Aus der ZEIT vom 17.1.2013, S. 3:
In diesem einen Wort schnurrt die gesamte Nahostpolitik der letzten Jahrzehnte zusammen: Zwei-Staaten-Lösung. Auf Konferenzen von Madrid über Oslo bis nach Annapolis rangen Präsidenten, Premiers und Kanzler darum. Nahostquartette, Sonderbeauftragte, Roadmaps – alles richtete sich immer auf dieses Ziel. Hier bestand ein seltener Konsens der Weltgemeinschaft, geteilt von Amerikanern, Europäern, Russen, Chinesen: Wir wissen vielleicht nicht, wie wir dahin kommen, aber wir wissen, was beim »Friedensprozess« zwischen Israelis und Palästinensern herauskommen muss: zwei Staaten für zwei Völker.
Weil diese Idee so evident klingt und so allgemein anerkannt ist, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Zeit über sie hinweggehen könnte – ohne dass es eine überzeugende Alternative gibt. Doch genau das passiert gerade. Das Fundament der Nahostdiplomatie zerbröselt.
Diese Idee hat den überkomplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf einen schlichten menschlichen Kern zurückgeführt: Die anderen gehen nicht weg, sie bleiben da und haben das Recht, nach eigenem Gusto zu leben. Und das geht nun mal am besten in zwei Staaten.
Widerstand dagegen hat es immer gegeben. Kein Wunder: Die vermeintlich göttlich sanktionierten Ansprüche beider Seiten, Leid, Vertreibung, Terror, die Tragik von hundert Jahren Kampf – all das soll in der Idee von den zwei Staaten versachlicht und entgiftet werden. Von den Palästinensern verlangt dies, sich von der Illusion zu verabschieden, Israel sei ein Irrtum der Geschichte, der sich wieder korrigieren ließe. Für die Israelis heißt es, zu erkennen, dass ihr Staat nur dann jüdisch und demokratisch bleiben kann, wenn sie die Besatzung beenden und das Land teilen. Die Zwei-Staaten-Lösung war stets eine Zumutung für die Träumer des Absoluten, von denen es im Heiligen Land auf beiden Seiten allzu viele gibt.
Das Oslo-Abkommen vom September 1993 hat sie offiziell zum international akzeptierten Programm ausgerufen. Neuerdings aber klingen die Bekenntnisse verräterisch mau: Es gelte, »die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung offenzuhalten«, betonten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Ende letzten Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Und dann geschah etwas, womit niemand rechnete: Die israelische Regierung handelte genau entgegengesetzt. Sie konterte die Sorgen ihrer Partner mit der Genehmigung weiterer Siedlungen in besonders sensiblen Gebieten.
(Diese Karte zeigt die Zerklüftung des Westjordanlands in Autonomiezonen, die den Palästinensern teils allein (A, dunkelgrün) oder auch in geteilter Verantwortung mit den Israelis (B, hellgrün) unterstehen. Die Zonen C, in denen allein Israel die Verantwortung hat und die Siedlungen liegen, sind als Wasser dargestellt: Es gibt nur Inseln der Autonomie, das Westjordanland ist ein Archipel. Quelle: Strange Maps.)
Das war ein Schock für die israelfreundliche Bundesregierung, die eben noch Netanjahus Militärschläge gegen die Terroristen in Gaza verteidigt hatte: eine Demütigung auf offener Bühne. Wer sich umhört, trifft bei Berliner Diplomaten seither auf einen verbotenen Gedanken: Kann es sein, dass die Zwei-Staaten-Idee tot ist? Und wenn sich das herumspricht: Was dann?
Es gibt derzeit täglich neues Futter für solchen Defätismus. Am kommenden Dienstag wird in Israel gewählt. Der Wahlkampf gibt den Blick auf einen radikalen Wandel der politischen Kultur in Israel frei. Der Schriftsteller Amos Oz, Doyen der Friedensbewegung, mahnt, diese Wahl sei von »existenzieller Bedeutung«. Doch der »Friedensprozess«, für den Oz wirbt, ist ein Verliererthema geworden, das politische Karrieren vernichtet. Für keine Partei außer der Splittergruppe Meretz – Oz’ politische Heimat – steht die Lösung des Konflikts überhaupt noch auf der Tagesordnung. Es gibt in Israels Parteienlandschaft keine relevanten Kräfte mehr, die für ein Abkommen mit den Palästinensern eintreten.
Die Arbeitspartei hat sich ganz auf Wohnungs- und Käsepreise verlegt. Jedes Mal wenn die ehemalige Außenministerin Zipi Livni zaghafte Andeutungen macht, man solle verhandeln, sinken ihre Umfragewerte weiter. Die politische Mitte – von den Linksliberalen bis zu den moderaten Rechten – ist implodiert. An ihre Stelle drängt eine neue, kraftvolle Rechte, angetrieben vom Erfolg der nationalreligiösen Siedlerlobby. Ihre Positionen galten einmal als extrem. Nun sind sie Mainstream. Die Nationalreligiösen haben es geschafft, sich als das neue spirituelle Zentrum des Landes darzustellen. Ihr wichtigstes Projekt ist die Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung.
Dieses Projekt hat ein neues, frisches Gesicht. Der Star des Wahlkampfs ist der 40-jährige Ex-Unternehmer und Elitesoldat Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei »Jüdische Heimat«. Er spricht fließend Englisch, hat in Amerika als erfolgreicher Softwareunternehmer Millionen gemacht und war Offizier in einer prestige-reichen Antiterroreinheit der israelischen Armee. Er gibt einem extremen Programm ein modernes Flair, das ihn für junge Konservative anschlussfähig macht. Er hat einen eigenen Friedensplan, der ganz ohne Beteiligung der Palästinenser auskommt. Der Bennett-Plan sieht vor, dass Israel jene Gebiete im Westjordanland formell annektiert, die seit dem Oslo-Abkommen bereits unter israelischer Militärkontrolle stehen. 60 Prozent des Landes, auf dem ein palästinensischer Staat entstehen soll, würden damit offiziell Teil Israels. Im verbleibenden Rest dürfen sich die Palästinenser lediglich selbst verwalten: keine Souveränität, keine Staatlichkeit, kein Zugang nach Jerusalem. Bennett hat sein politisches Handwerk im Büro von Benjamin Netanjahu gelernt, dessen Stabschef er war. Seinen ehemaligen Chef treibt er jetzt vor sich her. 25 Prozent der Likud-Wähler hat er bereits für sich gewonnen.
Im Vergleich mit Bennett wirkt Netanjahu moderat, und das ist im heutigen Klima gefährlich. 2009 hatte Netanjahu auf amerikanischen Druck hin erklärt, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Selbst dieses taktische Zugeständnis gilt nun schon als Ausweis mangelnder Härte. Der Likud-Chef rückt darum immer weiter nach rechts. Er macht Wahlkampf in illegalen Siedlungen und präsentiert sich als Verteidiger der Besatzung gegen internationalen Druck.
Der Rechtsruck in Israel hat seine Entsprechung auf der palästinensischen Seite. Die arabischen Revolten bringen überall in Israels Nachbarschaft den politischen Islam an die Macht – wie in Ägypten, so vielleicht schon bald in Syrien und Jordanien. Es ist möglich, dass Israel demnächst vollständig von islamistisch dominierten Staaten umgeben sein wird. Dass der Muslimbruder Mohammed Mursi, der neue starke Mann in Kairo, im letzten Gazakrieg mit Hamas vermittelte, hat man in Israel mit Erleichterung aufgenommen.
Unvergessen bleibt aber, dass Mursi noch 2010 von Israelis als »Kriegshetzern« und »Abkömmlingen von Affen und Schweinen« gesprochen hat. Und Hamas, als Ableger der Bruderschaft entstanden, scheint weit davon entfernt, ihre jahrzehntelange Israelfeindschaft zu revidieren. Den Aufstieg des Islamismus in der Region sieht sie als Zeichen, dass die Geschichte für sie arbeitet. Hamas-Politbürochef Khaled Meschal erging sich bei der Siegesparade nach dem Gazakrieg vor Zigtausenden Anhängern in Vernichtungsdrohungen: »Palästina gehört uns ganz, vom Norden bis zum Süden, vom Meer bis an den Jordan. Es wird keinen Zentimeter an Zugeständnissen geben. Wir werden Israel nie anerkennen.« Meschal hat Chancen, eines Tages in Ramallah als erster islamistischer Präsident aller Palästinenser zu regieren.
Dass das Siedlungsprojekt in der Mitte der israelischen Gesellschaft Unterstützung findet und dass bei den Palästinensern die Islamisten tonangebend werden – beide Prozesse stehen für eine Abkehr von der Zwei-Staaten-Idee. Es besteht die Gefahr, dass sie sich wechselseitig verstärken. Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man die widersprüchlichen Erzählungen betrachten, die in Israel und in Palästina über das Scheitern des »Friedensprozesses« entstanden sind. Sie laufen auf die gleiche Pointe hinaus: dass es mit denen da drüben keinen Frieden geben wird.
Die israelische Variante lautet: Wir haben verhandelt und Angebote gemacht, und wir haben den Palästinensern Autonomie gegeben. Doch sie haben mit Terror reagiert. Wir sind aus dem Libanon und aus Gaza abgezogen, und zum Dank hat es Raketen geregnet. Wer garantiert, dass das nicht auch passiert, wenn wir uns aus dem Westjordanland zurückziehen?
Die palästinensische Variante geht so: Die Israelis haben uns in Oslo Autonomie gegeben und einen eigenen Staat versprochen. Aber seither bauen sie immer neue Siedlungen, um diesen Staat zu verhindern. Heute gibt es doppelt so viele Siedler wie vor zwanzig Jahren. Wie können wir glauben, dass sie jemals abziehen werden?
Beide Versionen sind einseitig. Hier wird der Terror ausgeblendet, dort fehlen die Siedlungen. Aber beide Geschichten sind nicht ganz falsch. Und das macht Verhandlungen so fruchtlos.
Die jüngsten Schachzüge beider Seiten zeigen, dass die Zeit nach dem Friedensprozess schon begonnen hat. Die Ankündigung der israelischen Regierung, im Gebiet »E1« östlich von Jerusalem zu bauen, steht dafür. Die neue Siedlung würde das Westjordanland entzweischneiden und den Zugang zu Ostjerusalem, der designierten palästinensischen Hauptstadt, erschweren. Der Palästinenserstaat wäre von E1 wie durchgestrichen.
Der palästinensische Präsident Abbas droht im Gegenzug, den Israelis »die Schlüssel« für seine Behörde zurückzugeben und seine Regierung aufzulösen. Israel müsste dann offen über die Palästinenser herrschen, und Abbas wäre den Ruf los, ein »Kollaborateur« der Besatzer zu sein. Macht er seine Drohung mit dem politischen Selbstmord wahr, käme das Ergebnis Bennetts Plan erstaunlich nahe.
Unabhängig davon wachsen zugleich die Siedlungen und die palästinensische Bevölkerung unter der Besatzung. 42 Prozent des Landes werden heute schon von Sicherheitskorridoren der Armee beansprucht. Mehr als eine halbe Million Israelis leben auf Grund und Boden, den Palästinenser als ihren ansehen. 2016 werden die Bevölkerungszahlen der Araber in Israel und den palästinensischen Gebieten mit denen der Juden erstmals gleichziehen, 2020 wird es mehr Araber als Juden im Heiligen Land geben: Demografie gegen Demokratie.
45 Jahre dauert die Okkupation bereits. Die dritte Generation Besatzungssoldaten steht heute der dritten Generation Besetzter gegenüber. »Temporär« ist das nicht. Mit jedem Tag, an dem nicht verhandelt wird, verfestigt sich die Ein-Staat-Realität, und die Zwei-Staaten-Lösung wird Geschichte.
Was soll die Diplomatie ohne ihre Leitidee machen? Es gibt keinen Plan B, nur bange Erwartungen beim Gedanken an den Augenblick, in dem der Bluff auffliegt. Naftali Bennetts Eintritt in Netanjahus Regierungskoalition könnte dieser Moment sein. Die deutsche Regierung blickt mit trotziger Hoffnung auf Obama, der – bitte! – in seiner zweiten Amtszeit noch einmal kräftig auf den Tisch hauen möge. Nichts spricht dafür. Obama hat schon einmal versucht, Verhandlungen anzubahnen, und wurde von Netanjahu schmerzlich gedemütigt. Er glaubt seither, wie er an den Nahostexperten Peter Beinart durchstechen ließ, dass Netanjahu »nur die Fassade eines Friedensprozesses braucht, um sich von internationalem Druck abzuschirmen«. Dabei will die amerikanische Regierung nicht mehr mitspielen. Die deutsche sollte das auch nicht tun.
Der internationale Druck wird wachsen, auf beide Seiten. Deutschland wird sich nicht mehr bedingungslos vor Israel stellen. Das war die -eigentliche Botschaft hinter der deutschen Enthaltung bei den Vereinten Nationen, wo die Palästinenser im vorigen November um die symbolische Stärkung ihrer Staatlichkeit kämpften: Gegen diese Initiative zu stimmen wäre ein Votum gegen die eigene Politik gewesen, die an der Zwei-Staaten-Lösung festhält. Israel, glaubt die Bundesregierung, braucht einen Palästinenserstaat fast noch dringender als die Palästinenser. Eine »Ein-Staat-Lösung« liefe auf das Ende jüdischer Selbstbestimmung oder auf ein Apartheidregime hinaus.
Es kommt eine Zeit des Durchwurstelns. Was an ihrem Ende stehen kann, ist ungewiss – aber um überhaupt nach neuen Wegen zu suchen, braucht es erst einmal Ehrlichkeit: Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung von gestern. Sie rhetorisch zu konservieren, während man ihr real keinen Inhalt mehr zu geben vermag, ist keine Erfolg versprechende Politik.
Ein Kollaps der Autonomiebehörde, ein Sieg der Islamisten sind wahrscheinlicher geworden. Kann sich Präsident Abbas behaupten und die Palästinenser auf den Weg des gewaltfreien Protests führen, wird die Welt ihn unterstützen. Ohne die Perspektive der zwei Staaten wird die Lage in jedem Fall gefährlicher, vor allem für Israel: Denn in der trügerischen Hoffnung auf eine Lösung, die nach der nächsten Verhandlungsrunde zu warten schien, ließ es sich mit vielem leben – Unterdrückung und Besatzung, Unsicherheit und Terror erschienen als Geburtswehen normaler Staatlichkeit.
Wenn dieses Ziel auf lange Sicht, wenn nicht gar für immer, unerreichbar scheint, ist damit nicht die Nahostpolitik zu Ende. In gewisser Weise fängt sie erst an: Deutschland muss zugleich druckvoller und flexibler agieren. Das kann zum Beispiel heißen, sich einerseits einem Boykott israelischer Güter entgegenzustellen, zu dem jetzt schon Briten und Dänen aufrufen. Eine Isolierung hilft ja wieder nur den Extremisten, die von Europa ohnehin das Schlimmste erwarten. Keine Handbreit denen, die Israels Existenzrecht bestreiten: Daran gibt es nichts zu rütteln, mögen die Muslimbrüder auch noch so erfolgreich sein. Andererseits muss Deutschland jeden friedlichen Kampf der Palästinenser für ihre Bürgerrechte viel kraftvoller unterstützen.
Schwindet die Hoffnung, dass diese Rechte in einem eigenen Staat realisiert werden können, wird der Druck auf Israel wachsen, sie hier und jetzt zu gewähren.