Lara ist zehn Jahre alt, lebt in Feuerland und weiß fast alles über Meeressäugetiere. Sie arbeitet nämlich in einem besonderen Museum, und sie hat einen Brillenschweinswal
Von Ruth Helmling
Am südlichen Ende der Welt, dort, wo das Feuerland aufs Wasser trifft und die Wale auf ihrer Reise in die Antarktis vorbeikommen, steht ein Mädchen auf einem Steg und schaut ins Wasser. »Hier, das ist mein Wal«, sagt Lara und zeigt auf eine Drahtkiste, die im Wasser schaukelt. »Als ich ihn gefunden habe, sah er ein bisschen aus wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen war.« Sie verzieht das Gesicht. »Und er war voller Würmer und Sand, er stinkt noch immer!«
In dem Maschendrahtkorb im Wasser liegt ein langes Etwas, schlammbraun mit ein bisschen Grün. Es könnte ein Stück Holz mit Moos sein. Ist es aber nicht. Wer genauer hinguckt, sieht so etwas wie Rippen. Und wer ganz genau hinschaut, sich die Nase zuhält und wie Lara eine ganze Menge über Wale weiß – der kann erkennen, dass da ein Brillenschweinswal im Wasser treibt; ein männlicher, nicht besonders alt und seit ungefähr anderthalb Monaten tot.
Lara weiß fast alles über Delfine, Wale und Schweinswale. Sie ist Expertin, zugegeben, eine sehr junge Expertin, denn Lara ist gerade mal zehn Jahre alt. Sie lebt in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt. Ihr Vater ist gerade als Steuermann auf einer Expedition in die Antarktis unterwegs, ihre Mutter ist Tierärztin. Von ihr hat sie eine Menge über Tiere gelernt. Mit Walen kennt Lara sich aber so gut aus, weil sie regelmäßig zur Farm Harberton fährt, einem großen Museum für Meerestiere. Dort hilft Lara mit, sooft sie kann.
Auf der Landkarte muss man dafür von Ushuaia aus ein kleines Stückchen nach rechts, bis man auf das Meer trifft. Hier lebt Natalie Goodall auf der Farm Harberton. Sie und ihr Mann haben vier eigene Berge, 20 Inseln, 40 Seen und mehr als 5000 Skelette. Seit zehn Jahren betreiben sie das Museum für Meerestiere. Dafür sammelt Natalie Goodall tote Walfische und andere gestrandete Meerestiere.
Sie hat Skelette von Walen, Delfinen, Schweinswalen, Pinguinen, Robben und Albatrossen. Sie hat Wale mit Bandscheibenvorfall und Seeelefanten, die sich beim Kampf um die Seeelefantendamen die Knochen gebrochen haben. Fast 3000 Skelette von Meeressäugetieren und von mehr als 2400 Meeresvögeln lagern in großen weißen Schränken in Natalies Museum. Im Stockwerk darüber schlafen neun Helfer und Wissenschaftler. Es sind immer verschiedene Menschen, die für ein paar Monate ans Ende der Welt reisen, um im Museum mitzuhelfen oder ein ganz spezielles Skelett aus dem Schrank zu untersuchen.
Als Lara ihren Schweinswal fand, war für sie klar, dass er ins Museum sollte. So rumpelte schließlich ein kleiner Lastwagen los, um Wal Nummer 2770 zu Natalie Goodall zu bringen. Nummer 2770 ist Laras Schweinswal.
Bis aus dem stinkigen toten Tier ein Ausstellungsstück fürs Museum wird, ist viel Arbeit nötig, und einiges ist ziemlich eklig. Der Körper des Wals schaukelt noch in seiner Kiste im Wasser, aber der Kopf des Tiers ist abgetrennt und wartet schon auf eine Extra-Behandlung. In der »Knochenhütte« werden lauter Skelettteile, an denen noch Fleischreste hängen, gekocht, bis nur noch die Knochen übrig bleiben. Laras Walkopf ist hier nicht allein. Pinguinfüße gucken aus Plastikeimern, eine Wirbelsäule liegt in Einzelteilen in einer Wanne mit Chlorwasser. Ein fauliger Geruch umgibt den Ort. Nur ganz kurz hebt Lara den Deckel einer riesigen Holzkiste, die fast so lang ist wie die ganze Hütte – und hält sich schnell die Nase zu.
Von der Sonne und dem Salz ist das Fleisch der gestrandeten Tiere steinhart. Schon seit Stunden schmurgeln auf den zwei gemauerten Öfen Delfinwirbel, Walrippen und Pinguinfüße. Sie müssen so lange weichgekocht werden, bis die Museumshelfer das Fleisch von den Knochen schaben können. Erst wenn alles gereinigt ist, werden die einzelnen Knochen wieder zu Skeletten zusammengesetzt.
Jedes ist wie ein großes Puzzle in 3-D mit ganz schön vielen Teilen. Ein erwachsener Schweinswal zum Beispiel hat ein paar Hundert Knochen. Manche davon sind winzig klein, und jeder passt nur an genau einer Stelle: kleine Plättchen zum Beispiel, die auf je einen Wirbel gehören wie ein Deckel zum Topf. Natalie Goodall reicht Lara die kleinste Schachtel aus dem Schrank. »Das ist ein Baby-Delfin, der sehr krank war«, sagt sie. »Schau mal, ob du das Puzzle zusammensetzen kannst.«
Vorsichtig setzt Lara den Karton auf den Tisch und packt aus: ein Bündel kleiner Wirbel. Ein Bündel Rippen, mit einem Gummiband zusammengehalten. Lara sortiert die Wirbel in einer wellenförmigen Linie, dann hält sie einen platten Knochen hoch und erklärt: »Hier sind lauter Entzündungsspuren zu sehen. Er konnte die Schulter bestimmt nicht bewegen. Armes Tier!« Mit jedem weiteren Stückchen Skelett sieht Lara, wie krank der kleine Delfin gewesen sein muss. »Wenn das ein Menschenbaby gewesen wäre, hätte es bestimmt die ganze Zeit geweint.«
Vielleicht können bald Lara und ihre erwachsenen Meeresforscherkollegen auch mehr darüber sagen, wie es Laras Brillenschweins-wal in seinem kurzen Leben ergangen ist: wenn er fertig ist fürs Museum.