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Wählen ohne Grenzen: Warum Afghanen britische Wahlprogramme lesen

Die Menschen in Kabul haben – möchte man meinen – derzeit andere Sorgen, als sich den Kopf über den britischen Wahlkampf zu zerbrechen. Trotzdem verfolgten einige mit Spannung die Fernsehdebatte zwischen Gordon Brown, David Cameron und Nick Clegg – und tun das, was die meisten Briten vermutlich nicht tun: Sie lesen die Programme der drei Parteien.

Warum?

Weil sie, obwohl sie keine britischen Staatsbürger sind, am 6. Mai bei den Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben werden. Genau gesagt: die Stimme, die sie sich geliehen haben.

Give your vote heißt die Kampagne britischer Aktivisten. Wahlberechtigte Briten geben ihre Stimme an Bürger anderer Länder, die von  politischen Entscheidungen in London maßgeblich betroffen sind. Im Fall von Afghanistan liegt der Zusammenhang auf der Hand: Wie und was Downing Street über den Militäreinsatz gegen die Taliban entscheidet, wie und wo Hilfsgelder eingesetzt werden, hat Einfluss auf das Leben der Menschen in Kabul, Herat oder Kandahar.

Außer Afghanen nehmen auch Ghanaer und Bangladeshi an der Aktion teil. Die ghanaische Wirtschaft leidet massiv unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise und unter den Folgen von Handelsabkommen, von denen wiederum europäische Länder wie Großbritannien profitieren. Bangladesh ist schon jetzt massiv vom Klimawandel betroffen, für den vor allem Industrienationen verantwortlich sind.

Wie funktioniert das Wählen ohne Grenzen?

Wer seine Stimme „frei geben“ will, hinterlässt bei give your vote eine entsprechen Erklärung sowie E-Mail-Adresse und Handynummer, über die „Fremdwähler“ in Kabul, Dhaka oder Accra dann ihre Präferenz für Labour, Tories oder die Liberal Democrats kundtun. Mehrere tausend Briten haben inzwischen ihre Stimme nach Ghana, Afghanistan oder Bangladesh „verliehen“. In den Hauptstädten dieser Länder sind  Telefonleitungen geschaltet, um Voten nach Großbritannien durchzugeben.

Klingt ein bisschen nach globalem Ringelpietz mit Anfassen. Steckt aber mehr dahinter. Weder behaupten die britischen Organisatoren, ihr Wahlsystem erschüttern zu können, noch glauben Wähler in Kabul, Dhaka oder Accra, dass sie den Wahlausgang beeinflussen werden.

Give your vote ist schlicht eine pfiffige Form der Nachhilfe in Sachen entgrenzter Politik.  Je globaler die Krisen, desto nationaler und provinzieller erscheinen in diesen Zeiten die Wahlkämpfe. Das gilt besonders für  die westlichen, industrialisierten Ländern, die maßgeblich zu diesen Krisen beitragen – und maßgeblich zu deren Lösung beitragen könnten.

Wie wär’s also mit einer „Leih-mir-mal-ne-Stimme“-Aktion bei der nächsten Bundestagswahl? Afghanen könnten sich auf diese Weise mit der Forderung von Oskar Lafontaine nach dem sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan beschäftigen. Sie könnten per Konferenzschaltung deutsche Kandidaten fragen, wo all die versprochenen Polizeiausbilder geblieben sind und wie man in Berlin mit der korrupten Regierung in Kabul umzugehen gedenkt.

Wählen ohne Grenzen geht natürlich auch andersherum. Für 2011 sind Wahlen im Kongo angesetzt. So mancher Kongolese wäre sicher bereit, seine Stimme an interessierte deutsche „Gastwähler“ in Berlin, Freiburg oder Dresden zu vergeben, die dann ihrerseits vor laufenden Kameras oder über das Radio Fragen an kongolesische Kandidaten, allen voran den amtierenden Präsidenten Joseph Kabila richten: zum Beispiel zu dessen dubiosen Plänen einer Verfassungsänderung. Oder zum Verbleib von Hunderten Millionen Euro aus EU-Töpfen für den Staatsaufbau. Oder zur Repression gegen kritische Journalisten.

Wie gesagt: Solche Aktionen heben die Welt nicht aus den Fugen. Sollen sie auch gar nicht. Aber ein wenig globale Hellhörigkeit kann in diesen Zeiten nicht schaden.

 

Sudan: Es darf gezählt werden

Das Ergebnis der Wahlen im Sudan soll erst Dienstag bekannt gegeben werden. Aber mit dem Gestus des generösen Siegers bietet Omar al-Bashir seinen Gegnern jetzt schon ein Plätzchen in einer Koalitionsregierung an.

Fünf Tage haben die ersten Mehrparteienwahlen seit 24 Jahren gedauert – wegen logistischer Komplikationen zwei Tage länger als geplant. Und wegen eines Teilboykotts der Opposition um einige Präsidentschaftskandidaten weniger als ursprünglich vorgesehen. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der EU-Beobachtermission bei etwa 60 Prozent.

Dass Amtsinhaber Omar al-Bashir wiedergewählt worden ist, gilt als sicher. Zum einen aufgrund seiner erheblichen Popularität im Norden des Sudan, wo die Bevölkerung durchaus vom Ölboom des Landes profitiert hat.
Zum anderen dank der Einschüchterung und eklatanten Benachteiligung der Opposition im Wahlkampf sowie wohl dosierter Manipulationen, die schon bei der Registrierung der Wähler begannen.

Entsprechend empört kündigten nun Vertreter von Oppositionsparteien an, das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen. Wie ernst deren Wut zu nehmen ist, und wie schnell sie womöglich durch eine Teilhabe an der Regierung zu besänftigen sind, wird sich in den kommenden Tagen zeigen.

Allein die „Sudanesische Volksbefreiungsbewegung“ (SPLM), Hausmacht im autonomen Südsudan hält sich mit Kritik an al-Bashir und seiner „Nationalen Kongresspartei“ (NCP) zurück. Aus gutem Grund: Sie ist während des Wahlkampfs mit ähnlichen Methoden gegen ihre politischen Gegner im Süden vorgegangen.

Was aber sagen die in- und ausländischen Wahlbeobachter? Sudanesische und afrikanische Bürgerrechtsgruppen sprechen dem Ergebnis die nötige Legitimität ab.
Wahlbeobachter aus dem westlichen Ausland haben sich auf ein „ungenügend mit aufsteigender Tendenz“ geeinigt. Sowohl das „Carter Center“, die Stiftung des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, als auch die Europäische Union hatten Beobachtermissionen entsandt.
Carter befand in einer Pressekonferenz in Khartum am Samstag, die Wahlen hätten nicht internationalen Standards entsprochen, ein großer Teil der Weltgemeinschaft werde das Ergebnis aber trotzdem anerkennen.
Die Leiterin der EU-Mission, die Belgierin Véronique de Keyser, zählte zahlreiche Unregelmäßigkeiten auf, erklärte den Urnengang jedoch zu  einem „grossen Schritt dahin, der Demokratie im Sudan einen Raum zu eröffnen.“

Das kann man für eine nüchtern realistische Einschätzung oder für strategische Schönfärberei halten. Wahrscheinlich ist es beides. Al-Bashir und seine NCP mussten seit dem Abkommen zum Ende des Bürgerkriegs im Südsudan 2005 den Spielraum für die Opposition erweitern. Auch in der Zivilgesellschaft.
Andererseits hüten sich die internationalen Beobachter aus politisch-taktischen Gründen, diesen Wahlbetrug auch als solchen zu bezeichnen. Schließlich braucht man Omar al-Bashir noch, um im Januar 2011 das Referendum über die Bühne zu bringen, bei dem die Bevölkerung des Südsudan voraussichtlich ihre Unabhängigkeit beschließen wird.

Sollte es bei dieser Strategie des Westens bleiben, dann werden die betreffenden Regierungen, allen voran die Obama-Administration, in den kommenden  Tagen einige diplomatische Verrenkungen vorführen: Sie müssen den zweifellos unsauberen Wahlsieg eines Mannes anerkennen, gegen den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag auf Initiative des UN-Sicherheitsrates wegen des Verdachts auf Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur ermittelt. Und gegen den eben dieses Gericht einen Haftbefehl erlassen hat.

 

Sudan: Es darf gewählt werden

Seit einigen Stunden sind im Sudan die Wahllokale geöffnet. Es dürfte eine ziemlich verwirrende  Abstimmung werden. Drei Tage soll der Urnengang in Afrikas größtem Flächenstaat dauern. Die meisten der 16 Millionen registrierten WählerInnen wissen schlicht nicht, welcher Kandidat noch im Rennen ist und welcher nicht.

Vor rund zwei Wochen hatte die „Sudanesische Volksbefreiungsbewegung“ (SPLM) Land, Leute und sämtliche Oppositionsparteien mit der Nachricht verblüfft, ihren nationalen Präsidentschaftskandidaten Yasir Arman zurückzuziehen. Die SPLM, stärkste Kraft nach der National Congress Party des amtierenden Präsidenten Omar al-Bashir, begründete diesen Schritt vor allem damit, dass aufgrund der anhaltenden Repression in Darfur keine freien und fairen Wahlen möglich seien. Worauf sämtliche anderen Parteien (mit Ausnahme der NCP natürlich) sich ihrerseits in eine chaotische Boykott-Debatte stürzten.

Das folgende Debatten-Karussell ist nun pünktlich zum Wahltag stehen geblieben: Die SPLM zieht sich „nur“ aus dem Präsidentschaftsrennen zurück, nimmt aber an Parlaments-und Gouverneurswahlen weiterhin teil. Und an den regionalen Präsidentschaftswahlen, die für den autonomen Südsudan ausgerichtet werden, sowieso.
Die moderat-islamische Umma-Partei ist ganz ausgestiegen. Die Kommunisten ebenso. Die Islamisten der Popular Congress Party (PCP) unter Hassan al-Turabi, Sudans Vater der Scharia, machen weiter mit.

Sparen wir uns die weitere Aufzählung. Das Problem ist: die Stimmzettel waren, als das Chaos ausbrach, bereits gedruckt. Die WählerInnen dürfen sich nun in der Wahlkabine fragen, wo sie bei diesem Chaos ihre Kreuzchen machen sollen.

Die Sorge der SPLM um die Lage in Darfur, um die Repression durch al-Bashirs Militär-und Parteiapparat, ist durchaus begründet. Bloß spielt sich hier die falsche Partei zur Hüterin der Demokratie auf. Die SPLM stellt im Südsudan die quasi absolute Hausmacht, drangsaliert dort die Opposition, bedroht kritische Journalisten. Von politischem Pluralismus und freier Meinungsbildung hält sie genau so viel wie der Machthaber im Norden, Omar al-Bashir.

Vieles spricht dafür, dass hinter den Manövern der SPLM nicht die Sorge um Darfur, sondern der Deal mit Omar al-Bashir steht: al-Bashir, vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag  mit Haftbefehl gesucht, soll seine zweite Amtszeit kriegen. Im Gegenzug leistet Khartum keinen Widerstand gegen die Sezession. Die wird der Süden voraussichtlich Anfang 2011 in einem Referendum beschließen. Das Referendum ist ebenso wie die nun stattfindenden Wahlen Teil jenes Friedends-abkommens, das Khartum und der Süden 2005 nach jahrzehntelangem verheerendem Bürgerkrieg unterzeichnet haben.

Der da nicht so recht mitspielte, war Yasir Arman, Spitzenkandidat der SPLM, der plötzlich Spaß am Wahlkampf und an der Aussicht bekam, al-Bashir zu einem zweiten Wahlgang zu zwingen. Also zogen die SPLM-Granden rund um den südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir die Notbremse und zerlegten damit auch das mühsam geschmiedete Parteienbündnis gegen die NCP und al-Bashir.

Am 18. April sollen die Ergebnisse verkündet werden. Was ist zu erwarten?

Zunächst zwei angeschlagene Kriegsfürsten in (Wahl)Siegerpose
Omar al-Bashir wird gewinnen (nicht nur dank Manipulation, sondern auch dank seiner Popularität im Norden) und seine Faust triumphierend Richtung Den Haag schütteln. Vielleicht ein letztes Mal, denn auch in der NCP halten ihn inzwischen einige für eine Belastung.

Salva Kiir wird sich in Juba, der Hauptstadt des Südsudan, als alter und neuer Präsident des zukünftigen unabhängigen Staates feiern lassen – und auf wachsenden Unmut an der Partei-Basis einstellen müssen.

Was werden wir noch sehen?
Womöglich interessante Ergebnisse bei den Gouverneurswahlen, die als Denkzettel an die NCP in Khartum zu verstehen sind.
Zahlreiche Klagen und Beschwerden von Kirchen und NGOs über Manipulationen – und mittendrin ein eher hilfloses Häufchen von EU-Wahlbeobachtern.
Eine anhaltende humanitäre Katastrophe in Darfur. In den nächsten Monaten vielleicht aber auch einen sachten Sinneswandel in Khartum. Dort müsste man langsam begriffen haben, dass sich die völlig verarmte Peripherie des Landes nicht mit Ausbeutung, Luftangriffen und marodierenden Reitermilizen beherrschen lässt.

Womöglich werden wir also Zeuge einer ziemlich unsauberen Wahl, die einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher im Amt bestätigt, ihm womöglich gleichzeitig einiges Wasser abgräbt und (hoffentlich) die friedliche Sezession eines völlig verarmten und zerstörten Teil des Landes ermöglicht.
Für die dortigen Verhältnisse wäre das durchaus ein positives Szenario.

 

Der Anfang vom Ende der MONUC

Nicht so gute Nachrichten aus dem Kongo: Eine bewaffnete Miliz hat am vergangenen Sonntag den Flughafen von Mbandaka angegriffen, dabei zwei UN-Angehörige und mehrere kongolesische Zivilisten getötet. Inzwischen haben laut BBC Einheiten der kongolesischen Armee zusammen mit Blauhelmen der UN den Flughafen zurückerobert.

Schon wieder Unruhen im Ostkongo? Falsch. Mbandaka ist die Hauptstadt der Provinz Equateur im Westen des Landes. Vor einigen Monaten brach hier ein bewaffneter Konflikt zwischen den ethnischen Gruppen der Lobala und Boba – angeblich ausgelöst durch einen Streit um Fischereirechte.

Die Folge: über hundert Tote und 200.000 Vertriebene, von denen viele über die Grenze in die benachbarte Republik Kongo geflohen sind.  Also ein Konfliktherd und eine humanitäre Krise mehr.

Nicht, dass es eines zusätzlichen Beweises bedurft hätte: der kongolesische Staat ist meilenweit davon entfernt, ein Gewaltmonopol beanspruchen zu können. Für Einsätze wie in Mbandaka, aber auch im Osten sind die Forces Armées de la République Démocratique du Congo (FARDC) auf die Hilfe der UN angewiesen.

Das wirft zum einen die inzwischen heftig diskutierte Frage auf, ob sich die UN dabei mitschuldig an den Menschenrechtsverletzungen von FARDC-Einheiten macht. Zum anderen gerät die kongolesische Regierung zunehmend in die Bredouille. Die möchte die UN-Mission im Kongo (MONUC) samt Blauhelmen gern aus dem Land haben – am liebsten pünktlich zum 30. Juni 2010, wenn das Land den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, und Präsident Joseph Kabila sich als starker Mann präsentieren möchte, der keine internationale Hilfe braucht. Weil Kabila die Blauhelme so schnell nun auch wieder nicht los werden kann, verlangt er von den UN bis Ende Juni zumindest einen Abzugsplan.

Die Anti-UN-Rhetorik in Kinshasa speist sich zum einen aus dem Ärger der Regierung über UN-Kritik am desolaten Zustand der Streitkräfte und an den massiven Menschenrechtsverletzungen kongolesischer Militärs. Zum anderen aus der pompösen Selbstüberschätzung, die Sicherheitsprobleme im Land selbst in den Griff bekommen zu können.

Wie weit diese Einschätzung von der Realität entfernt ist, hat auf tragische Weise zuletzt das Massaker von Trupps der LRA im Nordosten des Kongo gezeigt. Und nun die Besetzung eines ganzen Flughafens durch eine Miliz in Mbandaka.

Wie gesagt: ganz so schnell wird sich MONUC nicht aus dem Kongo verabschieden. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon hat am Montag dem Sicherheitsrat empfohlen, das am 31. Mai auslaufende Mandat für MONUC um ein weiteres Jahr zu verlängern, aber die ersten 2000 Blauhelme bis Juni abzuziehen.

Das könnte den Mitgliedsländern im Sicherheitsrat entgegen kommen, welche über die vergangenen elf Jahre der UN-Mission gern zusätzliche Aufgaben aufluden, aber nie ausreichend Personal und Mittel genehmigten. MONUC stellt mit 18.500 Soldaten und einem Jahresbudget von einer Milliarde Dollar derzeit die größte und teuerste Blauhelm-Mission. Aber in Anbetracht der Dimensionen kongolesischer Probleme war sie immer zu klein. Und ist es immer noch.

Bans Vorschlag stellt die Weltorganisation vor ein weiteres Dilemma. Verschiedene UN-Diplomaten haben in den vergangenen Monaten durchblicken lassen, dass Joseph Kabilas zunehmend autoritäres Gebaren eine längere Präsenz der MONUC inakzeptabel macht. Für 2011 sind im Kongo Wahlen angesetzt. Schon jetzt ist klar, dass diese dazu dienen sollen, Kabila endgültig im Präsidentenpalast zu inthronisieren.

Die UN aber würden nach dem Debakel um Hamid Karzais Wahlsieg in Afghanistan erneut zum Mitorganisator einer Farce. Und damit im Kongo auch zum Totengräber ihres Experiments des Demokratieaufbaus unter hellblauer Flagge.

 

Wahlen im Sudan: Boykottieren oder nicht boykottieren?

Was geht ab in Khartum? Einiges. Zunächst der Paukenschlag: der stärkste Gegner von Omar al-Bashir im Rennen um die Präsidentschaft hat seine Kandidatur zurückgezogen.
Die anderen Oppositionsparteien ringen mit sich und der Frage, ob sie die Wahlen boykottieren soll.
Außerdem streiken die Ärzte wegen ausstehender Gehaltszahlungen. Und die Stadt macht immer häufiger Bekanntschaft mit Spontis.

Der Reihe nach: Yassir Arman, Spitzenkandidat der SPLM, der „Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung“ ist gestern aus dem Präsidentschaftsrennen ausgestiegen. Seine Begründung: der Ausnahmezustand in Darfur mache „freie und faire Wahlen“ unmöglich.

Dass diese Wahlen nicht wirklich frei und fair sein würden, wusste auch Arman von Anfang an. Seine Kandidatur hatte eher taktisch-formalen Charakter. Denn die SPLM, seit dem Friedensabkommen 2005 im autonom regierten Südsudan an der Macht, sieht diese Wahlen als Teil eines Deals mit Omar al-Bashir, der bekanntlich vom Internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehl gesucht wird. Der Deal besagt: ‚Du kriegst Deine zweite Amtszeit und damit einen kleinen Triumph über den Strafgerichtshof. Wir kriegen Anfang 2011 unser Referendum und werden unabhängig.’

Das Problem: Parteien sind berechenbar, einzelne Menschen nicht. Arman begann – offenbar auch zur Überraschung vieler in der SPLM – einen echten Wahlkampf zu führen. Dass er jetzt aussteigt oder aussteigen musste, verstört – so paradox es klingt – vor allem Amtsinhaber Omar al-Bashir. Denn sollten sich nun auch kleinere Oppositionsparteien zum Boykott entschließen, wäre die Präsidentschaftswahl tatsächlich nur Theater und der erwartete Wahlsieg für Bashir auch für ihn selbst wenig wert. Der droht nun, das Referendum über die Unabhängigkeit des Südens im Januar 2011 platzen zu lassen. Das wiederum lässt die Töne zwischen den einstigen Kriegsgegnern im Norden und im Süden schriller werden und erhöht die Alarmbereitschaft in Washington, Kairo, Pretoria und bei der Afrikanischen Union in Addis Abeba.

Seit Mittwoch Abend jedenfalls ist die Anspannung in Khartum um einiges gestiegen. Zumal die Machthaber auch andere Probleme nicht unter Kontrolle bekommen. Zum Beispiel die seit Wochen streikenden Ärzte, die sich öffentlich versammeln und die Regierung bloßstellen, weil sie ihre Angestellten nicht bezahlt. Und das mitten im Wahlkampf.

Informationen darüber bekommt man in den Zeitungen, von den Ärzten selbst, die hin und wieder in kleine Scharmützel mit der Polizei geraten. Und auf der Website von Girifna (leider mit nur wenigen englischen Einträgen). Womit wir bei den Spontis wären.

Girifna heißt – salopp übersetzt: „Wir haben die Schnauze voll.“ Girifna ist, wie der Name vermuten lässt, keine Partei, nicht mal eine feste Organisation, sondern ein Khartum’s zartes Pflänzchen einer Sponti-Bewegung. Girifna-Anhänger erkennt man auf den Straßen Khartums an ihren orange-farbenen Schals oder Transparenten. Sie tauchen auf belebten Plätzen oder bei den Versammlungen anderer Parteien auf, verteilen Flugblätter, fordern die Leute auf, ihre Stimme abzugeben und die herrschende National Congress Party von Präsident Omar al-Bashir abzuwählen.

Wie Girifna entstand, beschreiben die Gründer, die aus guten Gründen ungenannt bleiben, auf ihrer Website:

„Am Abend des 30. Oktober 2009 stellte eine Gruppe von Freunden in Khartum fest, dass sudanesische Bürger keine Informationen darüber hatten, wo und wie man sich für die Wahlen registrieren lassen musste. Weder von der Regierung noch der Zivilgesellschaft gab es eine Informationskampagne. Keine Registrierung aber bedeutete: kein Wahlrecht.“

Genauer gesagt: die NCP – mit Abstand die am besten organisierte Partei im Sudan – hatte sehr wohl eine Registrierungskampagne organisiert: für ihre Anhänger. Beobachter sind sich einig, dass die wohl dosierte Manipulation der Wahlen beim Registrierungsprozess begann. Die NCP stützte sich dabei vor allem auf die „Volkskomitees“, die kleinste Verwaltungseinheit, die in jedem Wohnbezirk über das Wohl der Partei wacht, den Blockwart spielt, aber auch Sozialversicherungskarten, Wahlausweise und Bezugsscheine für kostenlose Medikamente austeilt.
Girifna-Aktivisten gingen also zunächst von Tür zu Tür, um den Leuten zu erklären, wo und wie man sich registrieren lässt. In den vergangenen Wochen und Tagen sah man die jungen Sudanesen und Sudanesinnen in Orange bei kleinen spontanen Demos, die kurzfristig über Mobiltelefon oder Facebook verabredet wurden.

Das erinnert auf den ersten Blick an die iranische Oppositionsbewegung, die in Teheran mit Handy, Blogs, Twitter, YouTube und Demos seit vergangenem Sommer immer wieder gegen den offensichtlich unsauberen Wahlsieg von Mahmud Ahmadinedschad protestiert.

Aber Vorsicht! Von einer Cyber-Opposition kann im Sudan noch keine Rede sein. Anders als im Iran ist die Zahl der Bürger mit Internetzugang auch in Khartum  sehr klein. Und von der kritischen Masse, die für große Demonstrationen nötig wäre, ist man wohl noch weit entfernt.

Was nicht heißt, dass die Sicherheitsbehörden Girifna nicht ernst nähmen. Vor zwei Wochen wurde der 18 jährige Girifna-Aktivist Abdallah Mahadi Badawi von zwei bewaffneten Männern in Zivil während einer Demonstration abgeführt. Nach mehreren Stunden tauchte er mit schweren Prellungen und Blutergüssen auf dem Rücken wieder auf. Man habe ihn, sagte er, mehrere Stunden verhört, mit Rohren geschlagen und eine Pistole an seinen Kopf gehalten. Dann habe er schriftlich versichern müssen, an keinen weiteren politischen Aktionen teilzunehmen.

Angriff und öffentliche Aufmerksamkeit sind die beste Verteidigung, dachten sich Badawi und Girifna und veranstalteten postwendend eine Pressekonferenz, auf der der junge Mann seine Verhaftung und Misshandlung beschrieb und auch gegenüber Vertretern von Human Rights Watch zu Protokoll gab.

Wie Girifna nun mit dem möglichen Boykott der Wahlen durch die Opposition umgehen wird, wissen die Aktivisten wohl selbst noch nicht. Momentan verharrt jeder in Khartum in Spannung – auf das Beste hoffend und das Schlimmste befürchtend.

 

Das tödliche Dreiländereck: Der Sudan, die LRA und ein Massaker im Kongo

Gesuchter Kriegsverbrecher: Joseph Kony, Anführer der Lord

Von Khartum, der Hauptstadt des Sudan sind es über tausend Kilometer bis zum Tatort des jüngsten Massakers im Nachbarland Kongo. Von Juba, Hauptstadt des autonomen Südsudan, sind es mehrere hundert Kilometer. Doch die drei Buchstaben, hinter denen sich die Mörder verbergen, sind auch im Sudan bekannt und gefürchtet: LRA.

Über zwei Monate hat es gedauert, bis Human Rights Watch und die BBC Gerüchte und Recherchen lokaler Menschenrechtsaktivisten in der kongolesischen Provinz Orientale prüfen und über den Horror berichten konnten: Zwischen dem 14. und 17. Dezember 2009 ermordeten Trupps der ugandischen „Lord’s Resistance Army“ (LRA) in mehreren völlig isolierten Dörfern im Nordosten des Kongo über 300 Zivilisten. Die meisten wurden mit Stöcken und Macheten erschlagen. Die Opfer sind vor allem Männer, aber auch mehrere Frauen und Kleinkinder, darunter ein dreijähriges Mädchen, das nach Berichten von Augenzeugen verbrannt wurde. Die Täter entführten mehrere hundert Jungen als Lastenschlepper und Mädchen als „Buschfrauen“ für ihre Kommandanten.

Es ist das schlimmste Massaker seit langem im Ostkongo, dessen Bewohner in den weiter südlich gelegenen Kivu-Provinzen von der aus Ruanda stammenden FDLR terrorisiert werden – und im Nordosten seit einigen Jahren von der ugandischen „Lord’s Resistance Army“.

Die „Widerstandsarmee des Herrn“ kämpft seit rund zwanzig Jahren unter Führung des selbsternannten Propheten Joseph Kony gegen die ugandische Regierung und für einen Gottesstaat auf Grundlage der zehn Gebote. Ursprünglich gab sie sich als Fürsprecher des verarmten ugandischen Nordens und der dort ansässigen Acholi aus. Doch mit massiven Zwangsrekrutierungen von Kindern der Acholi und brutalen Strafaktionen gegen vermeintlich illoyale Dörfer gebärdete sich Konys LRA im eigenen Gebiet wie eine Terrortruppe.

Der grausame Spuk wäre womöglich bald zu Ende gewesen, hätte Kony nicht einen mächtigen Sponsor im Sudan gefunden. Anfang der 90er Jahre war der Dauerkonflikt zwischen dem islamischen Regime in Khartum und dem christlich-animistischen Süden wieder vollends entbrannt. Bürgerkriege, egal in welchem Land, rufen die Nachbarstaaten auf den Plan – frei nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Weil Ugandas Staatschef Yoweri Museveni die SPLA-Rebellen im Südsudan unterstützte, versorgte das Regime in Khartum unter Führung von Präsident Omar al-Bashir Konys Truppe mit Waffen, Ausbildern und militärischer Aufklärung. Islamisten rüsteten christliche Fundamentalisten auf – das dürfte es nicht oft gegeben haben.

2005 endete der sudanesische Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden. Die Allianz zwischen Kony und Khartum hatte schon vorher zu bröckeln begonnen. Die LRA, maßgeblich geschwächt, verstreute sich auf andere Nachbarländer: den Nordosten des Kongo und entlegene Gebiete in der Zentralafrikanischen Republik. Das einzige, was Kony und al-Bashir seither gemein haben, sind – so scheint es – Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag: Dort wird Kony zusammen mit einigen seiner Stellvertreter wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Uganda gesucht. Gegen Al-Bashir will das Gericht Anklage wegen der Gräueltaten in Darfur erheben.

Der ugandische Journalist Frank Nyakairu hat über Jahre die Verbrechen der LRA (aber auch die der ugandischen Armee gegenüber Acholi-Zivilisten) dokumentiert und LRA-Kämpfer mehrfach im Busch aufgesucht. Aus dem aufgeriebenen Haufen der vergangenen Jahre, so Nyakairu, sei in jüngster Zeit eine „multinationale Truppe“ geworden, die besser aufgerüstet und aufgestockt mit neuen Zwangsrekruten aus dem Kongo, dem Sudan und der Zentralafrikanischen Republik, „über mehrere Länder Zentralafrikas operiert.“

Eine Militäroperation gegen Konys Stützpunkte im Ostkongo – durchgeführt von ugandischen, südsudanesischen und kongolesischen Armeeeinheiten (mit amerikanischer Unterstützung) scheiterte 2009. Seitdem hat die LRA ihre brutalen Überfälle auf die Zivilbevölkerung verstärkt. Allein in der kongolesischen Provinz Orientale haben ihre Kämpfer nach Angaben der UN seit Dezember 2008 mehr als 1200 Zivilisten getötet. Im Südsudan hat die LRA mehrere zehntausend Menschen aus ihren Dörfern vertrieben und damit eine bereits bestehende Hungerkrise im Süden dramatisch verschärft.

Ob dies die Aktionen versprengter, aufgeriebener LRA-Trupps sind, ob die Täter einer von der LRA-Führung ausgegebenen Strategie folgen, oder ob womöglich einige Gräueltaten auf das Konto anderer Banden gehen – darüber gehen die Meinungen auseinander. Die ugandische Armee hat inzwischen die Täterschaft der LRA in Frage gestellt. Nach ihrer Darstellung verfügt die LRA allenfalls noch über 200 Kämpfer und sei gar nicht in der Lage, vier Tage lang mordend und plündernd durch Dörfer zu ziehen.

Bei Nyakairu liest sich das anders. Neu sind nach seinen Recherchen nicht nur Rekruten und Waffen der LRA. Neu sei auch die Kommandosprache. Befehle der LRA-Kommandanten würden, schreibt Nyakairu, nicht mehr nur auf Acholi sondern auch auf Arabisch erteilt. Manche Beobachter werten dies als Zeichen dafür, das Khartum wieder zum Sponsor der LRA geworden ist, um den Süden zu destabilisieren, der sich derzeit auf die landesweiten Wahlen Mitte April vorbereitet und im Januar 2011 per Referendum voraussichtlich seine Unabhängigkeit beschließen wird. Handfeste Beweise für eine Neuauflage der Allianz zwischen Kony und al-Bashir gibt es bislang allerdings nicht. Regierungsvertreter in Khartum bestreiten den Vorwurf vehement.

Was es gibt, sind neue Massengräber im Kongo, einen terroristischen Sektenführer, den niemand zu fassen bekommt. Und eine Akte in Den Haag beim Internationalen Strafgerichtshof, die nun wieder um einige Seiten länger werden dürfte.

 

Rock the vote auf sudanesisch

Hip Hop und Kabarett sind nicht unbedingt das erste, was einem zum Sudan einfällt. Und Namen wie Tariq Amin, Sister Dee oder Yobu Annet sind in Deutschland unbekannt. Im Sudan versuchen diese Künstler derzeit etwas sehr Ungewöhnliches: Sie mobilisieren vor allem junge Landsleute für die bevorstehenden Wahlen. Rock the vote auf sudanesisch.

Am 11. April wählen die Sudanesen einen Präsidenten,  ein neues Nationalparlament und neue Parlamente in den Bundesstaaten. Es sind die ersten Mehrparteienwahlen seit über zwanzig Jahren.
Dass sie wirklich frei und fair ablaufen werden, glaubt niemand. Der Sieg des Amtsinhabers Omar al-Bashir – vom Internationalen Strafgerichtshof  wegen Kriegsverbrechen in Darfur mit Haftbefehl gesucht – gilt als sehr wahrscheinlich. Erstens, weil Bashirs „National Congress Party“ vorab offenbar geschickt manipuliert hat. Zweitens, weil der Präsident durchaus Popularität genießt. Nicht zuletzt aufgrund des Haftbefehls, hinter dem viele Sudanesen im Norden eine „westliche Verschwörung“ vermuten.

Wozu dann mit enormem Aufwand Wahlen organisieren in einem Land, dessen Infrastruktur in weiten Teilen erbärmlich ist und in dem geschätzte 40 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben können?

Nun, weil es erstens manchmal anders kommen kann als man denkt. Und weil die Wahlen Teil eines international begleiteten Friedensabkommen sind, das 2005 den Konflikt zwischen dem muslimischen Norden und dem christlich-animistischen Süden beendete. Afrikas längster Bürgerkrieg zog sich über fünf Jahrzehnte hin, wurde zeitweise genauso brutal geführt wie der Krieg in Darfur und hat mit 1,5 Millionen Toten weit mehr Opfer gefordert.

Der Südsudan genießt seit dem Abkommen einen autonomen Status und wird sich voraussichtlich in einem Referendum nächstes Jahr für unabhängig erklären, in Khartum amtiert seit 2005 eine „Regierung der nationalen Einheit“ mit Vertretern der NCP, der südsudanesischen SPLM und kleineren Parteien. Die Macht aber ist bei der NCP und bei Bashir geblieben.

Der Urnengang wird dessen Präsidentschaft voraussichtlich nicht beenden. Er könnte aber sehr wohl die Übermacht seiner Partei schmälern, ein stärkeres, widerspenstigeres Parlament und eigenwilligere Gouverneure in den Bundesstaaten hervorbringen. Kurzum, es könnten neue politische Freiräume entstehen – auch, was eine Kultur politischer Teilhabe betrifft. „Und die muss man nutzen“, sagt Tariq Amin.

Amin ist kein Politiker, sondern einer der bekanntesten Musiker und Kabarettisten im Land. Sein House of Arts in Khartum ist ein Multi-Media-Zentrum mit Freiluft-Bühne, Aufnahme-Studio, Ateliers und dem für Künstler üblichen Chaos aus halbleeren Farbtöpfen, vollen Aschenbechern und zerbeulten Cola-Dosen. Hier treffen sich politisch renitente Poeten, Rapper, Theatergruppen und einige der besten Instrumentalisten auf der Oud, der Laute. Was sie eint, ist eine ausgeprägte Abneigung gegen Militäruniformen, Sharia und Islamisten – vulgo: „Vollbartträger“.

Amin (3 v.l. bei einem Auftritt im House of Arts) hat früher einmal Jura studiert, dann auf Kunst umgesattelt. Seine Musik-, Kabarett-und Theatergruppe Hela Hop ist weit über Khartum hinaus bekannt. Zusammen mit elf anderen Musikern ist er nun auf einem Album mit dem Titel Sudan Votes Music Hopes vertreten, das im Sudan seit einigen Wochen als Kassette im Umlauf ist (CDs sind in einem Land mit vielen Sandstürmen kein geeigneter Tonträger) und jetzt auch über’s Internet gehört werden kann.

Sudan Votes Music Hopes ist mit deutscher Hilfe entstanden: namentlich der Berliner Organisation „Media in Cooperation and Transition“ (MICT), die in Konfliktgebieten im Mittleren Osten und Nordafrika Journalisten und Medienprojekte unterstützt – für den Sudan unter anderem die exzellente Website sudanvotes.com. Der deutsche Rapper Max Herre, (nicht nur) bekannt durch die Gruppe Freundeskreis, hat die zwölf Songs mit ausgewählt.

Immerhin einer der zwölf Musikern auf dem Album hat bereits im Westen Furore gemacht. Emmanuel Jal, 30 Jahre alt, von Altstar Peter Gabriel als „zweiter Bob Marley“ gehandelt, wurde im Alter von sieben Jahren Kindersoldat auf Seiten der südsudanesischen Rebellen. Als neunjähriger Kämpfer verstümmelte er mit einer Machete die Gesichter vermeintlicher Feinde. Mit elf floh er drei Monate zu Fuß aus dem Kriegsgebiet und gelangte schließlich mit Unterstützung einer britischen Nothelferin nach Kenia, wo er zur Schule ging. Er begann, Musik zu machen, landete 2005 mit dem Song Gua einen Hit. Im selben Jahr veröffentlichte er ein Album mit dem nordsudanesischen Musiker Abdel Gadir Salim, was damals ungefähr so selbstverständlich war wie ein gemeinsames Konzert israelischer und palästinensischer Musiker. Der Dokumentarfilm War Child, benannt nach Jals Autobiografie, lief 2008 auf der Berlinale.
Abgesehen von diesem Lebenslauf macht der Emmanuel Jal einfach gute Musik.

Sudan Votes Music Hopes appelliert nicht nur an Jungwähler, möglichst zahlreich ihre Stimmen abzugeben. Es drückt auch die Hoffnung auf einen friedlichen Ablauf der Wahlen aus. Die Angst vor den Sicherheitskräften ist in Khartum und anderswo durchaus zu spüren – auch wenn die politische Repression in den vergangenen Jahren spürbar zurückgegangen ist. Ebenso groß ist die Furcht vor einem „kenianischen Szenario“. (In Kenia war es nach massiven und offensichtlichen Fälschungen bei den Wahlen zu schweren Kämpfen gekommen.)

Im House of Arts testet Tariq Amin unterdessen weiter die Grenzen aus. Er hat sämtliche Präsidentschaftsanwärter aufgefordert, sich in seinem Haus einer Live-Diskussion mit Wählern über die Freiheit der Kunst zu stellen. Omar al-Bashir wird wohl nicht kommen. Aber andere Kandidaten, darunter einige politische Schwergewichte aus früheren Zeiten, sind bereits angetreten. Abgerundet wird jeder Kandidaten-Auftritt durch einen Auftritt von Hela Hop. Dank guter Lautsprecher beschallt Amin die ganze Nachbarschaft gleich mit.

Für sudanesische Verhältnisse sind das ziemlich ungewöhnliche Vorgänge. „Freedom by hand“ nennt das Tariq Amin. Freiheiten, die man sich einfach nimmt – und, wenn irgend möglich, nicht mehr hergibt.

 

Nicht nur, weil heute Frauentag ist…

…stelle ich Sophie Miblisi vor. Mitte zwanzig, wohnhaft in Kamituga, ledig, beschäftigt als Klempnerin im städtischen Hospital. Und damit – so nehme ich an – eine der wenigen Frauen, wenn nicht die einzige in der ganzen Provinz Süd-Kivu, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, Rohre zu verlegen und Wasserhähne zu montieren.
Die männlichen Kollegen, sagt Miblisi, hätten etwas Zeit gebraucht, sich an diesen Anblick zu gewöhnen.
Miblisis Geschichte ist ungewöhnlich genug. Sie wurde noch ungewöhnlicher, als ihre Arbeitgeber,  die kongolesische Krankenhausleitung und die Mitarbeiter der deutschen NGO Cap Anamur, entdeckten, dass sie Psychologie studiert hat. Weswegen Miblisi plötzlich einen zweiten Job ausübte, als eines Tages im Spätsommer eine Karawane der Überlebenden im Hospital auftauchte – Überlebende des andauernden Krieges gegen Frauen.

Über 40 Mütter, Großmütter, Mädchen, Bäuerinnen, Händlerinnen aus dem Hinterland, alle Opfer von Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten, hatten sich in den Wäldern unweit Kamitugas gesammelt, um gemeinsam im Krankenhaus Hilfe zu suchen. Die meisten waren offenbar Opfer von Hutu-Rebellen der FDLR geworden, hatten zum Teil schwere körperliche Verletzungen und seelische Traumata erlitten. Was genau eine Psychologin macht, war ihnen nicht klar. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich für das hier zuständig bin,“ sagt Miblisi und legt ihre Hand auf ihr Herz. „Und für ihren Kopf, für die Angst und die schlimmen Träume.“

Dann hätte sie einfach angefangen, mit den Frauen zu reden, sie einfach weinen oder beten oder erzählen zu lassen. Von der Vergewaltigung, von den Tätern, von der Schande und der Verachtung oder manchmal auch der Hilfe durch die Dorfgemeinde. „Es ist ja nicht nur der Körper, der leidet,“ sagt Miblisi. Richtige Therapie sei das natürlich nicht gewesen, sie habe wenig Zeit gehabt, denn die meisten Frauen sind nach der medizinischen Behandlung wieder zurück. Und ihr selbst fehle es eben noch an Schulung, an Fortbildung durch erfahrene Therapeuten und Therapeutinnen.

Das Gespräch mit Miblisi fand im Dezember statt. Dass man in Kamituga den Vergewaltigten überhaupt helfen konnte, verdankt sich, wie früher schon berichtet, einem joint venture zwischen Provinzverwaltung, der Hilfsorganisation Cap Anamur und der örtlichen Krankenhausleitung. Innerhalb von gut zwei Jahren hat sich dieses Hospital von einer durch Krieg und Verfall zerrütteten Siechenanstalt in ein funktionierendes Hospital verwandelt – das erste außerhalb der Provinzhauptstadt Bukavu.

Über diese Wiederauferstehung könnten die Mitarbeiter von Cap Anamur inzwischen Romane schreiben. Kleinere Flüchtlingskatastrophen waren zu bewältigen, Dächer zu decken, Bettengestelle neu zu verschweißen. Einen Sack Zement bekommt man im Kongo nicht auf dem Baumarkt, sondern erst nach kompliziertem logistischem Aufwand, die Zollbefreiung ebenso. Die Einstellung eines Krankenwagenfahrers endete zunächst mit der Testfahrt eines Bewerbers an einer neuen Mauer, und der OP-Saal sah bei meinem letzten Besuch im Dezember auch noch renovierungsbedürftig aus.

Aber inzwischen funktioniert die Bezahlung des Personals, die Behandlungskosten sind auf erträgliche Raten gesenkt worden, und das einheimische Chirurgenteam kann Notoperationen durchführen, wenn sich, wie unlängst geschehen, ein Soldat der notorisch schlecht ausgebildeten Armee beim Reinigen des Gewehrs eine Kugel in den Kiefer jagt. Die deutschen Cap Anamur-Ärzte hatten in den ersten Monaten ihres Wirkens so großen Eindruck hinterlassen, dass sich die PatientInnen nur noch von Weißen behandeln lassen wollte. Aber, sagt Gilbert Kibala, Chefchirurg und jüngerer Bruder des Vize-Gouverneurs, „das haben wir den Leuten schnell wieder abgewöhnt.“

Inmitten dieser kleinen und großen Fortschritte gegen alle Widrigkeiten platzen dann wieder Meldungen wie jene mit dem Aktenzeichen NI/OSMR/150210 der UN-Mission im Kongo. Am 12. Februar haben demnach Angehörige der FDLR bei einem Angriff auf das Dorf Bisembe (rund 30 Kilometer von Kamituga) 15 Frauen entführt. Acht konnten fliehen, die sieben anderen wurden ermordet aufgefunden.

Sophie Miblisi hat ihre Fortbildung inzwischen hoffentlich erhalten. An Patientinnen wird es ihr, so steht zu befürchten, in absehbarer Zukunft nicht mangeln. Die Gewalt gegen Frauen im Kongo ist nach wie vor eine Epidemie. Und trotz mühsamer kleiner Erfolge im Kampf gegen die Straflosigkeit gehen die meisten Täter – egal ob Rebellen, Soldaten oder Zivilisten – weiterhin straffrei aus. Das hat wieder einmal die „International Federation for Human Rights“ (FIDH) festgestellt, die anlässlich des Internationalen Frauentags ein lesenswertes Dossier zum Stand der Frauenrechte in afrikanischen Ländern herausgebracht hat. Demnach hat es im Kongo in den vergangenen Jahren nennenswerte gesetzgeberische Fortschritte gegeben – und eben auch ein horrendes Defizit bei der Durchsetzung und Implementierung.

Immerhin haben die Staatsanwälte von Katanga, der Nachbarprovinz Süd-Kivus, nun geschworen, verurteilte Vergewaltiger nicht mehr vorzeitig zu entlassen und Haftstrafen nicht mehr zur Bewährung auszusetzen. Auf Vergewaltigung steht derzeit eine Höchststrafe von 25 Jahren nach kongolesischem Recht.

Der Vorsatz klingt gut, allerdings stößt er auf zwei gigantische Hindernisse: Korruption im Justizapparat und verheerende Zustände in den Haftanstalten. Der Kongo braucht nicht nur dringend halbwegs funktionierende Krankenhäuser, er braucht auch dringend halbwegs funktionierende Gefängnisse.

 

Der Auftritt des Angeklagten Karadzic

Es ist eine Tortur, die sich die Frauen von Srebrenica immer wieder zumuten. Sie beantragen ein Visum für die Niederlande, fahren zwanzig Stunden im Bus von Sarajewo nach Den Haag, falten vor dem Gerichtsgebäude des UN-Jugoslawien-Tribunals die Transparente mit den Namen ihrer ermordeten Angehörigen auf, erleben, wie die Hauptangeklagten theatralische Monologe halten, sich selbst zu Opfern und die Opfer zu Tätern erklären oder einfach gar nicht erst erscheinen. So geschah es im Prozess gegen Slobodan Milosevic. So geschieht es jetzt im Prozess gegen Radovan Karadzic.

Internationale Strafprozesse gegen Kriegsverbrecher können vieles leisten: sie können eine Kultur der Straflosigkeit eindämmen. Sie können nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch die Drahtzieher zur Verantwortung ziehen. Sie können durch ihre Ermittlungen zur historischen Aufarbeitung beitragen, das Lügen und Leugnen erschweren.

Eines können sie nicht: die Opfer, die Überlebenden, die Zeugen der Anklage  zum geschützten Mittelpunkt des Verfahrens machen. Mittelpunkt eines  Strafverfahrens ist nun mal der Angeklagte. Und der hat, unter anderem, das Recht, die dreistesten Lügen im Beisein der Opfer von sich zu geben. Das erklärt, warum die Frauen von Srebrenica sich Anfang der Woche aus dem Munde des angeklagten Radovan Karadzic anhören mussten, dass der Bosnienkrieg die Schuld der Muslime und der Genozid von Srebrenica ein „Mythos“ sei. Es erklärt allerdings nicht, warum die Frauen nach der Verhaftung von Karadzic im Juli 2008 noch einmal über anderthalb Jahre auf die Eröffnung des Prozesses warten mussten.

Das Recht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, wurde bei der Entstehung des UN-Tribunals in die Prozessordnung geschrieben.
Es hat sich inzwischen als eine der schlimmsten Fußangeln erwiesen. Slobodan Milosevic hat dieses Recht genutzt, seinen Prozess mit politischen Monologen und oft absurden Dialogen mit den Richtern in die Länge zu ziehen. Nach viereinhalb Jahren raffte ihn ein Herzinfarkt dahin, und die Opfer seiner Kriege mussten sich nicht nur jahrelang verhöhnt, sondern auch um ein Urteil betrogen fühlen.

Ein anderer „Selbstverteidiger“, der das Gericht seit Jahren als Bühne für eine Schlammschlacht missbraucht, ist Vojislav Seselj, der serbische Ultranationalist, gelernte Anwalt und Führer serbischer Paramilitärs. Seselj ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Morde Massenvergewaltigungen und Plünderungen angeklagt. Im Gerichtssaal fällt er vor allem durch obszöne Tiraden und wüste Drohungen gegen Zeugen auf.

Dagegen gibt es eigentlich ein Mittel: Einem Angeklagten, der das Verfahren obstruiert, kann man einen Pflichtverteidiger beiordnen, was die Richter auch mehrfach versucht haben. Allerdings hat die Berufungskammer des Tribunals jeden Anlauf abgeschmettert. Sie ist offenbar der Meinung, dass ein Angeklagter das Recht, sein eigener Anwalt zu sein, erst dann verwirkt, wenn er einem Richter buchstäblich an die Gurgel geht.

Diese Präzedenzfälle machte und macht sich Karadzic zunutze, um Zeit zu schinden. Das tut er, anderes als Seselj, in formvollendeter Höflichkeit, aber nicht weniger effektiv. Weil Englisch und Französisch die Gerichtssprachen sind, kann Karadzic auf der Übersetzung aller Dokumente in Serbische bestehen. Allein das dauert. Er kann, was er im Herbst vergangenen Jahres immer wieder getan hat, reklamieren, nicht genügend Zeit zur Vorbereitung zu haben und die Eröffnung des Verfahrens boykottieren. Prozessbeobachter und Experten debattieren heftig, ob das Gericht ihn nicht längst hätte in die Schranken weisen können und sollen.

Die Mütter von Srebrenica haben sich unterdessen in Den Haag andere juristische Wege eröffnet. Im Juni 2007 reichten sie vor einem niederländischen Gericht Zivilklage gegen den niederländischen Staat und die Vereinten Nationen ein – wegen, vereinfacht ausgedrückt, Vertragsbruch.

Ihre Anwälte, darunter der deutsche Jurist Axel Hagedorn, argumentieren, dass die UN im Sommer 1995 den bosnischen Muslimen in Srebrenica Schutz quasi vertraglich garantiert hatten: durch entsprechende Zusicherungen hoher UN-Offiziere, durch UN-Resolutionen und die Einrichtung einer so genannten „Schutzzone“, aber auch durch die Entwaffnung muslimischer Kämpfer, die damit selbst keine Möglichkeit mehr hatten, sich und bosnische Zivilisten zu verteidigen. Wenige Wochen später überrollten Truppen unter dem Kommando von Ratko Mladic die Enklave und ermordeten 8000 bosnische Männer und Jungen. Die niederländischen Blauhelme leisteten nicht nur keinen Widerstand. Aus Angst vor den Serben unterstützten sie, so die Kläger, den Genozid, indem sie Männer von Frauen trennten und selbst Verwundete an die Serben übergaben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wissen mussten, was Mladic mit den Gefangenen vor hatte.

Die niederländische Regierung wiederum verhinderte mehrfach den Einsatz von NATO-Luftstreitkräften gegen serbische Stellungen aus Angst um das Leben ihrer Soldaten. Und die UN konstatierte sich unmittelbar nach dem Genozid selbst, eklatant bei der Ausführung ihres Mandats versagt zu haben. Im Klartext: Die Staatengemeinschaft hatte einen Völkermord nicht verhindert, hatte es nicht einmal ernsthaft versucht.

Aber kann man eine Regierung und die UN deswegen verklagen? Letztere berufen sich auf ihre Immunität, festgelegt in der UN-Charta, und warnen davor, dass Peacekeeping-Missionen unmöglich gemacht würden, sollte die Klage zugelassen werden. Erstere versteckt sich gewissermaßen dahinter. Falsch, sagen Hagedorn und seine MandantInnen. Im Fall von Nichtverhinderung eines Genozids kann niemand, auch nicht die größte internationale Organisation, Immunität reklamieren.

Auch dieses Verfahren zieht sich nun schon seit drei Jahren vor den niederländischen Instanzen hin. Dass die Überlebenden und Angehörigen von Srebrenica es gewinnen, glaubt kaum jemand. Aber sie haben eine zentrale Frage aufgeworfen, die so schnell nicht mehr aus der Debatte verschwinden wird: Wem sind die Vereinten Nationen eigentlich Rechenschaft schuldig, wenn sie ihre ureigenste Aufgabe, den Schutz der Menschenrechte und die Verhinderung eines Genozids, so dramatisch missachten wie es in Srebrenica der Fall war?

 

Frankreich und der ruandische Genozid

Voilà, man gibt sich wieder die Hand. Zähneknirschend. Für einige Stunden nur betrat Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy am Donnerstag, den 25. Februar, ruandischen Boden, besuchte das Mahnmal für die Opfer des Völkermords von 1994 und gab zu Protokoll: „Es hat eine Form von Blindheit gegeben. Wir haben die Dimension des Völkermords nicht wahrgenommen.“

Das ist eine erstaunliche Wandlung für den Staatschef Frankreichs, dessen Justiz bis vor kurzem noch Ruandas Präsidenten Paul Kagame vor Gericht stellen wollte.

In dieser Wandlung steckt wiederum ein diplomatischer Skandal. Denn Frankreichs Rolle 1994 mit „Blindheit“ zu erklären, ist ein dreister Euphemismus. „Parteinahme“ wäre der angemessene Ausdruck: Paris stand damals auf der Seite jener Hutu-Regierung, aus der heraus der Völkermord begangen wurde. Hätte Sarkozy dies bei seinem ersten Besuch in Kigali eingeräumt, hätte er sich im Namen seiner Nation entschuldigen müssen. Tat er aber nicht.

Mit dem Datum des 6. April 1994 können die meisten Europäer nichts verbinden, für Millionen von Menschen in Zentralafrika markiert es den Beginn eines jahrzehntlangen Alptraums. An diesem Tag wurde das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana kurz vor der Landung in Kigali abgeschossen. Habyarimana war bereit gewesen, den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen seiner Hutu-Regierung und Tutsi-Rebellen zu beenden. Auf seinen Tod aber folgten eine neue Offensive der Rebellen und der systematische, schon länger vorbereitete Genozid an 800.000 Tutsi und moderaten Hutu, verübt durch die damalige ruandische Armee und Hutu-Bürgermilizen.

Den Genozid stoppte erst der Vormarsch der  Tutsi-Rebellen unter Führung des heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame. Die internationale Gemeinschaft – allen voran USA, EU und UN – versagte  komplett. Erst während des Massenmordes im April 1994. Dann, als sich der inner-ruandische Konflikt in den Ost-Kongo verlagerte und dort zwei Kriege auslöste, an deren Folgen bis heute bis zu fünf Millionen Menschen gestorben sind. Das ist – kurz und knapp – die Kette der Katastrophen, die auf jenen 6. April 1994 folgte.

Wer das Präsidenten-Flugzeug abgeschossen hat, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Vieles spricht dafür, dass Hutu-Hardliner aus Habyarimanas Umfeld ihren eigenen Staatschef ermordeten, weil ihnen dessen Verhandlungskurs nicht passte.  In Frankreich wiederum, das die Hutu-Armee jahrelang unterstützt hatte,  hielt sich die Überzeugung, Kagame habe die tödlichen Raketen abfeuern lassen – und sei damit mitverantwortlich für den Genozid.

Als ein französischer Ermittlungsrichter 2006 deswegen sogar einen Haftbefehl gegen den ruandischen Präsidenten ausstellte, brach Kigali sämtliche diplomatische Beziehungen zu Paris ab, führte (als ehemaliges Mandatsgebiet unter belgischer Vewaltung und ehemals französisches Einflussgebiet) Englisch als Amtssprache ein und trat dem Commonwealth bei. Paris musste zur Kenntnis nehmen, dass es ein weiteres Einflussgebiet in Afrika an Großbritannien und die USA verloren hatte. Nun versucht Nicolas Sarkozy offenbar einen Neuanfang – mit nicht mehr Reumut als unbedingt nötig.

Bei diesem geostrategischen Schachspiel hat ein Thema offenbar keinen Platz: Im August stehen in Ruanda Wahlen an. Kagame hat beim Wiederaufbau seines Landes zweifellos enormes geleistet, weswegen man ihn gerade in den USA und Europa immer noch als Vertreter einer African Renaissance feiert. Dass er auch für den Raubbau kongolesischer Rohstoffe und für die Verbrechen pro-ruandischer Rebellengruppen im Kongo mitverantwortlich ist, fällt dabei ebenso unter den Tisch wie sein zunehmend autokratisches Gebaren.

Human Rights Watch wirft der ruandischen Regierung vor, im Vorfeld der Wahlen jede Opposition gegen ihre Politik mit dem Vorwurf der „Völkermord-Ideologie“ zu ersticken. Die offensichtlich orchestrierten physischen Angriffe gegen Oppositionspolitiker hätten in den vergangenen Wochen zugenommen. Oppositionelle, die eine juristische Ahndung der Kriegsverbrechen von Tutsi-Rebellen in den 90er Jahren forderten, würden bedroht. Ähnliche Kritik hat auch amnesty international in einem Brief an Kagame formuliert.