Warum sich Israels Lage im postamerikanischen Nahen Osten verbessert hat

Am Dienstag hatte ich Gelegenheit, mit Generalmajor a.D. Amos Yadlin zu sprechen. Er leitet Israels bedeutendsten Thinktank INSS. Yadlin war Kampfpilot in der israelischen Luftwaffe. Er gehörte zu dem Team, das 1981 den irakischen Atomreaktor Osirak zerstörte. Später diente Yadlin unter anderem als Chef des Militärgeheimdienstes. Im letzten Wahlkampf trat er als Schatten-Verteidigungsminister im (unterlegenen) Lager des Labour-Kandidaten Isaac Herzog an.

DIE ZEIT: General Yadlin, es tobt seit Jahren Bürgerkrieg in Syrien, nun zunehmend unter globaler Beteiligung, es gibt eine russische Intervention, türkisch-russische Spannungen, und der Islamische Staat macht sich in zwei zerfallenen Staaten ihrer Nachbarschaft breit. Erleben wir heute in Israels Region die ersten Momente eines postamerikanischen Nahen Ostens? Weiter„Warum sich Israels Lage im postamerikanischen Nahen Osten verbessert hat“

 

Wie Israel seine chaotische Nachbarschaft sieht

Nun ja, in Israel haben bekanntlich zwei Leute drei Meinungen zum gleichen Sachverhalt. Insofern ist das Folgende natürlich nicht repräsentativ für die gesamte Öffentlichkeit, oder auch nur für ein politisches Lager. Es ist ein Kondensat aus Gesprächen, die ich in der letzten Zeit mit einflussreichen Menschen – eher aus dem mittleren rechten Spektrum – geführt habe, die sich nicht wörtlich zitieren lassen wollen. Das hat den Vorteil, dass sie – so geschützt – sagen, was sie wirklich denken. Ich gebe sie hier in meinen eigenen Worten wider. Diese israelische Position kommt in unserem hiesigen Diskurs kaum mehr vor, weil sie in fast allen Belangen quer zu den Annahmen und Einschätzungen der deutschen Eliten steht. Das scheint mir Anlass genug, sie hier wertungsfrei zur Debatte zu stellen.

Rund um uns herum brechen die künstlichen Nationalstaaten zusammen, sagt der israelische Politiker, und was übrig bleibt, sind Stämme, Ethnien und Religionsgruppen. Wir sind umgeben von Konflikten, die sich an diesen Linien entzünden. Einzig die verbliebenen Monarchien können dem Zerfall widerstehen – Jordanien, die Golf-Königreiche, im Westen Marokko. Sie haben einen Rest von Legtitimität bewahrt. Aber für wie lange reicht das? Niemand weiß es in Wahrheit.

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Syrien als Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs

Mein Wochenkommentar im Deutschlandradio vom vergangenen Samstag (Audio hier):

Mark Sykes hieß der britische Soldat und Diplomat, der den Nahen Osten schuf, so wie wir ihn kennen. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ich möchte eine Linie ziehen vom O in Akko bis zum letzten K in Kirkuk.“ Akko, das liegt am Mittelmeer bei Haifa, Kirkuk im Norden Iraks.

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Warum Syrien nicht in die Hände der Radikalen fallen wird

Letzte Woche war Sadiq Jalal al-Azm in Berlin bei einem Kongress der Ebert-Stiftung. Ich hatte ihn seit Jahren schon sehen wollen. Nun gab der Krieg in Syrien seiner Rede einen besonderen Hintergrund.

Al-Azm ist vielleicht der wichtigste lebende Vordenker der arabischen Liberalen, ein Aufklärer und Streiter gegen autoritäre Herrschaft und gegen die arabische Selbstviktimisierung. Der Sohn einer syrischen Bürgerfamilie, der den „Damaszener Frühling“ von 2000 mit begründete, lebt heute in Beirut. Wie würde er die Rolle des politischen Islams angesichts der jüngsten Ereignisse in der arabischen Welt, und angesichts des Krieges in Syrien beschreiben? Ich gebe im folgenden meine Notizen wieder.

Er begann mit dem Rückgriff auf die Ereignisse seit dem Januar 2011 in Tunesien und Ägypten. Die Revolte bedeutete die Rückkehr der Politik zu den Menschen, und zugleich die der Menschen zur Politik. Denn unter den autoritären Herrschern hatte es keine wirkliche Politik geben können. Die Macht wurde durch die Revolte „aus den Händen der Söhne“ gerissen. Es sollte keine Vererbung der Herrschaft mehr geben, es ging um die Rückkehr des öffentlichen Lebens zum Volk.

Die perfektionierte Unterdrückung in Syrien durch das Sicherheitssytem Assads machte es unmöglich, den Weg der anderen arabischen Länder zur Selbstbefreiung zu gehen.

Aber durch den „Damaszener Frühling“ von 2000-2001, so al-Azm, „haben wir eine Vorbildrolle gespielt, unsere kritischen reformerischen Ideen waren einer der Samen des Wandels“. (Al-Azm war Erstunterzeichner der „Erklärung der 99“ und der „Erklärung der 1000“, in denen syrische Intellektuelle Demokratie und Rechtsstaatlichkeit forderten.)

Aber erst auf dem Tahrir-Platz konnte die arabische Öffentlichkeit die Erfahrung machen, dass wir „nicht mehr einen Führer brauchen, dass die Massen es alleine schaffen können“, die Herrschaft der Autokraten zu stürzen.

Anfangs gab es eine intensive Beteiligung von Frauen am Protest, und es gab keine sexuelle Belästigung, die sonst den Alltag in Kairo vergiftet. In einem kreativen, karnevalistischen Klima stürzte das Regime. Christen waren auch mit dabei, und sie zeigten ihre Kreuze, während daneben muslimische Prediger zum Gebet riefen.

All das wurde angefeuert von den Neuen Medien, die nicht kontrolliert werden konnten vom Geheimdienstsystem.

In Syrien aber war eine solche Entwicklung nicht möglich, weil das Regime mit aller Härte auf die ersten Demonstrationen reagierte.

Es ist irreführend, von einem „Bürgerkrieg“ in Syrien zu sprechen, anders als seinerzeit im Libanon, wo der Begriff treffend war.

In Syrien stehen nicht Kurden gegen Christen, Drusen gegen Sunniten, Sunniten gegen Ismailiten. Dort stand von Beginn an das Regime gegen die Bürger, die sich nicht mehr bevormunden lassen wollen.

Der Extremismus des Assad-Regimes ist unvergleichbar mit der Reaktion der anderen betroffenen autoritären Herrscher der Region. Und die Revolution reagiert darauf ihrerseits extrem.

Es ist wichtig, die Rechte der Minderheiten im Blick zu behalten. Aber im syrischen Fall sind es vornehmlich die Städte, Viertel und Dörfer der sunnitisch geprägten Mehrheit, die beschossen und zerstört werden.

Man tut den sunnitischen Syrern Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, sie würden im Zuge der Revolte die Minderheit entrechten.

Syrien droht geopfert zu werden auf dem Altar der Geopolitik. Große Mächte wie Russland und Iran, Saudi-Arabien und Katar spielen ihre Machtspiele. Die arabischen Linken sind ein Teil davon, wenn sie die Rhetorik des „Arabischen Herbstes“ oder „Winters“ übernehmen, der angeblich den „Frühling“ abgelöst habe. Das verzerrt die Wahrheit über die syrische Revolution.

Die Islamisten wollen heute die Gelegenheit nutzen, die Oberhand zu erlangen.

Der politische Islam ist eine entscheidende mobilisierende Kraft. Man muss ihn als politische Ideologie unterscheiden von einer normalen religiösen Praxis.

Es gibt heute eine Mehrzahl von Strömungen, zwischen denen ein Ringen um Deutungshoheit entbrannt ist. Drei Kräfte sind grob zu unterscheiden. Da ist „der Islamismus der Petrodollars“ aus dem Iran und den Golf-Staaten.

Zweitens gibt es die Dschihadisten ohne eigenen Staat (wenn auch mit Unterstützung aus Ölstaaten).

Das ist der Islamismus, der die einst Kaaba besetzt hielt und Saddat ermordete, und der für den 11. September verantwortlich ist. Es predigt einen „nihilistischen Islam“, einen „Islam der Exkommunikation und Explosion“. Von ihm zu unterscheiden, wenngleich auch gewalttätig, ist der Islamismus von Hisbollah und Hamas, in dem Restbestände der (früher säkularen) nationalen Befreiungsbewegungen enthalten sind. Doch haben beide Bewegungen auf der Grundlage ihres Konfessionalismus (schiitisch die Hisbollah, sunnitisch die Hamas) das Motiv der Befreiung ad absurdum geführt.

Drittens gibt es einen politisierten Islam der Mittelklasse, des Basars, der Banken, der Bourgeoisie. Einen Islam der Zivilgesellschaft, der konservativ, aber gemäßigt ist. Er will sozialen Frieden und Stabilität für die Geschäfte der aufsteigenden Klassen. Dieser Islam gibt Grund zu Optimismus, weil er „Exkommunikation und Explosion“ ablehnt. Am deutlichsten sichtbar ist seine Wirkunsgform bisher vor allem in der Türkei, in Form der AKP. Der Verzicht dieser Partei, die frühere islamistische Formationen beerbt, auf zentrale Elemente der Ideologie – keine Wiedererrichtung des Kalifats, keine Schariaherrschaft – ist etwas Neues.

Ob das türkische Modell sich auch in Tunesien durchsetzen wird, unter Führung von Raschid Ghannouchi, wird interessant zu beobachten sein.

Was wir derzeit erleben, ist der Kampf zwischen den drei Linien des politischen Islams. Für die Muslimbrüder wird es entscheidend sein, wie sie sich mit den beiden anderen Islamismen – dem Islam der Petrodollars und dem von „Explosion und Exkommunikation“ auseinandersetzen.

Al-Azms Heimat Syrien, sagte er in Berlin, werde nicht islamistisch. Nach einer Phase des Chaos, ist er sich sicher, werden sich „bei uns die Moderaten durchsetzen“. Der Business-Islam der Bourgeoisie wird sich gegen Dschihadisten und Petro-Islam durchsetzen: „In Syrien hat ein Islam, der Schulen und Universitäten schließt und Frauen die Arbeit verbietet keine Chance.“

Der Moderator schloß mit den Worten an: „Ihr Wort in Gottes Ohr, verehrter Professor.“

 

Gegen die Vermessenheit westlicher Moralpolitik

Leser Gerald Enderlein schickt mir folgende Entgegnung auf meinen Essay zur „Diktatorenknutscherei“ in der deutschen Außenpolitik. Ich veröffentliche ihn hier als Teil einer Debatte. Bisher hatten sich Eberhard Sandschneider von der DGAP und Hans-Georg Wieck (Ex-BND-Chef) geäußert. Nächste Woche wird die Debatte mit einem Beitrag von Gerhart Baum (FDP) fortgesetzt.

Herr Lau,

wer ist in Ihren Vorstellungen ein „Schurke“? Sie erwähnen Pinochet zusammen mit Putin und den chinesischen Regierungsvertretern. Wenn Sie bei Ihren Vergleichen so großzügig sind, warum erwähnen Sie nicht auch die Herren Berlusconi, der ja wahrscheinlich Wählerstimmen gekauft hat, und Orban, der die demokratischen Freiheiten eingeschränkt hat, oder Rajoy, bei dem es ja auch nicht ganz ohne Korruption zuzugehen scheint?

Glauben Sie, dass die chinesischen Menschen heute zufriedener und glücklicher wären, wenn nicht die jetzigen Schurken an der Macht wären, sondern es Dissidenten gelungen wäre, in China eine Scheindemokratie zu errichten? Das hätte genau so wenig funktioniert wie in Irak und in Afghanistan. Ich will damit nicht sagen, dass das jetzige chinesische System das bestmögliche und nicht zu kritisieren sei, ich will aber sagen, dass es leichter ist, gute Ratschläge zu geben, als ein Land wie China praktisch und nicht nur theoretisch zu führen und zu demokratisieren.

Oder glauben Sie, dass irgendeine Arabellion das Problem der arbeitslosen Jugendlichen löst? Wir schaffen es doch nicht einmal, so viel Geld bereitzustellen, dass die griechischen und spanischen Jugendlichen Arbeit finden. Genausowenig schaffen wir es, die reichen Griechen und Spanier daran zu hindern, Steuern zu hinterziehen. Und dafür, dass es nach dem Bürgerkrieg in Syrien nicht grundsätzlich anders wird als vorher, unterstützen wir eine der Bürgerkriegsparteien und halten es nicht für erforderlich, im Sicherheitsrat eine Einigung darüber zu erreichen, dass jegliche Unterstützung von außen (auch von Seiten einiger Golfstaaten und des Iran) unterbunden wird. Das Ergebnis: Zigtausend Tote, noch mehr Verletzte und Millionen Flüchtlinge.

Wenn man längere Zeit im Ausland gelebt hat, nicht im Hotel mit Kontakt vor allem zu Regimekritikern und Dissidenten, sondern zusammen mit Einheimischen, dann weiß man, dass für Menschen in anderen Ländern zum Teil andere Dinge wichtig sind als für uns hier in Deutschland. Oft gehört Korruption zum Alltag der Menschen, viele Waren und Dienstleistungen erhalten sie nur, wenn sie sich in ausreichender Weise dem Lieferanten oder Dienstleister erkenntlich zeigen.

In vielen Ländern gibt es einen sehr hohen Anteil an jungen Menschen und demzufolge eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Große Teile der Bevölkerung leben unter so schlechten Verhältnissen, dass für sie gewaltsame Veränderungen verbunden mit Risiken für Leib und Leben durchaus vorstellbare Optionen sind. Dazu kommt, dass der Besitz von Schusswaffen weiter verbreitet ist als in Deutschland. Es gibt Länder, in denen zwei oder mehrere Ethnien mit jeweils vergleichbarer Bevölkerungsstärke leben, zwischen denen erhebliche Spannungen bestehen. Die Unterschiede zwischen dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung der Großstädte, die sich zum Teil an westlichen Maßstäben orientieren, und der Masse der Bevölkerung bergen ebenfalls sozialen Zündstoff. Manche Länder sind so groß und schlecht organisiert, dass die in der Hauptstadt konzentrierte Staatsgewalt an der Peripherie nur geringen Durchgriff hat. Historisch gewachsene Stammes- und Sippenstrukturen spielen eine große Rolle.

Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie unsere Demokratie aussehen würde, wenn Deutschland und Mitteleuropa vor ähnlichen wie den von mir beschriebenen Herausforderungen stehen würde. Auf jeden Fall wäre die Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung viel größer als heute und es ergäbe sich die Möglichkeit, dass z.B. die Russen oder die Chinesen oder die Türken aktiv in die deutsche Politik eingreifen würden, indem sie z.B. im Wahlkampf ihnen zugeneigte politische Gruppierungen finanziell ausstatten würden. Ich bin überzeugt, dass dann auch unser Leben nicht so relativ gewaltfrei wäre wie es jetzt ist, und dass härtere staatliche Maßnahmen erforderlich wären, um eine gewisse Stabilität zu sichern.

Man muss sich auch die Frage stellen, was in einem konkreten Land Demokratie ist – das, was sich die Mehrheit der Bevölkerung wünscht, oder das, was wir uns wünschen, und mit uns die in den Großstädten lebenden Dissidenten.

Ich jedenfalls halte es für vermessen, um nicht zu sagen für überheblich, wenn wir uns anmaßen, die Regierenden anderer Länder in der von Ihnen beschriebenen Weise zu verurteilen. Ich glaube, dass unter den von mir beschriebenen Umständen trotz vieler demokratischen Defizite und sogar Menschenrechtsverletzungen die Leistung mancher ausländischen Regierung für ihr Volk höher einzuschätzen ist als die vieler von uns als demokratisch eingestuften Regierungen.

Wenn wir als Deutsche den Anspruch stellen, als moralische Instanz auftreten zu wollen, sollten wir uns die Frage stellen, was wir bewirken, wenn wir von oben herab andere belehren oder gar das Gespräch mit ihnen ablehnen. Was für positive Folgen hätte es z.B. gehabt, wenn die Bundesregierungen nicht mit Herrn Mubarak gesprochen hätten? Wäre Ägypten heute schon eine Demokratie oder hätten die Muslimbrüder das Land jetzt fest im Griff?

Mir kommt diese ganze Diskussion vor wie der Slogan „Nazis raus“. Wohin denn wollen wir sie exportieren, und wen wollen wir mit diesen Leuten beglücken? Es geht nicht. Also müssen wir sie entweder alle einsperren oder mit ihnen reden.

Sicher gibt es Regimes, die verantwortlich sind für schlimme Gewalttaten bis zum Völkermord. In diesen Fällen sollten wir auch nicht zögern, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir sollten uns aber bei unserer Kritik immer auch bewusst sein, dass der Westen Regimes wie das des Herrn Pinochet nicht nur toleriert, sondern aktiv unterstützt hat und dass vieles, was einige von uns äußern, vor diesem Hintergrund sehr scheinheilig klingt.

 

Warum Israel gut mit den Muslimbrüdern kann

Wenn es Benjamin Netanjahu gelingen sollte, in der laufenden Nachspielzeit doch noch eine Regierung zu bilden, wird Präsident Obama in genau zwei Wochen seine erste Israelreise (im Amt) antreten. Er wird dann auch in Ramallah erwartet. Aus Gesprächen mit gut informierten palästinensischen Kreisen konnte ich folgende Einschätzung der Lage in der Region destillieren. Ich gebe hier wertfrei eine (!) palästinensische Sicht wieder, so weit sie sich mir erschließt. Im Licht der Umbrüche rings um Israel und Palästina schien es mir interessant, die Lage gegen den Strich zu bürsten. Wie gesagt, das folgende ist nicht meine Einschätzung, sonder eine Rekonstruktion.

Israel ist sehr zufrieden mit der Waffenruhe nach dem letzten Gaza-Krieg. Es hat, bis auf eine folgenlos gebliebene Rakete, die gen Aschdod gefeuert wurde, keinen Zwischenfall gegeben. Israelische Sicherheitskräfte haben ihrerseits in den letzten Wochen viele Male eingegriffen. Obwohl die andere Seite diese Aktionen als Bruch der Waffenruhe hätte sehen können, wurde auf Reaktionen verzichtet.

Israel ist auch sehr zufrieden mit der Kooperation der Ägypter unter Mursi. Tunnel werden geschlossen, geflutet und zerstört, ein Gericht in Kairo hat das so verfügt. Mursi hat die Streikräfte zu strikter Bekämpfung islamistischer Gruppen im Sinai angewiesen. Der Bewegungsraum der Hamas hat sich nicht verbessert. Hamas ist enttäuscht bis entsetzt, man hatte sich von Mursi und der MB mehr versprochen. Doch der tut alles, um sich gegenüber Israel und USA als zuverlässig zu erweisen. Kerry hat bei seinem Besuch denn auch gleich einmal 250 Mio Dollar zugesagt.

Mursi ist derzeit für Israel besser als Mubarak, noch nie war die Sicherheitszusammenarbeit so gut. Was Hamas nicht versteht: Es geht Mursi um die Konsolidierung der Macht in Ägypten, und da stört Gaza derzeit nur. Er braucht Ruhe an dieser Front, um das eigentlich MB-Ziel voranzutreiben: Den Staat unter seine Kontrolle zu bringen. Israel und Gaza sind nicht relevant bzw. können warten. Man muss zunächst Staat und Gesellschaft in Ägypten durchsetzen und islamisieren, bevor man sich solchen Zielen zuwendet. Die Verbreitung des Islams und die Islamisierung der Gesellschaft sind wichtigere Ziele als das Wohl der Palästinenser.

Israel kann damit derzeit sehr gut leben. Es möchte gerne eine Freihandelszone zwischen Ägypten und Gaza sehen, als ersten Schritt auf dem Weg, Gaza an Ägypten anzugliedern. Mursi will das nicht. Er sieht genau, dass er sich mit den schwer kontrollierbaren radikalen Gruppen in Gaza nur Ärger einhandeln würde.

Der Westen macht mit seiner Unterstützung Mursis den gleichen Fehler wieder, den schon die Politik gegenüber Mubarak machte: Stabilität auf Kosten von Freiheit und Demokratie. Man orientiert sich schlicht an den neuen Machthabern und den bestorganisierten Kräften – also der MB – und scheut die Einmischung, um das fragile Machtgefüge nicht zu gefährden.

Die westliche Haltung im Konflikt in Syrien ist aus palästinensischer Sicht derselben falschen Gleichgewichtspolitik geschuldet: das Land soll ausbluten. Man duldet die Waffenlieferungen an die die Rebellen, auch an die extremsten Dschihadisten, solange sie zu einem Patt mit der Regierung führen. Mehr tut man dann aber bezeichnender Weise nicht. Es ist darum lächerlich, dass nun schon seit über einem Jahr immer wieder gesagt wird, „die Tage von Assad sind gezählt“. Es scheint dem Westen gar nicht unrecht zu sein, dass sich eine neuer Status Quo einpendelt, der das Land lähmt, weil es mit sich selbst beschäftigt ist. Assad hat seine Fähigkeit verloren, in der Region zu stören, die Aufständischen können das ganze Land einstweilen nicht kontrollieren. So weit ist das erst einmal das bestmögliche Ergebnis. Sollten sich die Islamisten auch hier durchsetzen, wird der Westen einen Deal machen, wie er sich mit Ägypten bereits abzeichnet.

Das Gleiche ist zu erwarten, wenn Hamas sich unter den Palästinensern durchsetzen sollte. Der Westen setzt überall auf die vermeintlich starke Kraft, die MB und ihre Offshoots. Hamas hätte bei freien Wahlen in der Westbank gute Chancen. In Gaza ironischer Weise nicht, weil die Menschen dort nur Korruption, Unfreiheit und Inkompetenz erlebt haben. Khaled Meschal, der Hamas-Chef, rechnet sich aus, Abbas‘ Nachfolger als palästinensischer Präsident zu werden.

In der Westbank ist sie Lage sehr angespannt. Wegen der Finanzkrise und den israelischen Strafmaßnahmen (Steuergelder wurden nach der UN-Abstimmung einbehalten) sind viele Beamte und Sicherheitskräfte seit Monaten ohne Lohn. Hungerstreiks von Gefangenen und Demonstrationen wegen des Todes eines Gefangenen in israelischer Administrativhaft zwingen die PA, auf einem „sehr dünnen Draht“ balancieren. Es gibt allerdings kein Interesse an Chaos, das Vorwände für israelisches Eingreifen bieten würde.

Wenn die PA gewaltsam gegen Demonstranten vorgeht, könnte das eine Revolution auslösen. Israel hat auch Angst vor einer dritten Intifada: Die einbehaltenen Steuern wurden nach den jüngsten Unruhen sofort überwiesen, jedenfalls für den Monat Januar. Der Ärger wegen der UN-Anerkennung war da nicht mehr so wichtig.

Von Obamas Besuch wird nicht viel erwartet. Es ist klar, dass er nicht mit einer großen Initiative kommt. Worin sollte sie auch bestehen? Aus palästinensischer Sicht gibt es nichts Grundlegendes mehr zu verhandeln, nur Prozedurales, wenn man denn eine Zweistaatenlösung will.

In Annapolis wurde bereits der entmilitarisierte Status des Westjordanlandes unterschriftsreif ausverhandelt. „Wir wollen keine Armee, keine Luftwaffe, keine Panzer.“ Aber eben auch keine israelische Präsenz nach der Einigung. Eine internationale Präsenz – Uno, Nato, USA, egal wer – soll den legitimen israelischen und auch den palästinensischen Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. Inklusive Frühwarnstationen für Israel, aber eben nicht besetzt mit israelischen Soldaten.

Über den Status Jerusalems gibt es ebenfalls nichts Grundsätzliches zu verhandeln. Als künftige Hauptstadt ist es unaufgebbar. Es geht auch hier nur um das Wie, nicht das Ob.

Die Grenzen von ’67, mit wechselseitig akzeptablem Landtausch, müssen Grundlage sein. Auch beim Rückkehrrecht für Flüchtlinge kann es nicht ums Prinzip gehen, das unverhandelbar ist, sondern nur um die Zahl. Hier war mit Olmert schon eine Einigung erzielt. Man muss also nicht bei Null anfangen.

Verhandlungen auf solcher Grundlage sind höchst unwahrscheinlich. Es gibt kein Vertrauen in den israelischen Willen hierzu.

Dazu tragen auch Berichte bei, dass an der Alternative zur Zweistaatenlösung gearbeitet werde. Weil auch in Israel der Glaube daran schwindet und Netanjahu sie ohnehin nicht will, gewinnt die Idee einer Konföderation der palästinensischen Gebiete mit Jordanien erneut an Fahrt.

Diejenigen Teile der Westbank, in denen palästinensische Verwaltung herrscht, würden dann mit Jordanien zusammengeschlossen, und die Palästinenser könnten politische Rechte in dieser Konföderation erhalten – statt in einem eigenen Staat. Netanjahu hat in den letzten Wochen mehrfach mit König Abdullah gesprochen, offiziell über den Friedensprozess und Syrien, aber sicher auch über die Idee der Konföderation.

Es sei nicht unwahrscheinlich, dass Jordanien auch bald eine MB-geführte Regierung bekomme. Den Muslimbrüdern passe die Konföderations-Idee gut in den Kram. Für sie sind Territorialfragen ohnehin nicht so wichtig wie die Herrschaft des Islams, für den man die politische Macht brauche. Man denke in langen Zeiträumen. MB an der Macht in Ägypten, Gaza, Jordanien – und dann auch in der Westbank – das ist viel wichtiger und erstrebenswerter als die Erringung eines (ohnehin nur eingeschränkt) souveränen Nationalstaats auf dem Restgebiet der Westbank, wie es Abbas anstrebt.

Dass die prioritäre Verfolgung des Zieles der Machtergreifung durch die MB mit der Verhinderung eines solchen Staates in der Westbank bestens zusammengeht, schafft unwahrscheinlichste Interessenkoalition, meint die ziemlich desillusionierte palästinensische Quelle: eine (geheime) Koalition nämlich zwischen den Muslimbrüdern und der israelischen Regierung, deren wichtigstes Ziel ja ebenfalls genau in dieser Verhinderung besteht.

 

Der sinnlose Kampf gegen die Homo-Ehe

Heute musste ich, unter dem Eindruck der CDU-Debatte über die völlige rechtliche Gleichstellung für Homosexuelle, an den „Gesprächsleitfaden“ für Einbürgerungstests denken, den das Land Baden-Württemberg im Jahr 2006 erstellt hatte. Da gibt es diese beiden Punkte:

29. Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie?

30. In Deutschland haben sich verschiedene Politiker öffentlich als Homosexuelle bekannt. Was halten Sie davon, dass in Deutschland Homosexuelle öffentliche Ämter bekleiden?

Volker Kauder, ein Politiker aus Baden-Württemberg, sagt heute im Spiegel: „Die Union will keine Homo-Ehe, und daran hat sich nichts geändert.“

Gegen die „Homo-Ehe“ zu sein bedeutet nicht notwendigerweise, homophob zu sein (wobei sich das natürlich oft überschneidet). Kauder möchte die Institution der Ehe schützen, die in seiner christlich geprägten Weltsicht einzig und allein für heterosexuelle Paare offen sein darf. So sehen das natürlich auch viele gläubige Muslime, um nicht zu sagen: so gut wie alle. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich meine nicht, dass nur der, der für volle rechtliche Gleichstellung Schwuler und Lesben hierzulande ist, auch das Recht hat, die himmelschreiende Ungerechtigkeit anzuprangern, die Menschen mit solcher Orientierung in islamisch geprägten Ländern (aber weiß Gott nicht nur da, siehe weite Teile Afrikas!) angetan wird. Ich vergleiche auch nicht die letzten Reserven konservativer Politiker hierzulande mit dem Schwulenhass in anderen Teilen der Welt. Das wäre bizarr und würde verkennen, wie weit sich dieses Land bewegt hat.

Aber es ist schon pikant: 2006 fand man es opportun, in einem christdemokratisch regierten Land die einbürgerungswilligen Moslems zu zwiebeln, indem man eine progressiv-liberale Einstellung zu Schwulen und Lesben zum Maß der Zugehörigkeit zur deutschen Wertegemeinschaft machte. Die Verdacht war natürlich, vielleicht auch die Hoffnung, dass viele wegen der endemischen Homophobie im Islam scheitern würden. (Ist nicht so gekommen. 98% bestehen den Einbürgerungstest.) Die Fragen über Homosexualität werden heute übrigens nicht mehr gestellt, und das ist auch gut so. Aber dies ist erst nach öffentlichem Protest so gekommen. Es war eine ziemliche Heuchelei, dass Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Maßstab gemacht werden sollte.

Das zeigt die hilflose Unionsdebatte dieser Tage.

Um weitere Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin sehr dafür, eine Debatte über islamisch begründete Homophobie zu führen (und habe das hier auch immer wieder getan). Wenn das aber aus durchsichtigen taktischen Gründen geschieht (weil man das Zurückgebliebene und Hinterwäldlerische am Islam herausarbeiten will, während einem die Schwulen und Lesben herzlich egal oder gar unsympathisch sind), wenn dann noch im Gegenzug das Nein zur „Homo-Ehe“ (welch ein Wort!) zum letzten Alleinstellungsmerkmal des Konservatismus gemacht wird, nachdem Atomkraft und Wehrpflicht futsch sind – dann wirkt das doch reichlich verlogen.

Noch einmal: Ich unterstelle Volker Kauder keine Homophobie, und auch der Kanzlerin nicht, die jetzt ein „Machtwort“ in der Sache gesprochen haben soll. Volker Kauder hat einen ausgesprochenen Sinn für (andere) Minderheiten und ihre Rechte. Ich schätze Kauders Engagement für verfolgte Christen weltweit. Wo immer ich bei meinen Reisen im letzten Jahr hinkam – ob bei bedrängten Christen in der Türkei oder in Ägypten, Kauder war immer schon da gewesen. Das ist keine Kleinigkeit.

Aber er und Merkel führen die Christdemokraten soeben in eine sehr enge und dunkle Gasse, scheint mir. Das Verfassungsgericht wird die volle rechtliche Gleichstellung fordern, spätestens vor der Sommerpause, wenn das Urteil zum Ehegattensplitting erwartet wird. Es gibt einfach kein schlagendes Argument dagegen. Wer homosexuellen, verheirateten (verpartnerten) Menschen die gleichen Pflichten auferlegt wie denen in anderen Beziehungen, der kann ihnen auch die Rechte nicht verweigern, die den anderen zukommen.

Eine Regierung, die sich im Ausland durch einen verheirateten Homosexuellen vertreten lässt, macht sich lächerlich, wenn sie solchen Lebensgemeinschaften, wie sie Guido Westerwelle und Michael Mronz bilden, volle Rechte verwehrt. Kauders Basta-Spruch über die „Homo-Ehe“ ist für Westerwelle und Mronz ein Schlag ins Gesicht.

Offensichtlich geht es hier darum, noch einmal an einer Stelle „Flagge zu zeigen“, ganz egal ob das sinnvoll oder durchhaltbar ist. Das ist deshalb so sinnlos, und zeigt damit die inhaltliche Ausgehöhltheit des deutschen Konservatismus, weil hier ein konservativer Impuls bestraft wird: der Wunsch der Schwulen und Lesben, als Teil derselben Wertegemeinschaft anerkannt zu werden, für die Kauder zu stehen beansprucht. Wir sind genauso verantwortungsvoll, bindungs- und liebesfähig wie ihr. Ja, wir wollen so sein wie ihr, so leben wie ihr. Warum soll man das zurückweisen? I don’t get it.

Was ich nicht verstehe, ist die Blindheit der Union für diese konservative Wende in der Schwulenbewegung: Mit der Öffnung der Ehe für andere Lebensformen wird diese Institution ja nicht geschwächt, sondern bestärkt. Ehe ist offenbar so attraktiv, dass selbst Schwule und Lesben sie wollen. Das ist eigentlich ein urkonservativer Impuls, den die „kulturrevolutionäre“ Fraktion unter den Homo-Aktivisten auch deshalb immer abgelehnt hat. (Die glaubte immer, dass Homosexualität ein Weg aus „Zwangsheterosexualität“ der Gesellschaft ist, eine Art dritter Weg.)

Es gibt keine stichhaltigen Gründe, adoptionswillige schwule oder lesbische Paare anders zu behandeln als heterosexuelle. Selbstverständlich soll deren Zuverlässigkeit geprüft werden, wie es alle anderen auch über sich ergehen lassen müssen.

Es gibt keine Gründe, einer solchen Lebensgemeinschaft das Ehegattensplitting zu verweigern und sie also steuerlich schlechter zu stellen als „normale“ Ehen. Das Splitting sollte ohnehin abgeschafft werden, weil es nicht (oder nur mittelbar) den Kindern zugute kommt, an denen es Deutschland mangelt. Es ist eine überlebte Subvention der Hausfrauenehe, eine Prämie für Gehaltsungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es könnte durch ein „Familiensplitting“ ersetzt werden, bei dem die Zahl der Kinder die steuerliche Begünstigung bestimmt.

Die Union hat die Chance verpasst, die wertkonservative Wende der Schwulen und Lesben für sich zu nutzen. Sie verteidigt eine sinnlose Position, von der sie heimlich weiß, dass sie bis zu den Sommerferien geräumt werden muss. Man wird ihr dann zu Recht vorwerfen, den Konservatismus weiter ausgehöhlt zu haben.

 

 

Ein Treffen mit arabischen Bloggern und Journalisten

„Noch niemals wurde die Meinungsfreiheit in Ägypten so eingeschränkt.“ „In unseren Ländern gibt es nach der Arabischen Revolution eine absolute Freiheit der Presse.“

Die letzten drei Tage habe ich in Barcelona verbracht, bei einem Treffen mit arabischen Journalisten, Bloggern, Menschenrechtlern (gefördert von der Mittelmeer-Union und der Anna-Lindh-Stifung). Zwischen den beiden oben genannten Sätzen oszillierte die Selbstdarstellung der Kollegen. Wahrscheinlich stimmt beides.

Frustration, Wut und Erschöpfung konnte man aufseiten der Aktivisten erleben. Lina Ben Mhenni, die mit ihrem Blog „A Tunisian Girl“ maßgeblich am Beginn der Revolte beteiligt war, wirkte extrem desillusioniert und ausgepowert. Sie sprach von zunehmenden Attacken, auch von physischen Bedrohungen gegen selbstbewusste, freiheitsliebende Blogger wie sie. Ganz offensichtlich hat die Ermordung Belaids sie mitgenommen.

Hani Shukrallah aus Kairo, eine der wichtigsten säkularen Stimmen der ägyptischen Debatte, berichtete von Hetze in salafistischen und MB-nahen Medien gegen ihn und andere Liberale. Es seien unter Mursi mittlerweile mehr Journalisten und Blogger wegen „Beleidigung des Präsidenten“ belangt worden als unter Mubarak. Rasha Abdullah, die an der Uni Kairo über Journalismus forscht, sprach ebenfalls davon, die Meinungsfreiheit sei „auf dem Rückzug“ in Ägypten. Zwar seien die Bürger heute schwerer einzuschüchtern als vorher und lehnten sich gegen die Autoritäten auf, aber der Preis dafür sei hoch, und dies sei eben nicht mit Pressefreiheit zu verwechseln.

Der aus Tunesien stammende Journalist Noureddine Fridhi (für Al-Arabya in Brüssel) sagte, es gebe in Tunesien keine staatliche Zensur und somit eine beispiellose Pressefreiheit. Doch sei die Medienlandschaft extrem polarisiert und tendenziös. Unternehmer und politische Kräfte unterhalten Medien als Propagandamittel zur Beförderung ihrer jeweiligen Agenda. der so entstehende Pluralismus sei extrem verwirrend für das Publikum, weil die immer gleichen Positionen auf einander treffen.

Um ein realistisches Bild von der Lage im Land zu bekommen, sei man auf ausländische Medien angewiesen (was wiederum vor allem Eliten nutzen können). Das bestätigte die Leiterin der Auslandsprogramme von France 24, Karin Osswald: Frankreichs internationaler Sender ist heute in Tunesien die Nummer Eins, vor Al Jazeera und Al Arabya – auch eine erstaunliche Ironie.

Der Kollege Lotfi Hajji von Al Jazeera in Tunesien, der zusammen mit Noureddine Fridhi auf meinem Podium saß, erging sich lange in Anschuldigungen gegenüber dem Westen, der „den Islam“ falsch darstelle. Selbst wenn dem (immer noch?) so wäre (was ich bestreiten möchte), muss man fragen: Ist das Tunesiens Problem? Fridhi hingegen beschuldigte Al Jazeera, „der Sender des Islamisten“ zu sein, jedenfalls werde das in der tunesischen Gesellschaft so wahrgenommen. Hajji schüttelte zwar den Kopf, wich aber aus, er sei kein Sprecher und dürfe sich zur Redaktionspolitik nicht äußern.

Die beiden entscheidenden Networks der arabischen Welt haben unterschiedliche Rote Linien: Al Jazeera kann nicht über katarische Interessen in der Region berichten, über die Politik des Emirs, überall die Muslimbrüder und ihre Ableger an die Macht zu bringen – es ist ja ein Instrument dieses Kampfes. Al Arabya blendet saudische Interessen aus, und infolge dessen etwa die Niederschlagung des Aufstands in Bahrein.

Immerhin wurde dies in Barcelona angesprochen, von einer super mutigen jungen syrisch-polnischen (!) Kollegin namens Rima Marrouch. Es war ein bisschen erschütternd zu sehen, wie die beiden etablierten Kollegen von den mächtigen arabischen TV-Sendern einfach passen mussten, als Rima sie fragte, warum Al Jazeera nichts über die Exzesse der Islamisten (auch in Syrien) berichtet und Al Arabya nichts über den Hintergrund des Aufstands in Bahrain.

Trotz aller Rückschläge vermittelten die Kollegen – sehr viele unter ihnen übrigens Frauen – den Eindruck, dass sie nicht klein beigeben werden. Hani Shukrallah wurde auf Druck der Muslimbrüder in eine frühere Pensionierung gedrängt. Seine Leitung des Internetauftritts des staatlichen Al Ahram Medienkonzerns war offenbar zu unabhängig.  Er ist zuversichtlich, dass er seinen Job in die Hände von leuten übergeben kann, die ebenso aufmüpfig sind wie er selbst.

Die freiheitsliebenden arabischen Blogger und Journalisten richten sich auf einen langen Kampf ein.

 

Raus aus der Moralecke!

Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor und Leiter des Thinktanks der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik antwortet in der ZEIT von morgen auf meinen Artikel aus der letzten Woche, in dem ich die Nähe der deutschen Außenpolitik zu Diktatoren und Halbdemokraten kritisiert hatte:

Die Debatte um die deutsche Außenpolitik ist sehr viel besser als ihr Ruf. Sie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten entsprechend den Veränderungen in der Weltpolitik, aber auch der neuen Rolle Deutschlands in einem Maße entwickelt, wie man es zu Beginn der neunziger Jahre noch kaum für möglich gehalten hätte.

Dennoch wirkt sie immer wieder regelrecht moralinsauer.

Das mag damit zusammenhängen, dass in dieser Debatte vielfach Extrempositionen bezogen werden: Auf der einen Seite geht es um Werte, auf der anderen Seite um ökono-mische, bestenfalls um sicherheitspolitische Interessen. Fälschlicherweise unterstellt die Debatte, dass beides in einem Widerspruch zu-ein-an-der steht. Werte und Interessen lassen sich nicht trennen – und dürfen auch nicht getrennt werden, wenn es um eine Au-ßen-poli-tik geht, die nach Glaubwürdigkeit als Voraussetzung für Erfolg strebt.

Aber glaubwürdige und effektive Außenpolitik gründet sich auf das Machbare und nicht auf Rechthaberei. In Abwägung aller Werte und Interessen gewährleistet sie, dass Werte nicht durch doppelte Standards oder Besserwisserei in Mitleidenschaft gezogen werden. Eine bittere Erkenntnis müssen Europa und der Westen dabei akzeptieren und überwinden: Die Zeiten sind vorbei, in denen Weltpolitik den Moral- und Wertvorstellungen des Westens folgte. Als Europäer mag man das bedauern, aber die Augen vor den neuen Realitäten des 21. Jahrhunderts zu verschließen ist leichtsinnig und weltfremd. Munter formulierte An-schul-di-gun-gen wegen einer zu geringen Beachtung von Werten ersetzen keine pragma-tische Außenpolitik, aber sie verspielen die Chance auf eine konstruktive Debatte.

Legitimiert das, nichts zu tun, wenn westliche Wertvorstellungen verletzt werden? Unter Umständen schon. Wer legitimiert eigentlich das Gegenteil von Nichtstun? Wer gibt uns das Recht, aktiv in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen? So, als würde das von uns hochgehaltene Völkerrecht mit seinem Gebot der Nichteinmischung gar nicht existieren. Und wer entscheidet über diese Mittel und legitimiert sie?

Eine Tradition der Zurückhaltung in der deutschen Außenpolitik hat es nie gegeben. Deutschland hat sich mithilfe unterschiedlichster Institutionen – beispielsweise der -parteinahen Stiftungen – immer in die Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt. Wenn es dabei um Fragen des Aufbaus von Zivil-gesellschaften, von Parteiensystemen oder einer funktionierenden demokratischen Ordnung nach inneren Umbrüchen ging, war diese Politik auch sehr erfolgreich. Wenn es aber darum ging, nicht zuletzt mit militärischen Mitteln in anderen Staaten einzugreifen, um einen Regimewandel herbeizuführen, bleibt die Bilanz bedrückend mager – es sei denn, man glaubt, dass in Afghanistan, im Irak und in Libyen tatsächlich demokratische Entwicklungen dauerhaft stabilisiert werden können.

Jeder aus der bedauerlicherweise kleinen Schar kompetenter Außenpolitiker im deutschen Parlament weiß, dass es keine Alternative zum Umgang mit Diktatoren gibt. Man muss sie nicht lieben, aber doch mit ihnen kooperieren. Dies heißt entgegen dem Vorwurf aus der Moralecke nicht, eigene Werte zu verraten, zu vergessen oder aus schnöden ökonomischen Interessen mit Füßen zu treten. Das Gegenteil ist der Fall. Nur wer den Gesprächs- und Verhandlungsfaden nicht abreißen lässt, hat in kritischen Situationen die Zugangsmöglichkeiten, um von außen den Versuch zu unternehmen, auf die Innenpolitik in Diktaturen überhaupt Einfluss aus-zuüben. Wunder darf man dabei nicht erwarten. Auch in Diktaturen herrscht das Primat der Innenpolitik.

Die Kritik an vermeintlicher Leisetreterei gegenüber Diktatoren verkennt den Faktor Zeit: Wäre der friedliche Zusammenbruch der DDR zu Breschnews Zeiten so möglich gewesen? Wohl kaum. Mit ihm und seinem System haben wir zusammengearbeitet ohne all die Bedenken, die einigen jetzt so sauer aufstoßen. Lag das daran, dass es damals um das höhere Gut des Weltfriedens ging und nicht um wirtschaftliche Interessen, wie manche es heute der deutschen Außenpolitik als Antriebskraft unterstellen?

Nehmen wir das Beispiel Ägypten: Heute ist es allzu einfach, auf die Haltung Europas zu dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak zu verweisen. Er war kein Demokrat. Das wussten wir damals, so wie wir es heute wissen. Trotzdem hat seine Regierung über viele Jahre eine fragile Stabilität im Nahen und Mittleren Osten gesichert. Das lag im Interesse Europas und hat die Zusammenarbeit mit seinem Regime begründet. Eine sinnvolle Alternative zu dieser Politik lässt sich auch im historischen Rückblick nicht erkennen. Erklärbar wird diese Politik nur aus einer Tatsache, die man nicht deutlich genug ansprechen kann: Wenn Werte und Interessen im Konflikt zu-ein-an-der stehen, kann es für eine prag-ma-tische Außenpolitik notwendig und durchaus auch sinnvoll sein, zeitlich begrenzt seine Interessen in den Vordergrund zu stellen.

Eine Bundeskanzlerin, die in ein nicht demokratisches Regime zu Verhandlungen reist, hat nie nur ein Thema im Gepäck. Es wird ihr um Menschenrechte gehen, aber auch um wirtschaftliche Interessen; um die Lösung globaler Fragen wie etwa des Klimawandels, aber auch den Schutz geistigen Eigentums. Sie muss Möglichkeiten der Kooperation ebenso ausloten, wie von ihr erwartet wird, dass sie auch die deutschen Interessen in bilateralen und multilateralen Fragen deutlich macht.

Außenpolitik ist daher nie monothematisch. Sie darf es auch nicht sein. Sie braucht die ständige, in Demokratien immer wieder kritisch zu diskutierende Abwägung zwischen Werten und Interessen, die sich nicht immer, bedauerlicherweise aber manchmal widersprechen. Solche Widersprüche lassen sich nicht vermeiden, sie lassen sich bestenfalls im strittigen Diskurs so weit aufklären, dass tragbare Sachentscheidungen möglich werden. Ein solcher Politikansatz braucht die beständige Debatte. Den nötigen Raum dafür erhält sie aber erst, wenn ihre Teilnehmer bereit sind, auf Unterstellungen und moralische Überlegenheitsgefühle zu verzichten.

 

Die deutsche Liebe zu den Diktatoren

Mein Beitrag aus der ZEIT von heute, S.7:
Man hört ihn in Berlin immer häufiger, den Begriff »schwieriger Partner«. Was eigentlich damit gemeint ist: Schurken, an denen wir nicht vorbeikommen; Halunken, mit denen wir kooperieren müssen. Wann immer deutsche Außenpolitiker von Ländern wie China, Russland, Saudi-Arabien, Aserbaidschan oder Kasachstan reden, benutzen sie diese verdruckste Formulierung.
Er soll ein Dilemma bemänteln. Angela Merkel nimmt für sich in Anspruch, die Außenpolitik nicht nur an Interessen, sondern auch an Werten auszurichten: »Interessengeleitet und wertegebunden« zugleich. Geht das überhaupt in einer Welt voller schwieriger Partner? Lässt sich eine unaufgeregte, selbstbewusste Menschenrechtspolitik durchhalten, die Deutschland nicht kleiner und nicht größer macht, als es ist?
Regelrechte Feinde haben wir nur wenige. Es gibt kein »Reich«, ja nicht einmal eine »Achse des Bösen«. Aber die Tyrannei ist nicht verschwunden. Sie hat sich in viele Varianten von Machtmissbrauch, Unfreiheit und Unterdrückung ausdifferenziert. Mit vielen dieser Klepto-, Theo- und Autokraten ist Deutschland wirtschaftlich verflochten. Die Exporte wachsen seit Jahren am meisten in den Schwellenländern. Kaum ein Weltproblem lässt sich lösen – weder die Finanzkrise, noch der Syrienkonflikt, noch der Streit um Irans Atomwaffenprogramm – wenn undemokratische Mächte wie Russland, China oder Katar nicht mitspielen. Dazu eine realistische, aber nicht zynische Haltung zu finden, ist eine Herausforderung für die deutsche Regierung.
Nicht nur, weil wir die Schurken nun einmal brauchen. Es gibt einen Deutungskampf um die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Und da wird zurzeit eine dunkle Seite sichtbar: die Neigung, sich Despoten schönzureden. Man findet sie bei Elder Statesmen, Vordenkern in regierungsnahen Thinktanks und auch bei einflussreichen Abgeordneten. Sie plädieren für Leisetreterei gegenüber Tyrannen und glauben, dass Deutschland sich mit seiner »Wertegebundenheit« selbst im Weg steht. »Russlandknutscher« nennt ein kritischer Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes diese Leute mit Blick auf Gerhard Schröders Verbindungen zum Kreml. Aber die deutsche Liebe zu den Anti-Demokraten ist nicht auf Putin beschränkt.
Dafür steht Hans-Dietrich Genscher, 18 Jahre lang deutscher Chefdiplomat und FDP-Ehrenvorsitzender. Er ist bis heute das Inbild des deutschen Außenministers, er hat den Korpsgeist des diplomatischen Dienstes geprägt wie kein anderer, und er gilt als moralische Autorität. Genscher hat, wie der Spiegel herausfand, dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew seinen guten Namen zur Verfügung gestellt, indem er ihn in einem Geleitwort »als Glücksfall für sein Land« pries. Nasarbajew ist ein Despot. Es wird gefoltert in Kasachstan, es gibt keinen Rechtsstaat, keine Pressefreiheit, und die Demokratie ist eine Potemkinsche Fassade. Genscher war mehrfach mit deutschen Wirtschafts-delegationen im Land. Er öffnet der deutschen -Wirtschaft Türen und hilft im Gegenzug als Ehrenvorsitzender im Beirat des PR-Unternehmens Consultum Communications Schurkenstaaten, ihr Image bei uns aufzubessern: etwa der Kaukasus-Republik Aserbaidschan. Mit dem aserbaidschanischen Botschafter in Berlin hat er sich beim Fußballgucken, mit dem Präsidenten Ilham Alijew jüngst erst wieder bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Zwiegespräch fotografieren lassen. Alijew ist ein Kleptokrat, der das Land aus den Händen seines Vaters übernommen hat und mit einem mafiösen Familienclan beherrscht.
Genschers Geschäfte sind ein Politikum, weil er für seine Kunden natürlich nicht als Privatmann attraktiv ist, sondern als lebende Legende, als eine Art Ehren-Außenminister, der für das wiedervereinigte Deutschland steht. Wenn der Eindruck entsteht, selbst schwierigste Partner können einen Genscher zu Werbezwecken leasen, höhlt das die Idee der »Wertebindung« deutscher Außenpolitik aus.
Es gibt jüngere Akteure, die neuerdings ganz offen einem brachialen Pragmatismus das Wort reden. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Philipp Mißfelder, schreibt in einem Aufsatz für die regierungsnahe Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: »Es ist die Aufgabe der Außenpolitik, für eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und des Investitionsklimas in den jeweiligen Ländern zu sorgen.« Es folgt der programmatische Merksatz: »Die Bundesregierung übernimmt dabei die Rolle des flankierenden Partners für die deutsche Wirtschaft.«
Mißfelder war einmal ein frecher, etwas vorlauter, aber oft erfrischender Quertreiber. Seit er im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages sitzt und für die Union die aktuelle Weltlage in allen Medien kommentiert, hat eine Wandlung stattgefunden. Er trommelt nun bei jeder Gelegenheit für einen milden Umgang mit der russischen Regierung.
Eine beachtliche Wende: Keiner höhnte schärfer über Gerhard Schröder, als der sich in den Dienst eines russischen Energiekonzerns begab: »Dass Gerhard Schröder ausgerechnet jetzt für Gazprom arbeitet«, so Mißfelder, »ist ja nur der erste Vorbote dafür, dass die russische Diktatur versuchen wird, immer mehr Einfluss auf Deutschland auszuüben.«
Doch als Putin im vergangenen Jahr nach manipulierten Wahlen ein drittes Mal Präsident wird, verbittet sich Mißfelder »übereilige Bewertungen«. Das harte Urteil gegen die jungen Frauen von Pussy Riot kritisiert er, weil es »dem Ruf Russlands schaden« werde – und betont, dass die russische Justiz besser beurteilen könne, ob ein Verbrechen vorliege. Mißfelder stört »der zum Teil religiöse Antrieb, den manche Russland-Kritiker haben«. Sie »benehmen sich jetzt wie Neokonservative. Regimewechsel um jeden Preis.«
Im November 2011, als die Opposition in Moskau täglich gegen Putin auf die Straße geht, stellt Mißfelder im Bundestag die rhetorische Frage: »Was ist die Alternative zu Putin oder zur Putin-Partei? Die Alternative ist häufig Separatismus, Rechtsradikalismus, Nationalismus oder eben Kommunismus. Das ist nicht in unserem Interesse, weder außenpolitisch noch von unserem Grundverständnis für Demokratie her.«
Heißt das also, Putins Herrschaft ist in unserem Interesse? Wehe, was nach ihm kommt? Das ist seit je die Propagandastrategie autoritärer Machthaber: nach mir das Chaos. Mißfelder übernimmt sie. So wird im Zeichen des außenpolitischen »Realismus« die Leisetreterei gegenüber Despoten gerechtfertigt. Das ist ein altes Muster, das man schon von früheren Fällen kennt – vom Umgang mit Chiles Diktator Pinochet, Polens General Jaruzelski oder Ägyptens Präsidenten Mubarak. Wie wenig Stabilität taugt, die auf Kosten von Freiheit und Menschenrecht geht, zeigen heute die Eruptionen in den arabischen Ländern. Die fortschreitende Implosion der Staatenwelt des Nahen Ostens stellt auch einen vermeintlichen Realismus bloß, der sich nicht traute, über die Gewaltherrscher hinauszudenken. Das einflussreiche Milieu der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dem auch Genscher und Mißfelder angehören, wäre eigentlich der Ort für solche Reflexionen.
Die DGAP, von Regierung und Industrie gefördert, ist gleichzeitig Honoratiorenverein, Thinktank und elitärer Salon, der durchreisenden Präsidenten, Ministern und Botschaftern eine Bühne bietet. Ihr intellektueller Kopf ist der Leiter des Forschungsinstituts, der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider, ein angesehener China-Experte. Im Frühjahr 2012 hat er einen programmatischen Aufsatz über Deutschland als »Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle« veröffentlicht. Er fürchtet, die deutsche Außenpolitik könnte »durch eine zu starke Orientierung an historischer Kontinuität und einen überfrachteten Wertediskurs unfähig sein, schnell und effizient auf neue Herausforderungen zu reagieren«.
Wer die DGAP unter Sandschneiders Leitung verfolgt, erkennt ein Leitmotiv: Kritik an »unrealistischen Wertebezügen«. Man kann das so übersetzen: Deutschlands Außenpolitik leidet unter allzu vielen moralischen Bedenken. Kaum ein Strategiepapier kommt ohne die unterschwellige Botschaft aus, Deutschland stehe sich mit seinen Rücksichten auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat selber im Weg. Wenn Sandschneider einmal kritische Worte für die Merkelsche Politik findet, dann »für den Bezug auf die Wertegeleitetheit deutscher Außenpolitik, die von der derzeitigen Bundesregierung besonders nachdrücklich betont wird«.
Krankt die deutsche Außenpolitik an Hypermoralismus? Die Waffendeals mit Saudi-Arabien passen kaum in dieses Bild. Doch Sandschneider empfiehlt, die Ansprüche weiter zu senken und »Anpassungsnotwendigkeiten auszuloten«. Der Aufstieg der Schwellenländer, vor allem Chinas, zeige, dass Demokratiedefizite Wettbewerbsvorteile im Kampf um globale Vormacht sein können: Man habe »größere Planungsräume« zur Verfügung und müsse sich nicht am widerborstigen Bürgerwillen abarbeiten. Den Westen hingegen hält Sandschneider für »machtpolitisch erschöpft«. Statt Konfrontation sei »Ko-Evolution« an der Zeit. Deutschland solle aufhören, Chinesen und Russen »Wertelektionen zu erteilen«.
Menschenrechtspolitik ist in dieser Sichtweise Schwäche – westliche Selbstfesselung in einer amoralischen Welt voller harter Interessenpolitik. Zugleich ist sie ein Symptom postkolonialistischer Überheblichkeit gegenüber dem Rest der Welt. Die chinesische Regierung zu kritisieren, das heißt für Sandschneider, »überkommene Gefühle westlicher Überlegenheit zu zelebrieren«, statt endlich »China als gleichberechtigten Partner (zu) akzeptieren«. Letzteres werde erst möglich, wenn der Westen aufhöre, »den Schulmeister der Welt spielen zu wollen«.
In diesem verzerrten Bild fehlen auffällig die Dissidenten, die mit ihrer Führung viel härter zu Gericht gehen, als die deutsche Regierung es sich traut. Und: An »schwierige Partner« gleiche Maßstäbe anzulegen, ist das nicht auch eine Form der Akzeptanz? Liegt umgekehrt nicht viel mehr Herablassung in der Annahme, dass Russen, Chinesen, Kasachen und Aserbaidschaner per se für Vollmitgliedschaft im Club nicht taugen und darum die Satzung für sie nicht gelten sollte?
Es sind immer die gleichen Redefiguren, mit denen die Tyrannen für unantastbar erklärt werden: Sie stehen für Stabilität. Wer sich in die Pose des Anklägers wirft, verspielt Einfluss und Marktzugang. Wir brauchen ihre Kooperation zur Lösung weltpolitischer Probleme. Die deutsche Geschichte (der Kolonialismus oder eine sonstige abendländische Schuld) mahnt uns zu Zurückhaltung und Respekt.
Bei genauerem Hinsehen sind das Ausreden fürs Nichtstun: Historische Schuld verpflichtet mindestens so sehr zum Eintreten für das Recht wie zur Mäßigung dabei. Dass »schwierige Partner« weltpolitischen Einfluss haben, stimmt zwar: Doch wäre es eine Illusion, zu glauben, dass sie durch Milde kooperativer würden. In Syriens Bürgerkrieg steht Russland auf der Seite des befreundeten Diktators Assad, und beim Streit um das Atomprogramm des Irans lassen Russen und Chinesen kaum eine Gelegenheit verstreichen, eine Lösung zu hintertreiben. Sie folgen schlicht ihren eigenen Interessen. Nettigkeit wird sie davon nicht abbringen. Die Diktatorenknutscherei ist nicht nur unwürdig. Sie bringt auch nichts.
Umgekehrt wird die Konsequenz westlicher Kritik übertrieben. Unser Marktzugang – das zeigen immer neue Exportrekorde – ist nicht in Gefahr. Deutsche Produkte sind so gut, dass auch heftig kritisierte Länder sie haben wollen. Angela Merkel pflegt zwar eine größere Distanz zu Putin, aber der »Geschäftsklimaindex« beim Handel mit Russland war, laut dem Ostausschuss der deutschen Wirtschaft, nie besser als heute. Der Dalai Lama wurde im Kanzleramt empfangen, und Deutschland hat sich auch vehement für den verfolgten Künstler Ai Weiwei eingesetzt. Trotzdem werden jedes Jahr mehr Audi nach China verkauft.

Es gibt einen Zielkonflikt zwischen Werten und Interessen. Doch der Schluss liegt nahe, dass Deutschland ungestraft noch viel deutlicher in der Welt für seine Werte eintreten könnte.