf Wohnungs- und Käsepreise verlegt. Jedes Mal wenn die ehemalige Außenministerin Zipi Livni zaghafte Andeutungen macht, man solle verhandeln, sinken ihre Umfragewerte weiter. Die politische Mitte – von den Linksliberalen bis zu den moderaten Rechten – ist implodiert. An ihre Stelle drängt eine neue, kraftvolle Rechte, angetrieben vom Erfolg der nationalreligiösen Siedlerlobby. Ihre Positionen galten einmal als extrem. Nun sind sie Mainstream. Die Nationalreligiösen haben es geschafft, sich als das neue spirituelle Zentrum des Landes darzustellen. Ihr wichtigstes Projekt ist die Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung.
Dieses Projekt hat ein neues, frisches Gesicht. Der Star des Wahlkampfs ist der 40-jährige Ex-Unternehmer und Elitesoldat Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei »Jüdische Heimat«. Er spricht fließend Englisch, hat in Amerika als erfolgreicher Softwareunternehmer Millionen gemacht und war Offizier in einer prestige-reichen Antiterroreinheit der israelischen Armee. Er gibt einem extremen Programm ein modernes Flair, das ihn für junge Konservative anschlussfähig macht. Er hat einen eigenen Friedensplan, der ganz ohne Beteiligung der Palästinenser auskommt. Der Bennett-Plan sieht vor, dass Israel jene Gebiete im Westjordanland formell annektiert, die seit dem Oslo-Abkommen bereits unter israelischer Militärkontrolle stehen. 60 Prozent des Landes, auf dem ein palästinensischer Staat entstehen soll, würden damit offiziell Teil Israels. Im verbleibenden Rest dürfen sich die Palästinenser lediglich selbst verwalten: keine Souveränität, keine Staatlichkeit, kein Zugang nach Jerusalem. Bennett hat sein politisches Handwerk im Büro von Benjamin Netanjahu gelernt, dessen Stabschef er war. Seinen ehemaligen Chef treibt er jetzt vor sich her. 25 Prozent der Likud-Wähler hat er bereits für sich gewonnen.
Im Vergleich mit Bennett wirkt Netanjahu moderat, und das ist im heutigen Klima gefährlich. 2009 hatte Netanjahu auf amerikanischen Druck hin erklärt, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Selbst dieses taktische Zugeständnis gilt nun schon als Ausweis mangelnder Härte. Der Likud-Chef rückt darum immer weiter nach rechts. Er macht Wahlkampf in illegalen Siedlungen und präsentiert sich als Verteidiger der Besatzung gegen internationalen Druck.
Der Rechtsruck in Israel hat seine Entsprechung auf der palästinensischen Seite. Die arabischen Revolten bringen überall in Israels Nachbarschaft den politischen Islam an die Macht – wie in Ägypten, so vielleicht schon bald in Syrien und Jordanien. Es ist möglich, dass Israel demnächst vollständig von islamistisch dominierten Staaten umgeben sein wird. Dass der Muslimbruder Mohammed Mursi, der neue starke Mann in Kairo, im letzten Gazakrieg mit Hamas vermittelte, hat man in Israel mit Erleichterung aufgenommen.
Unvergessen bleibt aber, dass Mursi noch 2010 von Israelis als »Kriegshetzern« und »Abkömmlingen von Affen und Schweinen« gesprochen hat. Und Hamas, als Ableger der Bruderschaft entstanden, scheint weit davon entfernt, ihre jahrzehntelange Israelfeindschaft zu revidieren. Den Aufstieg des Islamismus in der Region sieht sie als Zeichen, dass die Geschichte für sie arbeitet. Hamas-Politbürochef Khaled Meschal erging sich bei der Siegesparade nach dem Gazakrieg vor Zigtausenden Anhängern in Vernichtungsdrohungen: »Palästina gehört uns ganz, vom Norden bis zum Süden, vom Meer bis an den Jordan. Es wird keinen Zentimeter an Zugeständnissen geben. Wir werden Israel nie anerkennen.« Meschal hat Chancen, eines Tages in Ramallah als erster islamistischer Präsident aller Palästinenser zu regieren.

Dass das Siedlungsprojekt in der Mitte der israelischen Gesellschaft Unterstützung findet und dass bei den Palästinensern die Islamisten tonangebend werden – beide Prozesse stehen für eine Abkehr von der Zwei-Staaten-Idee. Es besteht die Gefahr, dass sie sich wechselseitig verstärken. Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man die widersprüchlichen Erzählungen betrachten, die in Israel und in Palästina über das Scheitern des »Friedensprozesses« entstanden sind. Sie laufen auf die gleiche Pointe hinaus: dass es mit denen da drüben keinen Frieden geben wird.
Die israelische Variante lautet: Wir haben verhandelt und Angebote gemacht, und wir haben den Palästinensern Autonomie gegeben. Doch sie haben mit Terror reagiert. Wir sind aus dem Libanon und aus Gaza abgezogen, und zum Dank hat es Raketen geregnet. Wer garantiert, dass das nicht auch passiert, wenn wir uns aus dem Westjordanland zurückziehen?
Die palästinensische Variante geht so: Die Israelis haben uns in Oslo Autonomie gegeben und einen eigenen Staat versprochen. Aber seither bauen sie immer neue Siedlungen, um diesen Staat zu verhindern. Heute gibt es doppelt so viele Siedler wie vor zwanzig Jahren. Wie können wir glauben, dass sie jemals abziehen werden?
Beide Versionen sind einseitig. Hier wird der Terror ausgeblendet, dort fehlen die Siedlungen. Aber beide Geschichten sind nicht ganz falsch. Und das macht Verhandlungen so fruchtlos.
Die jüngsten Schachzüge beider Seiten zeigen, dass die Zeit nach dem Friedensprozess schon begonnen hat. Die Ankündigung der israelischen Regierung, im Gebiet »E1« östlich von Jerusalem zu bauen, steht dafür. Die neue Siedlung würde das Westjordanland entzweischneiden und den Zugang zu Ostjerusalem, der designierten palästinensischen Hauptstadt, erschweren. Der Palästinenserstaat wäre von E1 wie durchgestrichen.
Der palästinensische Präsident Abbas droht im Gegenzug, den Israelis »die Schlüssel« für seine Behörde zurückzugeben und seine Regierung aufzulösen. Israel müsste dann offen über die Palästinenser herrschen, und Abbas wäre den Ruf los, ein »Kollaborateur« der Besatzer zu sein. Macht er seine Drohung mit dem politischen Selbstmord wahr, käme das Ergebnis Bennetts Plan erstaunlich nahe.
Unabhängig davon wachsen zugleich die Siedlungen und die palästinensische Bevölkerung unter der Besatzung. 42 Prozent des Landes werden heute schon von Sicherheitskorridoren der Armee beansprucht. Mehr als eine halbe Million Israelis leben auf Grund und Boden, den Palästinenser als ihren ansehen. 2016 werden die Bevölkerungszahlen der Araber in Israel und den palästinensischen Gebieten mit denen der Juden erstmals gleichziehen, 2020 wird es mehr Araber als Juden im Heiligen Land geben: Demografie gegen Demokratie.
45 Jahre dauert die Okkupation bereits. Die dritte Generation Besatzungssoldaten steht heute der dritten Generation Besetzter gegenüber. »Temporär« ist das nicht. Mit jedem Tag, an dem nicht verhandelt wird, verfestigt sich die Ein-Staat-Realität, und die Zwei-Staaten-Lösung wird Geschichte.
Was soll die Diplomatie ohne ihre Leitidee machen? Es gibt keinen Plan B, nur bange Erwartungen beim Gedanken an den Augenblick, in dem der Bluff auffliegt. Naftali Bennetts Eintritt in Netanjahus Regierungskoalition könnte dieser Moment sein. Die deutsche Regierung blickt mit trotziger Hoffnung auf Obama, der – bitte! – in seiner zweiten Amtszeit noch einmal kräftig auf den Tisch hauen möge. Nichts spricht dafür. Obama hat schon einmal versucht, Verhandlungen anzubahnen, und wurde von Netanjahu schmerzlich gedemütigt. Er glaubt seither, wie er an den Nahostexperten Peter Beinart durchstechen ließ, dass Netanjahu »nur die Fassade eines Friedensprozesses braucht, um sich von internationalem Druck abzuschirmen«. Dabei will die amerikanische Regierung nicht mehr mitspielen. Die deutsche sollte das auch nicht tun.
Der internationale Druck wird wachsen, auf beide Seiten. Deutschland wird sich nicht mehr bedingungslos vor Israel stellen. Das war die -eigentliche Botschaft hinter der deutschen Enthaltung bei den Vereinten Nationen, wo die Palästinenser im vorigen November um die symbolische Stärkung ihrer Staatlichkeit kämpften: Gegen diese Initiative zu stimmen wäre ein Votum gegen die eigene Politik gewesen, die an der Zwei-Staaten-Lösung festhält. Israel, glaubt die Bundesregierung, braucht einen Palästinenserstaat fast noch dringender als die Palästinenser. Eine »Ein-Staat-Lösung« liefe auf das Ende jüdischer Selbstbestimmung oder auf ein Apartheidregime hinaus.
Es kommt eine Zeit des Durchwurstelns. Was an ihrem Ende stehen kann, ist ungewiss – aber um überhaupt nach neuen Wegen zu suchen, braucht es erst einmal Ehrlichkeit: Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung von gestern. Sie rhetorisch zu konservieren, während man ihr real keinen Inhalt mehr zu geben vermag, ist keine Erfolg versprechende Politik.
Ein Kollaps der Autonomiebehörde, ein Sieg der Islamisten sind wahrscheinlicher geworden. Kann sich Präsident Abbas behaupten und die Palästinenser auf den Weg des gewaltfreien Protests führen, wird die Welt ihn unterstützen. Ohne die Perspektive der zwei Staaten wird die Lage in jedem Fall gefährlicher, vor allem für Israel: Denn in der trügerischen Hoffnung auf eine Lösung, die nach der nächsten Verhandlungsrunde zu warten schien, ließ es sich mit vielem leben – Unterdrückung und Besatzung, Unsicherheit und Terror erschienen als Geburtswehen normaler Staatlichkeit.
Wenn dieses Ziel auf lange Sicht, wenn nicht gar für immer, unerreichbar scheint, ist damit nicht die Nahostpolitik zu Ende. In gewisser Weise fängt sie erst an: Deutschland muss zugleich druckvoller und flexibler agieren. Das kann zum Beispiel heißen, sich einerseits einem Boykott israelischer Güter entgegenzustellen, zu dem jetzt schon Briten und Dänen aufrufen. Eine Isolierung hilft ja wieder nur den Extremisten, die von Europa ohnehin das Schlimmste erwarten. Keine Handbreit denen, die Israels Existenzrecht bestreiten: Daran gibt es nichts zu rütteln, mögen die Muslimbrüder auch noch so erfolgreich sein. Andererseits muss Deutschland jeden friedlichen Kampf der Palästinenser für ihre Bürgerrechte viel kraftvoller unterstützen.
Schwindet die Hoffnung, dass diese Rechte in einem eigenen Staat realisiert werden können, wird der Druck auf Israel wachsen, sie hier und jetzt zu gewähren.

 

Warum uns die Christen des Nahen Ostens angehen

Merkwürdige Reaktionen auf mein Christen-Projekt versetzen mich in eine meditative Stimmung. Ich war mir bewußt, dass es Abwehrreaktionen hervorruft, über bedrohte Christen zu schreiben. Aber sie sind dann doch ein wenig sehr massiv ausgefallen.  Dazu später.

Das letzte Jahr war für mich sehr bereichernd. Ich habe so viele Menschen getroffen, über die ich nicht schreiben konnte – weil Platz und Zeit fehlten, oder weil sie dann nicht in die Geschichte passten, wie sie sich so beim Schreiben entwickelte. Ich bin viel gereist, und diesmal nicht in Delegationen, sondern auf eigene Faust, was die Begegnungen einfacher macht.

Ein paar möchte ich noch erwähnen. Bei meinen Recherchen in Israel über „Breaking the Silence“ hat mir Arye Sharuz Shalicar sehr geholfen. Er ist der Sprecher der israelischen Armee mit der Zuständigkeit für Europa. Arye hat natürlich nichts übrig für die Besatzungskritiker um Jehuda Schaul. Ich war Anfang des Jahres im Süden Israels mit ihm unterwegs, um auch die Perspektive der Armee kennenzulernen, nicht nur die der Kritiker. Arye brachte mich nach Sderot und Beer Scheva und an den Gazastreifen, wo wir mit einem Intelligence Officer Patrouille fuhren. Ich wollte eigentlich ein Porträt über Arye schreiben, bin aber nicht dazu gekommen.

Er ist ein Phänomen: Im Wedding aufgewachsen als Kind iranischer Juden, die nach Deutschland ausgewandert waren, als Jugendlicher Teil einer Gang von Türken und Libanesen, immer am Rande des Jugendknastes vorbei. Unter muslimischen Jugendlichen aufzuwachsen, hat ihn das Judentum entdecken lassen – beziehungsweise: er wurde darauf gestoßen („Was, Du bist Iraner und Jude? Willst Du uns verarschen?“). Als die Gang-Brüder mitbekamen, dass sie es mit einem Juden zu tun hatten, distanzierten sich viele von ihm (bis auf einen Libanesen).

Arye ging zur Bundeswehr, wo er sich wohl fühlte, und wanderte schließlich nach Israel aus, wo er wiederum die Grundausbildung durchmachte (gibt es noch jemanden, der Bundeswehr und IDF durchlaufen hat?). Arye studierte an der Hebrew University und machte einen Abschluß mit einer Arbeit über Moscheebaukonflikte in Deutschland. Er wurde Offizier der israelischen Armee und bewarb sich auf einen Sprecherposten. So ist aus einem iranisch-jüdisch-deutschen Ghettokind aus Wedding eine Stimme Israels geworden.

Arye ist ein toller Typ, sein Buch über die Erfahrung des Aufwachsens in Wedding ist unbedingt lesenswert. Als der letzte Gaza-Krieg losging, musste ich viel an ihn denken. Er ist im letzten Jahr Vater geworden. Vielleicht schreibe ich das Porträt ja doch noch.

Zweitens möchte ich Simon erwähnen. Simon traf ich bei meiner Recherche über Christen in der Türkei. Auch er hat eine Vergangenheit in Deutschland. Simon wuchs als Kind türkisch-christlicher Einwanderer in Bayern auf. Die Eltern waren überfordert mit dem Leben in Deutschland und ließen die Kinder viel allein, weil sie beide arbeiteten. Simon geriet auf eine schiefe Bahn – Gewalt, Jugendgangs, Kleinkriminalität. Immer wieder mussten seine Eltern ihn bei der Polizei abholen. Es half nichts. Simon war nicht zu bremsen, ganz wie der berühmtere Wiederholungstäter „Mehmet“.  Mit 18 Jahren wurde Simon in die Türkei abgeschoben. Er kannte die Sprache nicht, er war noch nie dort gewesen, er hatte kaum Kontakte. Er wurde zum Militär eingezogen, eine extrem harte Schule, wie er sagt. Er musste sich bei Verwandten in Midyat mit kleinen Jobs herumschlagen. Nach Deutschland führte kein Weg zurück, es gab ein Einreiseverbot.

Simon sagt, es war eine extreme Zeit gewesen. Er musste irgendwie in der Türkei überleben, deren Staatsangehörigkeit er durch die Eltern hatte, dabei war er mehr Deutscher und Christ als Türke, und wurde auch so angesehen. Heute hat Simon einen modernen Bus, mit dem er als Taxifahrer und Reiseführer selbständig ist. Es gibt keinen besseren Reiseführer durch das christliche Kurdistan, den Turabdin, als Simon. Er kennt jeden Winkel, er ist mit den Mönchen per Du, und er fährt schnell und sicher, immer wieder unterbrochen von bayrisch eingefärbten Flüchen, wenn türkische Lastwagenfahrer die Regeln brechen: „Host’des gsehn, wie der Wixxer do mittn auf der Audobahn wendn tut? Verdammtes Orschloch, du! Die kenn olle ned foahn, die hoam an Führaschein von ihre Vettan gekauft, die Türken.“

Simon sagt, dass die Abschiebung ihn wahrscheinlich gerettet hat. Er wäre untergegangen in der Welt der Jugendgangs. Er hat den Jugendrichter angefleht, ihn nicht wegzuschicken, aber es war das einzig richtige, meint er heute. Er musste da raus. Der Heimwehtourismus der Exil-Aramäer, die die Orte ihrer Vorfahren aufsuchen, ist sein Geschäft geworden. Er fährt sie zu den Kirchen und Klöstern, macht Kontakte zu den Mönchen und den Äbten. Er ist stolz darauf, dass die Aramäer wieder hierherkommen. Ein Junge, der sich fast verloren hätte in der Fremde ist zu einem Fremdenführer geworden, der die Wiederaneignung der alten Heimat zu seiner Sache gemacht hat. Aber auch für Simon gilt: Fällt das Kloster Mor Gabriel durch die Klagen bei türkischen Gerichten, dann hat auch er keine Zukunft hier.

Ich müsste auch noch Maria Khoury in Taybeh in der Westbank erwähnen, die mich dort aufgenommen und herumgeführt hat. Maria ist eigentlich griechisch-amerikanisch. Sie hat ihren Mann David in Boston kennengelernt. Als David nach dem Oslo-Abkommen beschloss, in die Westbank zurückzugehen, zog sie mit. Die Hoffnungen auf einen eigenen Staat, der schon fünf Jahre nach dem Abkommen zu Leben anfangen sollte, haben getrogen. Maria zeigt mir die Nachbarschaft von Taybeh: gegenüber der Brauerei sieht man die Siedlung Ofra auf dem nächsten Hügel, 1975 gegründet, Speerspitze der Siedlungsbewegung. Ofra verweist auf den biblischen Ort Ephraim, auf den sich auch Taybeh beruft. Im Neuen Testament wird der Ort als derjenige erwähnt, an den sich Jesus mit den Jüngern zurückzieht, als er schon weiß, dass es mit ihm zuende geht. Wenn Gott diesen Ort als Heimat der letzten Christen in der Westbank ausgesucht hat, dann hat er einen Sinn für schwarzen Humor.

Maria Khoury könnte in Amerika leben, aber sie will Taybeh nicht aufgeben. Juden und Muslime wollen beide die Christen nicht dort haben. „Die streiten sich untereinander um das Land, wir Christen stören dabei nur.“ Sie hat sich die Sache mit dem „Oktoberfest“ ausgedacht, das jeden Herbst hier stattfindet. „Unser Bier ist friedlicher Widerstand“, sagt sie. „Wir bleiben.“

Es versetzt mir einen Stich, dass manche Leute solche Geschichte nicht hören wollen. Ein Aktivist, der sich für die Freiheitsbewegung vom Tahrir-Platz einsetzt, wirft mir vor, mit der Rede von der Christenverfolgung das alte Spiel der Diktatoren weiter zu spielen, die die Religionen gegeneinander ausgespielt haben. Letzteres ist nicht zu bestreiten, und es ist auch nicht zu bestreiten, dass manche christliche Führer sehr faule Deals mit unterdrückerischen Regimen gemacht haben. Aber das kann doch kein Grund sein nicht hinzuschauen, wenn nun unter anderen Vorzeichen die Rechte der Christen in Gefahr sind.

Ein Leser war angenervt davon, dass die Thematik überhaupt im Rahmen eines religiösen Konflikts beschrieben wird. Da scheint die Annahme durch, es gehe nie „wirklich“ um Religion, sondern die religiösen Differenzen würden immer nur „vorgeschoben“, um andere Konflikte zu bemänteln. So etwas gibt es zwar auch, aber wenn die Folge ist, dass Gemeinschaften nicht mehr in der Region bleiben können (-> Irak), dann ist es am Ende de facto religiöse Verfolgung, egal welche Nebenmotive mitspielen.

Eine Kommentatorin wies darauf hin, dass das Christentum mit dem Kolonialismus zusammengebracht würde und daher viele Ressentiments erklärbar seien. Nun, das ist historisch sicher richtig, aber – was meine Beispiele angeht – eben Teil des Problems: Ich habe ausschließlich indigene christliche Communities besucht, die länger da sind als der Islam. Diese Gruppen haben nichts mit Missionaren und Kolonisatoren zu tun. Im Gegenteil sind sie historisch zum Gegenstand islamischer Mission und Kolonisation geworden. Das Perverse ist, dass die christlichen Ureinwohner der Länder in Verkehrung dieser Tatsachen zu „Fremden“ umgewidmet werden (weil sie sich teils mit den Usurpatoren und Diktatoren eigelassen haben, man wird das in Syrien noch sehen, wenn Assad weg ist). Dem muss man entgegen treten, und das habe ich mit diesem Text auch versucht.

Ich habe auch zustimmende und ermutigende Reaktionen bekommen. Aber vielen ist das Thema unangenehm. Es stört ein Bild des arabischen Völkerfrühlings, es stört das muslimische Selbstbild („wir sind historisch toleranter als die Christen“ – was ja für viele Phasen stimmt, vor allem gegenüber den Juden), es stört das abendländische Selbstbild („wir sind die Bösen, die Kolonisatoren, die Missionare, die Imperialisten“). Und dann: Man weiß einfach nicht, was man tun soll. Ist auch nicht einfach! Es ist nicht richtig, die verfolgten Christen des Orients als „welche von uns“ zu vereinnahmen, denen „wir“ helfen müssen, weil sie so sind wie wir. Das führt genau in die Falle der Umdefinition des orientalischen Christen als Fremden und Agenten des „Westens“. Nein, diese Christen sind nicht „wie wir“. Sie sind (auch theologisch) anders und gehören nach Ägypten, Syrien, Iran und in die Türkei, nicht ins westliche Exil. Die Mehrheitsgesellschaften müssen für sie kämpfen, weil sie ein Teil des vielschichtigen Gewebes des Orients sind. Es muss sich die Einsicht durchsetzen, dass der erzwungene Exodus der Christen eine Selbstverstümmelung des Orients ist. Ob das rechtzeitig so kommt – da bin ich sehr pessimistisch zurückgekehrt von meinen Reisen.

 

 

 

Die letzten Jünger

Eine schöne Weihnachtszeit und einen glücklichen Jahreswechsel wünsche ich allen Besuchern dieses Blogs!

Wer sich gefragt hat, was ich eigentlich die letzte Zeit gemacht habe, findet hier die Früchte einer wochenlangen Recherche in der Türkei, in Palästina und Ägypten.

Eine frohe Botschaft konnte ich allerdings nicht mitbringen. Den Christen geht es nicht gut in den Umbrüchen dieser Tage.

Gläubige werden verfolgt, Kirchen zerstört: Ist im Nahen Osten nach den arabischen Revolutionen noch Platz für die christliche Minderheit? Eine Reise zu Gläubigen in Ägypten, der Türkei und Palästina.


In der Einsamkeit: Mönch vor dem Aufgang zum Kloster Mor Augin in der TürkeiIn der Einsamkeit: Mönch vor dem Aufgang zum Kloster Mor Augin in der Türkei © Jörg Lau für die ZEIT

Nur ein paar Sekunden, und Fady wäre zum Märtyrer geworden. Hätte er in der Neujahrsnacht bloß ein paar Sekunden früher die Messe verlassen, wäre er heute eines jener 22 Bombenopfer, die von monumentalen Plakaten an der Markuskirche und der Petrikirche auf die Lebenden herunterlächeln. Mithilfe digitaler Bildbearbeitung hat man sie in weiße Kleider gehüllt und ihnen goldene Kronen aufgesetzt.

Die Bombe explodierte damals direkt vor der Kirche. Die Umgekommenen sind heute Heilige für die koptischen Christen Ägyptens. Ihre Überreste – Knochensplitter, Haare, blutbefleckte Kleidungsfetzen – werden in einer Kirche in der Nähe des Strandes von Alexandria ausgestellt. Pilger berühren die Reliquienschreine und beten. Sie kritzeln Wünsche auf kleine Zettel und stecken sie hinein. Fady tut das auch. Er ist 20 Jahre, trägt Jeans, ein schrilles T-Shirt. Ein ganz normaler Student der Betriebswirtschaft. Doch er kann sich nicht mehr richtig bewegen. Vor einem Jahr ist er mit dem Leben davongekommen, aber die Detonation zertrümmerte sein linkes Bein und verbrannte ihm die Hände.

Fady M., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung gedruckt haben möchte, ist ein verfolgter Christ. Dem aufgeklärten Kirchgänger des Westens dürfte schon der Begriff Christenverfolgung unangenehm sein. Aber es gibt tatsächlich wieder Christen, die ihres Glaubens wegen ihr Leben lassen. In Europa wird das Christentum selbstkritisch mit Macht, Reichtum, Imperialismus und Kolonialismus assoziiert. Doch im Nahen Osten, an den ältesten Stätten ihrer Religion, den historischen Orten der Urgemeinde, sind Christen heute unter Druck, verletzlich, schwach – und in Gefahr. Am Schicksal der christlichen Minderheiten in Ägypten, im Irak, in Syrien und anderswo wird sich zeigen, wie human und tolerant die demokratiehungrigen islamischen Gesellschaften sind.

In Kairo wurden vor einem Jahr koptische Demonstranten von Sicherheitskräften niedergewalzt. Sie hatten vor dem Gebäude des ägyptischen Fernsehens gegen die Drangsalierung einer Gemeinde im Süden des Landes protestiert. 28 Menschen starben, Hunderte wurden schwer verletzt. Täglich werden seither Christen entführt und Kirchen angegriffen. Das Neueste ist, dass koptische Intellektuelle wegen »Blasphemie« eingesperrt werden, wenn sie den Islam kritisieren.

Die Christen gehören zu den Verlieren der arabischen Revolutionen. Wer sie besucht, findet Menschen im Ausnahmezustand vor – schwankend zwischen Panik und trotzigem Gottvertrauen, hin- und hergerissen zwischen Angriffslust und Fluchtplänen.

Dass einer wie Fady seines Lebens nicht sicher sein kann, verdunkelt das Bild vom arabischen Völkerfrühling. Fady gehört selber zur Generation der Tahrir-Revolutionäre: Er ist auf Facebook aktiv, besitzt ein Smartphone und twittert. Seine Lebensträume unterscheiden sich in nichts von denen anderer 20-Jähriger. Aber für ihn werden sie sich in Ägypten nicht erfüllen. Er ist auf dem Absprung, wie viele andere junge Christen.

Heute ist er zur Kirche gekommen, um Anba Damian zu treffen, den Bischof der Kopten in Deutschland. Der hat Fady gleich nach dem Anschlag in eine Münchner Klinik fliegen lassen. Die Ärzte konnten das Bein retten, aber es ist jetzt steif und zu kurz. Fady muss humpeln. Er will noch einmal nach München, »damit sie es richtig machen«. Der Bischof hört Fady an. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er noch einmal hilft. Es sind zu viele, die auf den Geistlichen aus Deutschland hoffen. Der Mittfünfziger mit der Kappe mit den zwölf aufgestickten Kreuzen wird förmlich umdrängt von Überlebenden des Anschlags. Alle strecken ihm ihre Krankenakten entgegen. Alle wollen nach Deutschland. Zur medizinischen Behandlung, und am liebsten für immer…

(Weiterlesen)

 

 

Syriens Endspiel hat begonnen

In Syrien nähert sich das Regime dem Ende, wie jetzt auch die russischen Freunde zugeben. Ein informierter deutscher Kenner der Lage brachte es kürzlich auf die Fußballmetapher „80. Minute, mit möglicher Verlängerung“. In weiten Teilen des Landes kontrolliert der bewaffnete Widerstand mit seinen ca. 60.000 Kämpfern den Boden. Das Regime hat durch die Luftwaffe und Artilleriewaffen (die dem Widerstand fehlen) immer noch die Möglichkeit, großen Schaden anzurichten. Die Widerstandskräfte führen dagegen einen Abnutzungskrieg mit Kleinwaffen, die vor allem aus der Türkei, aber auch über die irakische und jordanische und libanesische Grenze ins Land gebracht werden. Die Motivation und Leidensfähigkeit der Widerstandskämpfer sind hoch einzuschätzen, sie haben hohe Verluste erlitten glauben, das Ende des Regimes mit Händen greifen zu können. Umgekehrt motiviert das auch das Regime: Assad ist nun der „Bewahrer der Alawiten“, und es gibt immer noch keine nennenswerten Brüche im inneren Kreis. Die regierenden Alawiten, aber auch die für das Regime kämpfenden Sunniten, haben keine Alternative und werden bis zum Ende kämpfen.

Die wirtschaftliche Lage ist prekär. Assad lässt Geld drucken. Diesel wird knapp, die letzte Ernte war nicht gut, nötige Importe zehren an den Reserven. Iran hält noch zu Assad, aber zunehmend verzweifelt. Man „hätte es selber besser gemacht“, so die Analyse in Teheran über Assads ungeschickt-brutalen Umgang mit dem Widerstand. Iran droht durch den Verlust Syriens der Zugang zum Mittelmeer, die schiitische Achse Teheran-Damaskus-Beirut steht vor dem Aus. Über den Abgang der Hamas aus Damaskus ins sunnitisch-muslimbrüderliche Lager (Katar, Ägypten) ist man in Teheran verbittert. Was, wenn man nun auch noch Hisbollah über Assads Untergang verliert? Eine schlimme Schwächung des so wichtigen Störpotenzials: Hatte doch Teheran zuletzt, über Hisbollah und Hamas, über Krieg und Frieden in Nahost (mit)entschieden.

Innerhalb oder neben dem vielgestaltigen Widerstand gibt die Jabhat al Nusra besonders Anlass zur Sorge. Sie wird als syrische Al-Kaida-Filiale bezeichnet, aber das ist nicht korrekt. Es handelt sich um eine eigenständige, sehr effektive Terrororganisation, die der Kaida ideologisch verwandt ist und auch Wurzeln bei der Kaida im Irak hat. Ihr Unterstützernetzwerk reich tief in die Türkei, was es für reisende Dschihadistenkader leicht macht, dazu zu stoßen.  Sie verfolgt aber Ziele in Syrien und zielt auf ein groß-syrisches Emirat (das dann auch das „befreite Israel“ beinhalten würde). Weite Teile des Widerstands sehen das Problem, das mit der JaN nach dem Fall Assads erwächst: Wird diese sich dann gegen die Versuche wenden, einen neuen syrischen Nationalstaat zu errichten, weil der ja ihren Emiratsplänen entgegensteht? Derzeit aber wird sehr wohl bei Anschlägen kooperiert. Mit ihren auf bis zu 1.000 geschätzten Kämpfern hat die JaN bereits über 500 Anschläge verübt, und dies seit der Gründung vor eineinhalb Jahren. Die Gefahr, dass diese Dschihadisten die Chemiewaffen Assads nutzen könnten, ist dennoch gering, weil das Knowhow zum Einsatz nahezu vollständig in den Kreisen der alawitschen Militärelite bewahrt wird. Wegen der Todfeindschaft der Dschihadisten gegen die Alawiten ist ein Wissenstransfer auszuschließen.

Während das Ende näher rückt, stellt sich die Frage, was dann kommt? Es gibt keine „große Idee“ des Widerstands, auch keine charismatische Figur, die die über 200 Gruppen vereinen könnte. Die wesentlichen Akteure der Opposition haben viele Jahre im Exil verbracht und sind kaum im Lande bekannt. Immerhin gibt es seit jüngstem ein militärisches Oberkommando des Widerstands aus Soldaten, die im Land gekämpft haben. Klar ist, dass in Syrien die Muslimbrüder eine wesentliche Rolle spielen – und spielen werden. Möglich, dass sie auch hier, wie in Tunesien und Ägypten, nach dem Ende am meisten Konzentration und Disziplin aufbringen, um das Machtvakuum zu füllen. Sie werden sich dann einer hochaggressiven, überaus erfolgreichen dschihadistischen Truppe gegenübersehen, die keine syrische Republik will, in der Alawiten, Sunniten, Christen und Kurden friedlich miteinander leben.

Dann wird sich die Frage stellen, ob das besondere syrische Selbstbild einer arabischen Republik über den Wechsel halten kann – einer Republik, die es geschafft hat, die verschiedenen Ethnien und Religionen friedlich miteinander oder wenigstens nebeneinander leben zu lassen. Oder ob danach die Zeit der Rache kommt und das Chaos regiert, das für alle Minderheiten unerträglich wird.

 

Wer den Gaza-Krieg gewonnen hat

Die vergangene Woche hat einige überraschende Erkenntnisse gebracht.

Erstens: Raketenabwehr funktioniert, und zwar sogar gegen unberechenbar fliegende Geschosse wie die Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen. Noch besser funktioniert sie gegen größere Mittelstrecken-Raketen wie die Fadschr-Raketen iranischen Ursprungs. Und damit zeigt sich ein wenig beachteter Sinn der jüngsten Operation Israels: Die Abschreckung gegenüber dem Iran und seinen „Proxies“ Hisbollah und Hamas wiederherzustellen. Iran hat zwar öffentlich triumphiert über den „Erfolg“ der Hamas (der vor allem darin bestand, dass man immer weiter in der Lage war zu schießen, auch wenn man nichts mehr treffen konnte). Aber das nahezu perfekte Funktionieren von „Iron Dome“ ist eine schmerzliche Niederlage für Iran, das damit ohne Chance dasteht, Israel über die Terrorgruppen in seiner Nachbarschaft herauszufordern. Dies rückt auch einen Krieg gegen das iranische Atomprogramm näher in den Bereich des Machbaren.

Zweitens: Eine Muslimbruder-Regierung in Ägypten muss nicht notwendiger Weise eine Verschlechterung der Lage für Israel bringen. Im Gegenteil, mit Mursi ist erstmals wieder ein Akteur auf der Bühne, der mit beiden Seiten reden kann. Er ist genügend unter (wirtschaftlichem ) Druck, sein Land nicht zu isolieren. Er braucht die Kredite des IWF und die Milliarden der Hilfe aus den USA. Aber das ist nicht alles. Mursi muss Ägyptens strategische Interessen wahren, und die bestehen auch in einer Schwächung des iranischen Einflusses auf das Palästina-Thema. Hamas wieder in die MB-Familie zu reintegrieren und sie dem Einfluss von Damaskus und Teheran zu entziehen, ist Priorität für Ägypten. Auch deshalb, weil Unregierbarkeit in Gaza sich auf den Sinai auswirkt. Dortige Terrorgruppen arbeiten mit Teilen der Hamas zusammen, um gegen Israel vorzugehen. Sie greifen auch ägyptische Sicherheitskräfte an. Das muss aufhören, und auch darum will Mursi Hamas unter Kontrolle bringen. Israelische Kreise äußern sich erstaunlich positiv über sein bisheriges Agieren. Man ist bereit, eine Menge Rhetorik und Symbolik zu akzeptieren, solange Mursi konstruktiv bleibt. Auch hier ist der Kontrast zum Iran entscheidend: Es war von vornherein klar, dass Mursi keine Eskalation wollte, während Iran darauf setzt.

Drittens: Über Netanjahus Gründe für den Einsatz – und seine Zurückhaltung am Ende – sind eine Menge merkwürdiger   Thesen im Umlauf. Wegen der Wahlen soll er es angefangen haben. Das ergibt keinen Sinn, weil seine Wiederwahl so feststand wie nur was. Er hatte es schlicht nicht nötig. Im Gegenteil bringt eine Operation  wie diese große Risiken mit sich. Allerdings hatte die Notwendigkeit zu handeln sehr wohl etwas mit der Wahl zu tun: Es gab Druck seitens des Bevölkerung des Südens, endlich etwas gegen die hunderten Raketen zu tun. Die Hamas hatte offenbar (falsch) kalkuliert, man sei derzeit immun, eben weil Netanjahu nicht handeln würde wegen des Wahlkampfs und wegen der neuen Lage nach dem Arabischen Frühling (MB an der Macht). Man kann das Kalkül verstehen, denn entgegen seinem Image als Scharfmacher hatte Netanjahu bisher noch nie einen Befehl zu einer Militäroperation gegeben. Es war eine Premiere. Netanjahu hat sich dann entschlossen, unter großem Druck seitens der USA, keine Bodenoffensive zu machen. Er hat sicher auch das Risiko im Blick gehabt, dass dies wieder in einem PR-Fiasko enden könnte (wie „Cast Lead“ 2008)  und die Legitimität der Selbstverteidigung Israels, die diesmal nahezu unisono bekräftigt wurde, beschädigt würde. Er hat sich gegen die Invasion entschieden, obwohl ihm dies bei den Wählern schaden wird – denn viele wollten laut israelischen Umfragen, dass er Hamas diesmal den Rest gibt. Offenbar hatte er den Eindruck, dass die Ziele erreicht sind. Hamas reduziert, Iran abgeschreckt, Ägypten gewonnen.

Viertens: Auf einem anderen Blatt steht die Machtverschiebung auf der palästinensischen Seite, die durch diesen Krieg akzentuiert und beschleunigt wurde. Hamas ist die einzig relevante Kraft geworden. Abu Mazen ist „irrelevant“, wie hohe israelische Politiker mit einer gewissen Genugtuung sagen. Woher diese Genugtuung kommt, ist mir rätselhaft. Von Generälen oder Geheimdienstlern kann man dergleichen nicht hören. Sie loben die Sicherheitskooperation in der Westbank. Von dort flogen keine Raketen. Dass der Bus, der in Tel Aviv zum Glück ohne Todesopfer zerstört wurde, von Hamas-Kämpfern aus dem Westjordanland in die Luft gesprengt wurde, ist ein Omen für die Zeit nach dem Ende der PA, wenn solche Leute freie Hand haben werden. Warum es in Israels Interesse sein könnte, das auch noch zu befördern, erschließt sich mir nicht. Und hier kommen wir zum dunklen Kern des Erfolgs dieser letzten Woche: Die Stärkung der Hamas und die gleichzeitige Schwächung der Fatah um Abbas und Fajad macht eine Verhandlungslösung noch unwahrscheinlicher. Nächste Woche geht Abbas zu den Vereinten Nationen, um über den „Beobachterstatus“ für Palästina abstimmen zu lassen.Eine Lektion dieser Woche lautet, dass Bomben und Raketen mehr bringen als Gewaltverzicht, Dialogbereitschaft und das Ringen um diplomatische Anerkennung. Daraus wird nichts Gutes wachsen.

Hans Magnus Enzensberger hat den schönen Satz gesagt, es gebe Siege, die von Niederlagen schwer zu unterscheiden sind. Dies ist vielleicht so ein Fall.

 

 

 

 

Wie Nasser einmal einen Witz über die Muslimbrüder machte

Dieses Video ist sehr erhellend über den Wandel in Ägypten. Gamal Abdul Nasser erzählt hier, dass er mit den Muslimbrüdern einmal habe zusammenarbeiten wollen, „um sie auf den rechten Weg zu bringen“. Die erste Forderung des Führers sei gewesen, das Kopftuch zwingend einzuführen. Daraufhin lacht SPONTAN das Publikum. Kann man sich etwas Absurderes vorstellen! Die Frauen unters Kopftuch zwingen! Einer ruft gar: Soll er es doch selber tragen!
Dann kommt Nassers trockene Pointe: Er habe dem Führer der MB geantwortet: Haben Sie nicht eine Tochter, die Medizin studiert? Die trägt aber nicht Kopftuch! (Gelächter, abermals) Und wenn es nicht möglich ist, eine Frau unters Kopftuch zu zwingen, wie soll ich dann 10 Millionen Ägypterinnen dazu zwingen? (Gelächter).
Gut gegeben. Aber gewonnen hat die MB. Heute gibt es in Ägypten so gut wie keine Frau mehr ohne Kopftuch. Es sei denn, sie ist eine sehr mutige Christin, oder sehr privilegierte Frau, die sich zu schützen weiß und die Straße meidet. Und alles selbstverständlich völlig freiwillig.
Wer sich trauen würde, in Ägypten öffentlich über die MB in dieser Weise zu scherzen wie es Nasser tut, müsste hingegen mit einem Blasphemieprozess rechnen.

 

Das Versagen der amerikanischen Außenpolitik (im Präsidentschaftswahlkampf)

Zweiter Eindruck der dritten und letzten Präsidentschaftsdebatte, nachdem ich eine Nacht drüber schlafen konnte: Wow, was für eine Enttäuschung. Gut, Obama „hat gewonnen“, wie es fast überall heißt. Freut mich, ich möchte ihn noch für eine weitere Amtszeit am Ruder sehen. (Hat er denn wirklich gewonnen? Romney wusste doch, er kann hier nicht „gewinnen“, wg. Commander in Chief, OBL tot, Weltläufigkeit etc. Er musste nur zeigen, dass er kein Volltrottel ist und kein Wiedergänger von Bush Junior in seiner ersten Amtszeit: dass er keinen Krieg vom Zaun brechen wird. Und das ist ihm gelungen. Hat er damit nicht vielleicht gewonnen, was zu gewinnen war?)

Mit einem gewissen Abstand bleibt ein schales Gefühl. Das war also die große Debatte über amerikanische Außenpolitik? Obama sagt, ich habe Amerika in Sicherheit geführt: Irakkrieg abgewickelt (hatte Bush schon begonnen), Afghanistankrieg dito. Osama tot. Ich habe Iransanktionen ermöglicht, die endlich wirken. Ich bin Israels bester Freund, auch wenn das Gegenteil behauptet wird (guter Punkt: anders als Romney habe ich keine Fundraiser in Israel gemacht, sondern bin nach Yad Vashem und Sderot gegangen). Und das war es dann auch schon so in etwa.

Romney konterte mit dem Vorwurf, Obama sei auf eine „Entschuldigungstour“ gegangen und habe dabei allerlei problematische Länder aufgesucht (Europa, Ägypten), während er Israel vermieden habe. Er habe auf die iranische Grüne Bewegung zu spät und nicht deutlich genug reagiert (stimmt!), er lasse Entschlossenheit gegenüber dem iranischen Atomprogramm vermissen (Quatsch), während er, Romney, Ahmadinedschad wegen „Völkermord“ zur Rechenschaft ziehen werde (???). Was Ägypten und Syrien, Libyen, Tunesien und Jemen angeht, hatte Romney wenig mehr zu bieten als ein warnendes „Oioioi, da sind Islamisten auf dem Vormarsch“. Zwischen Al-Kaida und Morsis Muslimbrüdern schien er nicht viel Unterschiede zu sehen. Mit China werde er, Romney ordentlich Schlitten fahren, wegen der „Währungsmanipulation“ und des Stehlens von amerikanischen Arbeitsplätzen und Patenten.

Diese Karte zeigt die Welt, wie sie in der Debatte erscheint. Gefunden bei Matt Yglesias.

Zunächst einmal fällt an dieser Auseinandersetzung eine Provinzialität auf, die für die letzte globale Supermacht ein wenig absurd ist. Israel, Iran, Islamismus, fast alles kreiste um die drei I’s. Neben dem Nahen Osten wurde nur China erwähnt, als einziges ostasiatisches Land. Und wenn, dann nur als frecher Emporkömmling, den man durch genügend hartes Auftreten wieder in die zweite Reihe zurückschimpfen muss.

Das ist lachhaft. Spricht man so über seinen Banker? Über die größte aufstrebende Industrienation? Die all die schönen Gadgets herstellt, die unseren „westlichen“ Lebensstil ausmachen.

Indien – die weltgrößte Demokratie, das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, ein trotz Schwierigkeiten erfolgreicher multikultureller Staat, eine aufstrebende Wirtschaftsmacht – wurde mit keinem Wort erwähnt, obwohl es auch mit einem I anfängt.

Europa kam nur vor in Form des Vorwurfs Romneys an Obama, Amerika bewege sich „in Richtung Griechenland“. Auch das ist lächerlich und unwürdig. Europa ist der wichtigste Wirtschaftspartner und trotz seiner momentanen Schwierigkeiten der größte Wirtschaftsraum der Welt. Was sich in Europa abspielt zwischen Zerfallsgefahr und neuer Stabilitätskultur wäre wohl ein, zwei Sätze wert gewesen.

Lateinamerika: Kein Thema. Reiseerlaubnisse auf Kuba: Fehlanzeige. Brasiliens Aufstieg: nie gehört.

Myanmars erstaunlicher Weg aus der Diktatur: Nope.

Russland: Putin nix gut (Romney), sonst ebenfalls kein Thema.

Afrika unterhalb des Magreb und jenseits von Islamismus (Mali wurde erwähnt, weil sich dort Al-Kaida festzusetzen droht): Nö.

Beide Kandidaten sind fixiert in der sträflich beschränkten post 9/11-Weltsicht. Sie sind insofern beide Epigonen von George W. Bush, nur mit unterschiedlichen Konsequenzen. Beide haben den Tunnelblick auf die drei I’s, der 90 Prozent des Weltgeschehens ausblendet.

Die Präsidentschaftswahlen der USA sind ein globales politisches Schauspiel, das weltweit verfolgt wird. Darum war dieser Montagabend ein Schlag ins Kontor. Die Welt hat eine Lektion darüber erhalten, dass die Führungsmacht des Westens nicht versteht, dass nichts mehr so ist wie es einmal war.

 

 

 

Wie Blasphemiegesetze zur Unterdrückung religiöser Minderheiten führen

Ich habe es ja vorhergesagt: Blasphemiegesetze sind des Teufels. In Ägypten sind jetzt zwei minderjährige Kinder koptischer Herkunft wegen Gottelsästerung verhaftet worden, aufgrund der zweifelhaften Aussagen eines radikalen Imams.

Hussein Ibish hat zu der Problematik einen sehr klarsichtigen Essay geschrieben. Der Kampf gegen eine globale Blasphemiegesetzgebung, wie sie jetzt von den Vertretern vieler islamischer Staaten gepusht wird, ist eine entscheidende Front für alle freiheitsliebenden Menschen. Und, um das gleich hinzuzufügen: Eine notwendige Ergänzung – kein Widerspruch! – zum Kampf gegen grassierende Islamhetze:

After all the grandstanding by various Muslim leaders at the recent U.N. General Assembly meeting, and by the Organization of Islamic Conference, on the need for global anti-blasphemy laws, the Egyptian legal system has been thoughtful enough to provide us with a timely demonstration of what such restrictions look like in practice. Two Coptic Christian children Nabil Nagy Rizk, 10, and Mina Nady Farag, 9, were arrested yesterday on charges of „insulting religion“ in the governorate of Beni Suef. The two children are being held in a juvenile detention center awaiting further investigation and possible criminal prosecution.

The children stand accused by the Imam of a local mosque of destroying papers, including some containing Quranic verses. The incident is disturbingly reminiscent of an ongoing scandal in Pakistan in which a Christian girl is being persecuted for allegedly destroying copies or pages of the Quran.

This is what anti-blasphemy laws inevitably lead to: the arrest and persecution of religious minorities, including children, in order to „protect sensibilities“ of religious majorities. What it shows is that anti-blasphemy laws have nothing to do with „respect“ or „sensitivity“ to religious sentiments but are all about authority, control and social domination.

Because these laws appeal to extra-legal and extra-constitutional sentiments, values and principles that exist above and beyond the law itself, they lend themselves perfectly to abusive and discriminatory application. In the case of prosecutions regarding the dissemination of the inflammatory, offensive anti-Islam online video clip „The Innocence of Muslims,“ a Coptic Christian named Albert Saber has been arrested and remains in detention for allegedly posting the clip online. But no measures have been taken against the Salafist Al-Nas television station that broadcast significant portions of the video to its large audience in the earliest effort to whip up a public frenzy that led directly to the violent incidents that rocked the Middle East a few weeks ago.

Al-Nas defended its actions as responsibly alerting the public to a „threat“ to Islam, but in fact it was the principal vehicle for disseminating the content of the clip in the Arab world. Had they ignored it, the ensuing chaos might well never have come to pass. The channel cynically served as the main public relations vehicle for the video, because the Saudi-funded extremist station and its radical backers understood that their political allies would be the direct beneficiaries of public outrage, which they were delighted to stoke to a fever pitch.

Yet they have not been prosecuted under Egypt’s anti-blasphemy laws, because they are extremist Muslims purporting to act „in defense of Islam.“ So anti-blasphemy laws are again revealed to be entirely about social and political context, authority and control, and nothing to do with content.

Amazingly, there has been virtually no pushback or reaction to remarks by the Emir of Qatar Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani in his recent U.N. speech, which sought to place the blame for the violence entirely at the feet of the authors of the video and implicitly exonerated the rioters and extremist organizations behind them for the deaths for which they were directly responsible. He alleged that „freedom should not cross reasonable limits and become a tool to hurt and insult the dignity of others and of religions and faiths and sacred beliefs as we have seen lately, which regrettably led to the killing of innocent people who have not committed any crime.“

This is a perfect window into the through-the-looking-glass world of blasphemy-ban advocates. In this reality, those who engage in offensive speech (and there’s no question that the video is patently Islamophobic and hateful) bear the full responsibility if others cynically exploit their intentional, calculated provocations for their own political and social purposes. If people are killed, that’s the fault of the provocateurs, not the killers. These statements implicitly absolve extremist and violent reactions to provocative speech and suggest that the proper response is not to denounce and yet still protect offensive expression, but to suppress it in order to prevent a violent reaction.

The Emir, in effect, was making common cause with the violent extremists, using their deplorable and criminal behavior as a rationalization for the suppression of offensive speech. It’s a thinly-disguised exercise in bullying, and an updated version of Richard Nixon and Henry Kissinger’s old „madman“ diplomatic strategy: if you don’t make an agreement with me on my terms, you’ll bear the full responsibility for what those other crazy people do.

Of course, it’s an even worse form of bullying to arrest children on trumped up charges of „blasphemy.“ Yet this is happening, time and again, in several Muslim-majority states. The latest examples from Egypt are only the most recent.

That’s what the push for a global anti-blasphemy ban—which will not and must not succeed—is ultimately designed to do: rationalize such oppressive restrictions in those Muslim-majority states where they actually apply. And, in practice, that means religious minorities, including children, will inevitably be subjected to grotesque abuses. If this isn’t a wake-up call for everybody who thinks they are committed to freedom and democracy, I don’t know what will be.

 

Blasphemiegesetze sind keine gute Idee – auch wenn sie Minderheiten schützen

Jetzt wird’s kompliziert. Einerseits freue ich mich, dass in Ägypten etwas gegen die Hassprediger unternommen wird, die das Christentum verhöhnen. Andererseits halte ich die rechtlichen Schritte, die gegen sie eingeleitet wurden, für freiheitsgefährdend.

Bei meinen Gesprächen mit Kopten  und aramäischen Christen in den letzten Wochen wurde immer  wieder erwähnt, dass ein radikaler Prediger in Kairo die Bibel zerrissen und damit gedroht hatte, darauf zu urinieren. Der koptische Bischof Deutschlands, Anba Damian, äußerte sich entsetzt über diesen offenen Akt des Hasses, und auch im syrisch-orthodoxen Kloster Mor Gabriel stieß ich auf Empörung.

In der westlichen Öffentlichkeit hingegen wurde dieses Detail der blutigen Proteste mit Schulterzucken quittiert. Was bedeuten kann: Na ja, so sind sie eben. Was willst du machen? Oder: Das trifft uns nicht, so macht sich dieser Typ doch nur selber zum Schmock. Während Kopten und Aramäer sich durch die symbolische Schändung der Bibel verletzt fühlen, winken wir im Westen ab. Uns von einem solchen Idioten beleidigen zu lassen, würde bedeuten, sich auf seine Ebene zu begeben, denken wir. Sticks and stones may break my bones, but words or names will never hurt me.

Nun hat die ägyptische Generalstaatsanwaltschaft angekündigt, drei Männer wegen Beleidigung des Christentums vor Gericht zu stellen:

Ahmed Mohammed Abdullah soll zusammen mit seinem Sohn während der Proteste gegen den islamfeindlichenUS-Film Die Unschuld der Muslimevor der US-Botschaft eine Bibel zerrissen und dann verbrannt haben. Dabei wurde er gefilmt. In dem im Internet veröffentlichten Video soll Abdullah, der auch unter dem Namen Abu Islam bekannt ist, gedroht haben, auf das Buch zu pinkeln, sollten die Beleidigungen gegen den Islam weitergehen.

In einem Interview mit dem Journalisten Hani Jassin Gadallah soll er sich in der Zeitung Al-Tahrir abfällig über das Christentum geäußert haben. Der Reporter muss sich deshalb ebenfalls vor Gericht verantworten.

Bis zu fünf Jahre Haft für Blasphemie

Dass Abdullah und den beiden anderen Männern nun nach den ägyptischen Blasphemiegesetzen der Prozess gemacht werden soll, werten Beobachter als überraschend. In der Vergangenheit haben diese Gesetze häufig nur dann Anwendung gefunden, wenn es sich um mutmaßliche Verunglimpfungen des Islams handelte. Menschenrechtsgruppen haben die Gesetze wiederholt als Einschränkung der Freiheitsrechte kritisiert. Auf Blasphemie stehen in Ägypten bis zu fünf Jahre Haft.

Als Geste gegenüber der extrem verunsicherten christlichen Minderheit ist es zu begrüßen, dass auch ihr Glaube unter Schutz gestellt wird – und das besonders von einer Regierung, die islamistisch geprägt ist. Letzteres führt zu großer Sorge unter den Kopten, dass sich ihre Marginalisierung noch verstärken wird. Wer weiß, vielleicht kommt es ja nicht so. Offenbar wollen die Behörden in Ägypten verhindern, dass ein Kulturkampfklima im Land greift, dass nur den extremsten Kräften unter den Islamisten nützen würde. Mursi zieht zur Zeit einige rote Linien ein. Auch die Verurteilung der extremistischen Attentäter vor einigen Tagen liegt auf dieser Linie: Die Muslimbrüder machen den radikalen Kräften deutlich, wer regiert.

Aber: Blasphemiegesetze verstellen den Weg zu einer offenen, (religiös) pluralistischen Gesellschaft. Sie sind die autoritäre Lösung des Konflikts um konkurrierende Weltdeutungen und religiöse Geltungsansprüche. Sie können immer auch benutzt werden, um notwendige Kritik zu unterdrücken (auch wenn das hier nicht der Fall ist). Der Blogger Karim Amer, für den ich hier lange Kampagne gemacht habe, war wegen der ägyptischen Blasphemiegesetze vier Jahre in Haft. Dabei hatte er nur die schändliche Komplizenschaft der Religion bei Massakern an Kopten angeprangert (ohne selbst Kopte zu sein, es war ein Aufstand des Gewissens).

Nun wird das Gesetz angewendet, um die Kopten zu beschützen. Kirchenführer  werden sich wahrscheinlich darüber erleichtert zeigen. Das wäre kurzsichtig. Am Ende muss es darum gehen, Hassprediger wie Abu Islam gesellschaftlich zu isolieren und zu marginalisieren. Ein Journalist, der hassvolle Äußerungen über Christen zitiert (ganz egal ob zustimmend oder mit welcher finsteren Absicht), darf nicht allein deshalb strafverfolgt werden: Was heißt das für eine freie öffentliche Debatte? Blasphemie ist  schwer zu definieren: Wer bestimmt, was „verletzend“ ist? Milliarden Christen im Westen haben sich nicht verletzt gefühlt vom Handeln des Vollidioten Abu Islam. Ebenso wie Milliarden Muslime den Pastor Terry Jones für einen Vollpfosten halten, der ihrer Erregung nicht würdig ist.

Der Staat soll den Aufruf zur Gewalt ahnden. Nicht aber die symbolische Gewalt. Leute wie Abu Islam gehören geächtet und verachtet. Nicht in Haft – jedenfalls nicht dafür.