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Die unausprechliche Tat: Vergewaltigung von Männern

Es war nie mehr als ein Flüstern. Als Frauengruppen nach dem Bosnien-Krieg forderten, Massenvergewaltigungen endlich als Kriegsverbrechen zu ahnden (statt sie wie bisher als „normale Kollateralschäden“ zu bedauern), da machten auch Gerüchte über vergewaltigte Männer die Runde. Aber niemand wagte, laut darüber zu reden.
„Um Himmels willen, seien Sie still“, bat flehentlich die Mitarbeiterin eines Frauenzentrums im Kosovo, als ich kurz nach Kriegsende 1999 nach männlichen Opfern sexueller Gewalt fragte. „Viele“, sagte sie schließlich, als wir wieder im Auto saßen, und uns niemand hören könnte. „Viele von denen, die in serbischen Gefängnissen waren.“ Aber niemand, absolut niemand könne darüber reden. Schon gar nicht die Betroffenen selbst.

Jetzt hat Jeffrey Gettleman, Afrika-Korrespondent der New York Times, im Ostkongo mehrere Männer getroffen, die mutig oder verzweifelt genug waren, über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde: einer von ihnen, Kazungu Ziwa, ein 53 jähriger Tierpfleger wurde vor mehreren Wochen von Bewaffneten nachts in seiner Hütte überfallen und vergewaltigt. „Allein der Gedanke an das, was mir passiert ist“, sagt Ziwa, bringe ihn an den Rande der Erschöpfung. Ziwa und einige andere Männer waren nicht nur bereit, über ihr Schicksal zu reden, sondern ließen sich auch fotografieren.

Vergewaltigung ist das einzige Verbrechen, bei dem die Scham der Tat am Opfer, nicht am Täter hängen bleibt. Gerade deshalb funktioniert sexuelle Gewalt so gut als Waffe im Krieg. Frauen werden nach einer Vergewaltigung oftmals von ihren Männern verstoßen, womit nicht nur das Leben des Opfers, sondern das einer ganzen Familie, eines ganzen Dorfes zerstört werden kann. Mit dem sozialen Tod des Frau verschwindet immer auch eine Mutter, eine Bäuerin – und damit auch die Versorgerin einer ganzen Gruppe.

Auch Ziwa weiss, dass ihn seine Familie und Nachbarn nun ächten. In ihren Augen ist er zum „Buschweib“ geworden. Bei der Vergewaltigung von Frauen besteht die soziale Erniedrigung darin, sie – und damit die Ehre der Gemeinschaft – zu „beschmutzen“ und zu „schänden“. Bei vergewaltigten Männern besteht sie darin, dass sie zu Frauen „degradiert“ werden.

Sexuelle Kriegsgewalt gegen Männer ist inzwischen gerichtskundig. Das UN-Jugoslawien-Tribunal in Den Haag hat mehrere Fälle in Anklageschriften dokumentiert. Aber niemand hat je verläßliche Angaben oder Schätzungen über die Anzahl männlicher Opfer in Bosnien und im Kosovo liefern können. Zu groß ist das Tabu, zu groß die Angst der Betroffenen, darüber zu reden.

Im Kongo sind Zahlenangaben noch schwerer zu verifizieren. Hilfsorganisationen berichten einhellig, dass im Zuge der Militäroperationen gegen die Hutu-Milizen der FDLR die Zahl der Vergewaltigungen durch alle Konfliktparteien dramatisch gestiegen ist. Etwa zehn Prozent der Fälle betreffe Männer, meldet die American Bar Association, die amerikanische Anwaltskammer, die in Goma, der Hauptstadt der Provinz Nordkivu, eine juristische Beratungsstelle aufgebaut hat. Doch gezielte Hilfsangebote für männliche Opfer gibt es bislang keine.

 

Fellini in Kinshasa

Beach Ngobila, gegen halb vier Uhr nachmittags. Sie preschen um die Ecke Richtung Markt, als müssten sie eine Festung stürmen. Vornweg die Beinamputierten auf Dreirädern, schwitzend die Handpedale kurbelnd. Ihre Gesichter sind verzerrt vor Angst aus der Kurve zu kippen. Auf ihren Ladeflächen türmen sich Kisten und Säcken. Links und rechts schieben, zerren und brüllen ihre Gehilfen, Halbwüchsige mit gesunden, kräftigen Armen und Beinen. Dazwischen lauern, hoch konzentriert, die  Straßenkinder auf ihre Chance – einen Unfall, einen Wagenbruch oder eine herunterpurzelnde Kiste. Auf Kniehöhe wischt ein bulliger Kerl vorbei. Als hätte ihn jemand in der Mitte durchgehauen, sitzt sein Rumpf auf einem Holzbrett mit Rädern, er schiebt sich mit den Händen voran, weicht geschickt den Schlaglöchern und den Krüppeln aus, die auf Krücken hinterher spurten und ihre Beine wie die einer Marionette hin-und her schleudern.
Fellini in Kinshasa? Nein. Die Fähre aus Brazzaville ist angekommen. Ada steht mitten im Gewühl und sagt, ich solle beim Markt auf ihn warten, bis alles abgewickelt ist.

Ada Ketou ist 36 und vom Kopf bis zur Hüfte ein muskulöser Mann. Seine Beine sehen aus wie zwei abgeknickte Hölzer. Ich habe ihn das erste Mal 2002 getroffen und eine Geschichte über ihn geschrieben, die ich ihm jetzt, sieben Jahre später, mitbringe. Bisschen spät, findet Ada, aber besser als nie.

Ada erkrankte mit sechs Jahren an Polio. Eine Tante habe ihn verhext, hatte er mir erzählt, aus Eifersucht, weil er beliebter und hübscher gewesen sei als ihre eigenen Kinder. Wenn jeder Eifersuchtsanfall solche Folgen hätte, d ich mir, säße ganz Kinshasa im Rollstuhl.

Aus Ada Ketou wäre in den meisten anderen afrikanischen Ländern ein Bettler geworden. In Kinshasa ist er Vizepräsident einer Gewerkschaft, Mitglied einer Fußballmannschaft, Warenimporteur und Exporteur am Beach Ngobila. Außerdem verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Beach Ngobila ist kein Badestrand, sondern Kinshasa in Reinkultur: Verkehrsknotenpunkt, Industrieruine, Warenumschlagplatz, Jagdgebiet für Polizisten und Zöllner, kleinkrimineller Brennpunkt, Solidargemeinschaft, Müllhaufen und Herrschaftsgebiet der Amputierten, Behinderten und Kriegsversehrten. Zweimal am Tag kreuzt die Fähre, ein Kahn, der an Humphrey Bogarts „African Queen“ erinnert, den Fluss zwischen Kinshasa und Brazzaville, beladen mit Warenbergen und Menschentrauben. An drei Tagen in der Woche tauscht Ada seine Krücken gegen den selbstgebauten Lastrollstuhl, belädt ihn mit Seife, Waschpulver, Streichhölzern, Schaumgummi-Matratzen oder was immer in Kinshasa gerade billiger ist als in Brazzaville, rollt mit Gebrüll hinein in die schubsende, keifende Menschenmenge und auf den morschen Planken hinauf an Bord.

Auf der anderen Seite das gleiche Spektakel, jeder handicapé hat an beiden Ufern seine halbwüchsigen Gehilfen, die beim Be-und Entladen helfen, Straßenkinder verjagen und wie kleine Eisbrecher Schneisen durch das Gewühl zu den Marktfrauen schlagen. Für sechs Dollar kauft Ada in Kinshasa einen Karton Seife, für acht verkauft er ihn in Brazzaville. Zurück fährt er mit bunt bedruckten Stoffen, safrangelb, azurblau, karminrot, afrikanische Muster, alles made in China. Acht Dollar pro Bahn, in Kinshasa zahlen die Händlerinnen zehn. Das klingt nach einer sicheren Profitmarge, aber die Zeiten sind schlecht, der Umsatz rückläufig, der Kurs des kongolesischen Franc taumelt. Außerdem müssten auch die Behinderten jetzt Zoll zahlen, behauptet er.

Mobutu hatte seinerzeit bei seinen Orgien der Selbstbereicherung immer wieder ein paar Krümel für das Volk fallen gelassen. Für die Behinderten und Gelähmten, von Gott und den Geistern genug gestraft, verfügte er eine Zollbefreiung. Das schuf einen Marktvorteil, ein Monopol und (mindestens) eine Gewerkschaft, die  Union des handicapés pour devéloppement (UHPD), die „Vereinigung der Behinderten für Entwicklung“. Im Volksmund auch „die Römer“ genannt, weil sich Geschäftsleute in Kinshasa zumindest anfangs an die Mafia erinnert fühlten. Wer sich mit der UHPD anlegte, hatte schnell ein Kommando Einbeiniger, Buckliger und Hinkender vor der Ladentür. Was den Umsatz empfindlich schmälern kann, denn kein Kinois geht gern in ein Geschäft, das von Verhexten blockiert wird.

Ada lächelt sein Sunnyboy-Lächeln. Alte Geschichten, alles übertrieben. Außerdem müsse jeder sehen, wo er bleibt. Das Leben werde ja nicht billiger. Die Fahrt auf der Fähre koste inzwischen fast zehn Dollar, Mitgliedsbeiträge und Sozialabgaben an die UHPD sind abzuführen, Gehilfen müssen bezahlt, Polizisten bestochen werden. Ich solle morgen mitkommen, sagt Ada, nach Brazzaville. „Wir spielen am Sonntag gegen die andere Seite.“ Geht nicht, sage ich, kein Visum.
„Die andere Seite“ – das ist die Fußballmannschaft der handicapés aus Brazzaville, Hauptstadt der Republik Kongo. Fußball trifft die Sache nicht ganz. Es handelt sich um Bodenakrobatik. Die Spieler bewegen sich auf Händen und Knien, hechten und rollen übers Feld. Ada sitzt oder kniet im Tor. Seine Mannschaft hat  noch eine Rechnung offen gegen Brazzaville, denn das letzte Spiel ging vor heimischem Publikum verloren.
Irgendwelche Schwachpunkte in der Mannschaft?
Welch eine Frage. „Bei uns gibt’s keine Schwachpunkte.“
Am Montagmorgen ruft Ada an. Statt der Revanche gab es nur ein Remis. 1:1. Er klingt kleinlaut, weswegen ich einen Torwartfehler vermute und nach etwas Aufmunterndem suche.
„Spielen Deine Kinder Fußball?“
„Ja. Der Älteste ist gar nicht schlecht. Ist schnell, der Kleine.“ Und läuft auf zwei Beinen.
Ada hat alle seine Kinder gegen Polio impfen lassen. Wer sie verhexen will, muss sich etwas anderes einfallen lassen.

 

Better News from Congo

„Better News statt Bad News“ – so nennt Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, seinen Rundbrief über das, was in Afghanistan außer Selbstmordanschlägen und Gefechten mit den Taliban passiert. Das ist eine ganze Menge: unter die Rubrik „Bessere Nachrichten“ fallen die beste Getreideernte seit 30 Jahren, ein rückläufiger Mohnanbau, ein Innenminister, der es offensichtlich ernst meint mit dem Kampf gegen Korruption und Drogenschmuggel, und deutsche Entwicklungsexperten vor Ort, die trotz kritischer Sicherheitslage nicht weniger sondern mehr Aufbauprojekte fordern. Mit Schönfärberei haben Nachtweis „Better News“ nichts zu tun. Er kennt Afghanistan so gut wie kaum ein anderer Politiker. Die Entwicklung dort beschreibt er als „komplex und uneindeutig“ – und es fuchst ihn, dass Journalisten dank ihrer Obsession mit Militär, Bomben und Krieg dieses Land zum „hoffnungslosen Fall“ erklärt haben. Wer sich also ein genaueres Bild von der Lage zwischen Kunduz und Kandahar machen will, wird diese Lektüre schätzen – und sehr bedauern, dass Nachtwei nach 15 Jahren aus dem Parlament ausscheidet.

„Better News“ oder: „Uneindeutig und komplex“ – diese Rubrik gibt es ab sofort auch aus dem Kongo. Die Berichterstattung über dieses Land fällt zwar sehr viel spärlicher als über Afghanistan. Aber auch im Fall Kongo hat sich die mediale Wahrnehmung auf einige wenige Aussagen reduziert: es ist heiß, es gibt viele Rebellen und viele vergewaltigte Frauen. Alles richtig, und in seiner Ausschließlichkeit doch völlig falsch.
Deshalb also – frei nach Erich Kästner – nicht die Frage: Wo bleibt das Positive? Sondern: Wo bleibt das  Komplexe?
Fangen wir im Ostkongo an. Über die Militärkampagne gegen die Hutu-Rebellen der FDLR (Forces démocratiques de libération du Rwanda) mit ihren verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung wurde in den vergangenen Wochen einiges berichtet.
Dagegen liest und hört man fast nichts über das politische Tauwetter zwischen dem Kongo und Ruanda, das auf die gesamte Region der Großen Seen ausstrahlen kann. Nicht nur auf nationaler, auch auf Provinzebene läuft die Zusammenarbeit zwischen dem Kongo, Ruanda, Burundi und Uganda inzwischen deutlich besser. In der ehemals schlimmsten Kriegsregion seit 1945 lebt langsam der alte Traum von einer Handelszone ohne Schlagbäume, Zölle und Steuerschranken wieder auf. Handel statt Schmuggel, freier Grenzverkehr statt latentem Kriegszustand.
Und was passiert „ganz unten“ in den Städten und Dörfern? Kamituga, die völlig auf den Hund gekommene Bergwerksstadt in Süd-Kivu, war 2006 fast völlig vom Straßenverkehr in die Provinzhauptstadt Bukavu abgeschnitten. Sämtliche Waren mussten mit altersschwachen Antonows für teures Geld eingeflogen werden. Ins örtliche Krankenhaus gingen die Leute höchstens noch zum Sterben, und wer nach der Behandlung doch wieder nach Hause wollte, den sperrten die Ärzte ein, bis die Rechnung bezahlt war.
Drei Jahre später ist die Stadt ist immer noch mehr Krisengebiet als Lebensraum. Aber inzwischen gibt es wieder eine Straße nach Bukavu, und ein Team von Cap Anamur baut in mühseliger Kleinarbeit das Krankenhaus wieder auf. Wie das aussieht, hat der Fotograf Jürgen Escher eindrucksvoll dokumentiert. Ebenfalls empfehlenswert die Erfahrungsberichte der Ärzte auf der Website von Cap Anamur.
Die behandeln zusammen mit ihren kongolesischen Kollegen nicht nur Kranke, sondern schulen auch einheimisches Personal. Techniker renovieren die maroden Gebäude. Demnächst sollen ein Röntgengerät und eine neue OP-Ausstattung eintreffen (so es der kongolesische Zoll denn zulässt).
Wie so häufig schafft Erfolg gleich neue Probleme. Das Krankenhaus von Kamituga ist jetzt chronisch überbelegt. Es hat sich schnell herum gesprochen, dass man dort tatsächlich gesund werden kann. Außerdem ist aufgrund der Militärkampagne gegen die Hutu-Milizen der FDLR die Zahl der Flüchtlinge in der Stadt gestiegen.
Soviel für heute aus der Rubrik „Uneindeutig und komplex“.

 

Zum Feiertag ein Krieg

30. Juni 2009, 49. Jahrestag der Unabhängigkeit im Kongo, Tag der Paraden und Fanfaren in Kinshasa. Eigentlich gibt es wenig Grund zum Feiern, schon gar nicht für die Menschen im Osten, wo eine neue Kriegsrunde ausgebrochen ist.

Krieg? Welcher Krieg, fragen die Leute in Kinshasa. Für die meisten Kinois sind die Kivu-Provinzen, der Schauplatz scheinbar ewiger Katastrophen, ein fremdes Land, dessen Ereignisse nichts mit ihrem täglichen Überlebenskampf zu tun haben. Dabei ist das Ausmaß der neuen humanitären Katastrophe durchaus mit den jüngsten Kriegsfolgen in Pakistan und Sri Lanka zu vergleichen.

Die Verheerung im Osten ist Folge einer politisch richtigen, aber katastrophal ausgeführten Entscheidung: Im Januar diesen Jahres hatten Kongos Präsident Joseph Kabila und sein ruandischer Amtskollege Paul Kagame – bis dahin in tiefster Feindschaft verharrend – die internationale Gemeinschaft und die eigenen Landsleute mit einem sensationellen Deal verblüfft. Kabila gestattete Kagame, ruandische Truppen nach Nord-Kivu  zu entsenden. Diese sollte innerhalb weniger Wochen zusammen mit der kongolesischen Armee die Milizen der FDLR entwaffnen. Das ist die Nachfolgeorganisation jener Hutu-Kommandos, die 1994 den Genozid in Ruanda verübten, sich seither im Grenzgebiet des Nachbarlandes Kongo festgesetzt haben, wo sie rohstoffreiche Landstriche kontrollieren und mit Dauerterror die Befriedung der Region verhindern. Ruanda zog als Gegenleistung den kongolesischen Tutsi-Rebellenführer Laurent Nkunda aus dem Verkehr, der die Präsenz der FDLR immer wieder als Vorwand für militärische Aktionen in den Kivus genutzt hatte.

Die ruandisch-kongolesische Kooperation hat ein erstaunliches politisch-ökonomisches Tauwetter eingeleitet. Der militärische Teil jedoch war ein Fehlschlag – mit desaströsen Folgen für die Zivilisten. Weder gelang es, die Führungsstruktur der FDLR zu zerschlagen, noch eine nennenswerte Zahl der rund 6000 Kämpfer zu entwaffnen. Kaum waren die ruandischen Truppen abgezogen, nahmen Hutu-Milizen verlorene Stellungen in Nord-Kivu wieder ein. Seither rächen sie sich an der Bevölkerung – umso mehr, als nun kongolesische Truppen mit Unterstützung der UN-Blauhelme die FDLR  auch in Süd-Kivu angreifen. „Kimia II“ heißt die Operation.

In der Nacht zum 10. Mai überfielen Hutu-Kämpfer das Dorf Busurungi in Nord-Kivu und zündeten mehrere hundert Hütten an. Über 30 Menschen sollen bei lebendigem Leib verbrannt, Dutzende andere mit Äxten, Messern und Macheten massakriert worden sein. Die UN-Mission im Kongo (MONUC) sprach zunächst von 60 Toten, inzwischen ist von über 100 Ermordeten die Rede. Nach Aussagen von Flüchtlingen spießten FDLR-Milizionäre die Köpfe einiger Opfer am Dorfeingang auf – als Warnung an die Überlebenden, nie wieder mit der Armee zu kooperieren.

Mehrere hunderttausend Menschen sind inzwischen auf der Flucht. Andere werden offenbar von FDLR-Trupps mit Gewalt im umkämpften Gebiet festgehalten – offensichtlich, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Die Zahl der Vergewaltigungen ist in den umkämpften Gebieten dramatisch angestiegen.

Die Militärkampagne gegen die FDLR erinnert an ein ähnliches Desaster, das sich erst vor wenigen Monaten im Nordosten des Kongo, im Bezirk Ituri nahe der kongolesisch-ugandischen Grenze abgespielt hat. Dorthin hat sich die ugandische Miliz der „Lord’s Resistance Army“ (LRA) zurückgezogen, deren Führer Joseph Kony vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Haftbefehl gesucht wird. Die LRA ist berüchtigt für Massaker, Verstümmelungen und die massenhafte Zwangsrekrutierung von Kindern.

Eine Militäraktion der ugandischen Armee im Dezember 2008 (ausgeführt mit Erlaubnis der kongolesischen Regierung und verhaltener Unterstützung der USA) schlug fehl, Kongos Präsident Kabila ordnete den Abzug der Ugander an. Seither haben Konys Trupps in Rachefeldzügen über 1000 kongolesische Zivilisten ermordet und mehrere hundert Kinder entführt. Weder die notorisch überforderten Blauhelme der UN noch die kongolesische Armee, bekannt und berüchtigt für ihren desolaten Zustand, können die Bevölkerung in den unzugänglichen Regionen Ituris zu schützen.

Das gleiche Drama spielt sich nun in den Kivu-Provinzen ab. „All das kann nur mit aggressiver internationaler Intervention gestoppt werden“, schrieb der Afrika-Experte des „Institute for War and Peace Reporting“ (IWPR), Peter Eichstaedt, schon vor Wochen und forderte eine „multi-nationale Eingreiftruppe – bestehend aus erfahrenen NATO-Verbänden – mit Mandat des UN-Sicherheitsrats“, um die Führung der LRA wie der FDLR „einzukreisen und festzunehmen“.

Bei aller Skepsis gegenüber multi-nationalen Greiftrupps – im Fall des Kongo könnten sie tatsächlich erfolgreich sein und damit unzählige Menschenleben retten. Aber die politischen Vorzeichen in Washington und den europäischen Hauptstädten machen ein solches Engagement höchst unwahrscheinlich.

Und so bleibt vorerst nur die aktuelle Chronik einer Militäroperation, in der die Bevölkerung zwischen alle Fronten gerät. Denn die Menschen fliehen, so sie denn fliehen können, nicht nur vor der FDLR, sondern auch vor der eigenen Armee. Deren Soldaten haben oft seit Monaten keinen Sold mehr erhalten. Die UN versorgen die Militärs mit Nahrung, um allzu schlimme Plünderungen zu verhindern.

Im MONUC-Hauptquartier in Kinshasa beschwört man die Fortschritte bei Operation „Kimia II“ und gesteht offiziell allenfalls „logistische Probleme“ zu. Hinter vorgehaltener Hand räumen MONUC-Mitarbeiter durchaus ein, dass die Blauhelme in eine Militäroperation hineingezogen worden sind, auf deren Verlauf sie keinen Einfluss haben, und deren unmittelbare Folgen für die Zivilisten im krassen Gegensatz zum Kern des UN-Mandats stehen: dem Schutz der Bevölkerung.

Auch Süd-Kivus Vize-Gouverneur Jean-Claude Kibala setzt auf den Erfolg von „Kimia II“ –nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Mit militärischem Druck müsse man die Infrastruktur der FDLR zerstören, sagte Kibala vor wenigen Tagen in einem Interview mit Radio Okapi, „Sobald die einzelnen FDLR-Trupps nicht mehr miteinander kommunizieren können, keinen Rohstoffschmuggel und Viehhandel mehr betreiben können, sind sie blockiert.“

Andere Beobachter teilen diesen Optimismus nicht, sind sich aber mit den Befürwortern von Operation „Kimia II“ in zwei Punkten einig: Ohne die Eliminierung der FDLR in den Kivus ist, erstens, ein Frieden und damit ein Staatsaufbau im Kongo nicht möglich. Und zweitens wären die Erfolgsaussichten weit größer, wäre die Verheerung für die Zivilbevölkerung deutlich geringer, hätten die USA und Europa außer dringenden Appellen, die Hutu-Milizen endlich auszuschalten, etwas handfestere Hilfe zu bieten. Wenn schon keine Eingreiftruppe, dann vielleicht eine Truppenverstärkung für die Blauhelme, um diese für Einsätze gegen die FDLR zu entlasten. Oder ein paar Hubschrauber. Oder Aufklärungstechnologie. Oder ausreichend Geld und Personal für die Demobilisierung vor allem jüngerer FDLR-Kämpfer, die ihre Waffen niederlegen wollen. Oder wenigstens massiven Druck auf Kongos Regierung und Armee, dessen Offizierskorps weiterhin die Soldkassen plündert und das Geld unter anderem in den kleinen Bauboom in der Hauptstadt investiert.

In Kinshasa entdeckt man nach langem Suchen doch noch einen Hinweis auf den Krieg: „Cultivons l’amour, pas la guerre“ steht in großen Buchstaben auf einem Straßenplakat im Bezirk Limete. „Lasst uns die Liebe kultivieren, nicht den Krieg.“ Es handelt sich um Kondomwerbung für die Marke „Prudence“. In den Zeiten von AIDS ist das ein recht origineller Spruch. Gemessen daran, was sich dieser Tage im Ostkongo abspielt, ist es der blanke Hohn.

 

Szenen aus Kinshasa: Das Leben im Stau

Donnerstag gegen 16:30 Uhr, Rush Hour auf dem Boulevard des 30. Juni. Die Blechlawine rührt sich nicht vom Fleck. Ein Konvoi schwarzer Geländewagen mit verdunkelten Fensterscheiben ist auf einer Kreuzung eingekeilt. Nichts geht mehr, daran ändern auch die Kalaschnikows und die grimmigen Gesichter der Polizeieskorte nichts. Der Gouverneur von Kinshasa (die Hauptstadt hat den Status einer Provinz), André Kimbuta Yango, hat sich auf die Straße begeben. „Un grand voleur, un très grand voleur, ein Dieb, ein ganz großer Dieb“, sagt Monsieur Vicky, mein Fahrer, und wischt sich den Schweiß ab. Auch wir stehen im Stau, nur ohne Klimaanlage im Gegensatz zum Gouverneur. Dem rückt nun sein Volk näher auf den Leib, als ihm lieb sein kann. Dutzende Händler, Bettler und Straßenkinder stürzen auf sein Auto zu, klatschen gegen die dunklen Scheiben. „Hey Exzellenz, mach’ das Fenster auf, wirf’ ein bisschen Geld heraus. Komm schon, Papa, Du bist mächtig, Du bist stark, Du bist reich.“ Die Rufe klingen nicht schmeichelnd, auch nicht bittend, sondern fordernd. Eigentlich sagen sie: „Hey Gouverneur, Du stopfst Dir den ganzen Tag die Taschen voll, während wir hier für ein paar Franc in der Hitze schuften. Also gib uns wenigstens ein paar Krümel ab.“ Die Wagenfenster bleiben zu.
Seine Exzellenz weiß um ihren Ruf in der Stadt. Erstens wurde Kimbuta von Präsident Joseph Kabila ernannt, der in Kinshasa nach wie vor unbeliebt ist. Zweitens geriet er vergangenes Jahr in die Schlagzeilen, weil er in den Mord am Vizepräsidenten des Provinzparlaments verwickelt gewesen sein soll, was viele Kinois auch dann glauben, wenn es keine Beweise dafür gibt. Das Opfer gehörte zur Partei von Kabilas großem Widersacher Jean-Paul Bemba, derzeit prominentester Untersuchungshäftling des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, in Kinshasa aber immer noch recht populär.
Der vorderste Wagen des Konvois lässt den Motor aufheulen, die Polizisten brüllen, die Bettler schreien, nichts bewegt sich. Merke: Verkehrsstaus in Kinshasa – und in den Stoßzeiten besteht die Stadt fast nur noch aus Verkehrsstaus – sind schlecht für Politiker. Sie sind hingegen gut für Polizisten, die Autofahrer schröpfen wollen. Sie sind gut für bettelnde Straßenkinder und fliegende Händler. Sich mit einer Bananenstaude und einem handgeschriebenem Preisschild direkt neben ein mit Brackwasser gefülltes Schlagloch zu setzen, an dem jeder Autoverkehr zum Erliegen kommt, freut die Moskitos und erhöht das Malaria-Risiko. Aber eben auch den Umsatz.

Klein-Taxi im Stadtteil Ndjili
Klein-Taxi im Stadtteil Ndjili

Abgesehen davon sind Verkehrsstaus für den Rest der Bevölkerung eine Katastrophe. Kinshasa hat heute acht Millionen Einwohner und kein öffentliches Nahverkehrssystem. Die meisten Menschen verbringen Stunden ihres täglichen Überlebenskampfes damit, von einem Ort zum anderen zu kommen. Sie warten im Gestank und Müll auf ein Sammeltaxi, dessen Platzeinweiser sie mit Dutzenden anderen Fahrgästen in einen verbeulten Lieferwagen pfercht und dessen Chauffeur über den genauen Zielort erst während der Fahrt über Kinshasas Schlaglochparcours entscheidet. Gnädigerweise haben die Besitzer solcher Fuhrunternehmen ein paar Atemlöcher in die Seitenwände schneiden lassen, damit ihnen bei 34 Grad und Schneckentempo keiner erstickt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie säßen mit dreißig Leuten während eines mittleren Erdbebens in einer kleinen Heimsauna. Dann wissen Sie ungefähr, wie die Kinois Taxi fahren.
An der Kreuzung heulen wieder die Motoren der Gouverneurs-Kolonne auf. Sie drängt sich in eine kleine Lücke und entschwindet in einer Seitenstraße. Die Händler und Straßenkinder verteilen sich schimpfend auf die Autoschlangen des Boulevards, einer nach dem anderen zieht an meinem Fenster vorbei. Der erste balanciert einen Karton Eier auf dem Kopf. „Nein danke“, sage ich, obwohl man auf Vickys Motorhaube ein Omelett braten könnte. Sein Kollege hat Hundeleinen und Spielzeughandys im Angebot. „Wirklich nicht, ich habe weder Hund noch Kinder.“ „Wie wär’s mit einem Wagenheber?“ fragt er gleichmütig, hält mir das Gerät durch’s Fenster und zieht erfolglos weiter. Der nächste hält einfach nur die Hand herein, er hat nur eine, der linke Arm besteht aus einem kurzen Stumpf. Ein Straßenjunge, keine vierzehn Jahre alt. „Mama, ein paar Francs nur, ich habe Hunger. Ist ein harter Tag heute.“ Wenn ich jetzt Geldscheine herausrücke, habe ich binnen Sekunden die ganze Kinderbrigade an der Autotür – und keinen Fluchtweg. Wir stecken ja im Stau. Ich sage „nein“, sage es ziemlich unfreundlich, er sieht mich an, sieht auf meine Tasche, vielleicht bin ich ja die Gelegenheit des Tages für ihn, um etwas zu essen bekommen. „Na dann vielleicht beim nächsten Mal “, sagt er, grinst mich an und wünscht mir noch einen schönen Tag.

 

Szenen aus Kinshasa: Das Krokodil und die Erdnüsse

Gestern Mittag, wir sitzen in der Avenue Sana, Bezirk Bandalungwa, im Schatten eines Baumes, lassen das Straßenleben von Kinshasa an uns vorbeiziehen: Die Cambistas, die Geldwechsler, die Rucksäcke voller gebündelter Scheine zu ihren Holztischen am Straßenrand schleppen, im Stadt-Jargon „Wall Street“ genannt. Die Pousse-Pousseurs, die Berge von Auspufftöpfen, Reissäcken, oder ausgeweideten Waschmaschinen in verbeulten Karren vor sich her schieben. Die Hand-und Fußpfleger, Halbwüchsige mit Sonnenbrillen und Baseballmützen wie Rap-Stars, die wieselflink vor gelangweilten Damen niederknien, für einen halben Dollar eine Pediküre verabreichen oder für anderthalb Dollar künstliche Fingernägel anbringen.
Und die Straßensänger. Auftritt Poso Kosambila, 56, Kugelbauch, Zahnlücke, ein tiefschwarzes, verknittertes Gesicht wie ein australischer Ureinwohner, dazu schwarzer Cowboyhut und eine Gitarre, die nur unwesentlich jünger sein dürfte als er. Poso singt uns das Lied vom kleinen Matumona, der nicht glauben wollte, dass sein Vater zaubern kann. Papa nimmt dem Kleinen seine Erdnüsse weg, verfüttert sie an das Huhn, das, satt und schläfrig, von der Schlange gefressen wird. Die wird kurz darauf Beute des Krokodils. Das Krokodil erfreut sich nicht lange an seinem vollen Magen, denn Papa ist ein guter Jäger, erlegt das Krokodil, schneidet den Bauch auf, findet die Schlange, in der Schlange das Huhn, im Huhn die Erdnüsse, die er dem Bengel zurückgibt. Der hört nun endlich auf zu heulen. Und glaubt ganz fest an die Zauberkraft des Papa.
So ein Ständchen kostet 500 kongolesische Francs, weniger als einen Dollar. Und Poso Kosambila ist jeden Cent wert!

 

Zurück in Kinshasa

250 Dollar zahlt der ausländische Journalist beim kongolesischen Informationsministerium für eine Akkreditierung. Dieses Schriftstück erhält man im Hochhaus des staatlichen Rundfunksenders – angeblich im 18. Stock. Beim Anblick verbeulter Aufzugtüren und ziellos baumelnder Stromkabel nehmen wir die Treppe, werden oben schweißtriefend von Monsieur Serge, „Chef de bureau“, begrüßt, der uns an Madame Jackie im zweiten Stock verweist, die leider erst morgen wieder zu erreichen sei. Monsieur Serge bietet an, die Gebühr für die Akkreditierung in seinem Büro aufzubewahren, was wir dankend ablehnen. Monsieur Serge besteht darauf, dass wir den Rückweg per Lift zurücklegen. Er kratzt mit seinem Schlüssel an der Tür. Zehn Minuten lang passiert nichts, dann, als hätte ein Monster Schluckauf, springt die Lifttür auf. Drinnen sitzt auf einem Barhocker der Aufzugführer. Sein Gesichtsausdruck –  irgendwo zwischen Warten auf Godot und Godot persönlich – lässt es ratsam erscheinen, nicht zu lachen.
„Wohin?“ fragt Godot.
„Parterre.“ Die Tür knallt zu. Die Stockwerkanzeige funktioniert nicht.
Schweigen.
„Monsieur,“ fragen wir zaghaft, „woher wissen Sie, in welchem Stockwerk sie halten müssen, um Fahrgäste aufzunehmen?“
„Das spüre ich.“
Schweigen. Godot scheint selbst unzufrieden mit seiner Antwort.
„Außerdem hält der Aufzug nicht zwischen 10. und 17. Stock. Das vereinfacht die Sache.“
Wir setzen hart im Erdgeschoss auf. Sehr hart. Die Aufzugtür bleibt geschlossen.
„Ich habe Familie“, sagt Godot seelenruhig. Wir geben ihm 100 kongolesische Francs, ungefähr 15 Cent. Die Tür springt auf.
Von draußen drücken ein Dutzend Menschen in den Fahrstuhl, als ginge es zum Sommerschlussverkauf.
Godot verdient nicht schlecht in Kinshasa.

 

Wie die UN im Kongo ihren Ruf ruiniert

Es gibt Neues von Jean-Claude Kibala, dem Vizegouverneur der kongolesischen Provinz Süd-Kivu, über den die ZEIT seit 2006 regelmäßig berichtet. „Herr Kibala kriegt die Krise“, gerade in der ZEIT erschienen, beschreibt nicht nur die alltäglichen Kämpfe und Krämpfe beim Staatsaufbau, sondern auch die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die mit voller Wucht im Kongo zu spüren sind.

Ein Desaster kommt in diesem Land bekanntlich selten allein, weshalb Kibala schon das nächste Drama bevorsteht. Die Region steht am Rande eines Krieges. Nicht schon wieder, stöhnen da die Krisenmanager bei den Vereinten Nationen in New York, der EU in Brüssel, in Washington und Pretoria.

Dabei schien doch im Januar die große Zeitenwende eingeläutet. Da beendeten die Präsidenten des Kongo und Ruandas, Joseph Kabila und Paul Kagame, ihre Erzfeindschaft und handelten einen sensationallen Deal aus: Ruanda zog den kongolesischen Tutsi-Rebellenführer Laurent Nkunda aus dem Verkehr, der Ende vergangenen Jahres die halbe Provinz Nord-Kivu überrannt und etwas zu großspurig einen Vormarsch auf Kinshasa angekündigt hatte. Dessen Miliz, die CNDP, sollte nun in die kongolesische Armee integriert werden.

Im Gegenzug erlaubte Kabila der ruandischen Armee, auf kongolesischem Boden gegen die Hutu-Milizen der FDLR vorzugehen. In deren Reihen befinden sich bekanntlich zahlreiche Täter des Völkermordes in Ruanda 1994. Seit fünfzehn Jahren haben sich diese Milizen in den Kivu-Provinzen festgesetzt, kontrollieren rohstoffreiche Gebiete samt der dort lebenden Bevölkerung.

Fazit dieser Operation: Nkunda ist (noch) unter Hausarrest. Die ruandische Armee nahm kurzzeitig ein paar Stellungen der FDLR in Nord-Kivu ein, die diese inzwischen wieder zurückerobert hat. Außerdem rächen sich Hutu-Milizen für diese Militäraktion mit Überfällen auf Zivilisten in Nord-Kivu. Die ersten CNDP-Kämpfer sind bereits wieder aus der Armee desertiert, weil es dort keinen Sold und nichts zu essen gibt. Folglich ist es besonders schwierig, Rebellen in eine Armee einzugliedern, die sie vor kurzem noch aus allen Rohren beschossen haben.

Was von diesen „integrierten Brigaden“ noch übrig ist, soll nun mit Unterstützung der Blauhelme der UN in Süd-Kivu versuchen, was in Nord-Kivu schon nicht gelungen ist: die Entwaffnung der FDLR. Diese hat – gewissermaßen präventiv – mit ersten Massakern und Plünderungen in mehreren Dörfern deutlich gemacht, wer den Preis auch für diese Aktion bezahlen wird: die Zivilbevölkerung. Die muss nicht nur die Hutu-Rebellen fürchten, sondern auch ihre eigenen notorisch plündernden Soldaten. Deren Sold wird noch seltener als bisher ausgezahlt – nicht zuletzt eine Folge der Weltwirtschaftskrise, welche die kongolesische Regierung an den Rand der Zahlungsunfähigkeit getrieben hat. Die Hilfsorganisation Oxfam warnte schon vor Wochen vor mehreren Hundertausend neuen Binnenflüchtlingen.

Und nun? Man kann ja durchaus der Meinung sein, dass gegen die FDLR, unbestritten das größte Hindernis für eine Befriedung des Ostkongo, auch Militär eingesetzt werden muss. Aber in diesen Fällen muss gelten: Der Militäreinsatz darf die Lage nicht schlimmer machen, als sie ohnehin schon ist. Und der Schutz der Zivilbevölkerung hat absolute Priorität. Wessen Verantwortung ist das? Nun, laut Völkerrecht die der Kombattanten. Vor denen aber kann man, wie gesagt, nur weglaufen. Bleibt die Blauhelm-Mission. Die ist notorisch unterbesetzt und für diese Aufgabe erbärmlich schlecht ausgerüstet. Die Moral der Truppe sinkt und die Wut der Bevölkerung auf ihre vermeintlichen Beschützer wächst. Jean-Claude Kibala, der Vizegouverneur in Süd-Kivu, fürchtet, dass „es zu Ausschreitungen gegen die UN kommen kann.“

Zur Erinnerung: Im Herbst vergangenen Jahres, als Nkundas CNDP die kongolesische Armee aufrieb und zehntausende von Flüchtlingen vor sich her trieb, diskutierten die Mitgliedsländer der Europäischen Union, eine ihrer battle groups zum Schutz der Bevölkerung zu entsenden. Daraus wurde nichts – unter anderem, weil die deutsche Regierung sich mit Händen und Füßen sträubte. Stattdessen beschloss der UN-Sicherheitsrat or vier Monaten, die Blauhelm-Mission um weitere 3000 Soldaten aufzustocken. Wie viele sind bislang im Ost-Kongo eingetroffen? Kein einziger. So kommt das Prinzip des Peacekeeping langsam, aber sicher auf den Hund.

 

Sprechstunde bei Rechtsanwalt Ngongo

Der Kampf gegen die Straflosigkeit – das schreibt sich im Kongo nicht nur fast jede Hilfsorganisation sondern auch der Großteil der ausländischen Geldgeber auf die Fahne. Das Ziel: Korruption, sexuelle Gewalt, polizeiliche Willkür und Plünderungen müssen endlich geahndet werden. „Kommen Sie doch einfach mit in die Sprechstunde“, hatte Rechtsanwalt Ngongo gesagt. „Dann sehen Sie, wie es hier zugeht.“

Jean Paul Ngongo leitet das Büro von Vovolib, einer kleinen Bürgerrechtsorganisation in Bukavu. Vovolib steht für „Voix des sans voix et liberté“, Stimme derer ohne Stimme und Freiheit. Einigen Behörden ist sie zu laut und zu kühn, weshalb häufiger Polizisten in Ngongos Büro stehen und ihm die Schließung androhen, weil die „Stimme“ mal wieder öffentlich über Schmiergelder, Behördenwillkür und das marode Gerichtssystem geschimpft – oder, schlimmer noch: Anzeige erstattet und Namen genannt hat. Was lebensgefährlich sein kann.

Ich kenne Ngongo von einem Besuch im vergangenen Sommer. Damals war wenige Tage vor unserem Treffen im Juni 2008 eine Mitarbeiterin von Vovolib ermordet worden – nach Zeugenaussagen von Soldaten einer in Bukavu stationierten Brigade. Wabiwa Kabisuba hatte für Vovolib vergewaltigte Frauen betreut, darunter auch eine, die gegen den Täter, einen Offizier, Anzeige erstatten wollte. Kabisuba begleitete sie zur Polizei und zum Gericht. Das, so glaubt Jean-Paul Ngongo, sei seiner Kollegin zum Verhängnis geworden. „Wurden die Täter inzwischen verhaftet?“ frage ich. Ngongo lächelt nachsichtig und schüttelt den Kopf. „Wird ermittelt?“ „Nicht wirklich.“ Das Verfahren, so glaubt er, werde im Sande verlaufen.

Also nichts Neues aus den morschen Hallen kongolesischer Gerichte? „Na ja“, sagt Ngongo, ein paar Fortschritte gebe es schon.

Seine Organisation hat sich vergrößert, betreibt neben Rechtsberatung und Internet-Café jetzt auch ein Radio-Programm. Radio Vovolib sendet aus einem sechs Quadratmeter kleinen, muffigen Studio jeden Tag neun Stunden auf 94,0 FM. Vorausgesetzt, es gibt Strom. Hip Hop, neue Korruptionsfälle, kongolesischer Rumba, Neuigkeiten aus dem Gericht, Live-Gespräche mit Hörern, die Dampf ablassen wollen, zur Entspannung ein paar Schnulzen von Koffi Olomide, immer noch die Samtstimme der kongolesischen Musikszene.

Seit Radio Vovolib auf Sendung ist, kommen immer mehr Leute in Ngongos Sprechstunde. Noella Cinama ist die erste an diesem Tag, zum neunten Mal ist sie hier, sie will den Mann, der sie vor anderthalb Jahren vergewaltigt und geschwängert hat, vor Gericht sehen. So viel Sturheit überrascht selbst Ngongo. Seine Mandantin wohnt in Kabare, über zwanzig Kilometer entfernt. „Wenn sie kein Geld fürs Sammeltaxi hat, kommt sie sogar zu Fuß.“ Seit der Vergewaltigung, sagt sie, werde sie daheim behandelt, als hätte sie die Cholera. Sie will einen Prozess, will den Täter, einen Mann aus ihrer Nachbarschaft, ins Gefängnis bringen, zumal der sich einen Dreck um das Kind kümmere, das er ihr gemacht habe. Sie hat von ersten Urteilen gegen Vergewaltiger gehört, sogar der Bruder des ehemaligen Polizeichefs sei doch schon im Gefängnis gelandet. Warum soll in ihrem Fall nicht ähnliches gelingen.

Weil die Ermittlungsakte, die man sich hier bestenfalls als ein eng beschriebenes Stück Papier vorstellen darf, seit Monaten auf irgendeinem Schreibtisch der Staatsanwaltschaft herum liegt, schlägt Ngongo vor, direkt bei Gericht eine Vorladung des Tatverdächtigen zu beantragen. Das wird ein paar Dollar kosten, nicht für den Anwalt, sondern für diverse Bearbeitungsgebühren offizieller und inoffizieller Art. Frau Cinama bedankt sich, macht sich wieder auf den Weg nach Hause.

Der nächste bitte. Mama Massiri, eine kleine sehnige Frau mit adrettem gold grünem Turban, setzt sich auf die Stuhlkante. Aus Kamituga ist sie gekommen, 120 Kilometer südlich von Bukavu. Ihr Mann sei daheim wegen eines Streites um eine gestohlene Schlafmatte zusammen mit drei anderen festgenommen worden, habe als einziger die 50 Dollar „Freilassungsgebühr“ nicht aufbringen können, weswegen ihn der zuständige Richter in Kamituga wegen Diebstahls für zwei Jahre ins Zentralgefängnis von Bukavu geschickt hat, was seiner Tuberkulose gar nicht gut tue. Der Richter habe aber immerhin erklärt, sagt Frau Massiri, dass er das Urteil gegen Übergabe von einem Kilo Gold, aufheben könne.

Wo denn die Gerichtsakte sei, will Anwalt Ngongo wissen. Die sei verschwunden, sagt Frau Massiri. Ngongo lacht, als stehe er kurz vor einem hysterischen Anfall. „Madame, wir werden morgen einen Antrag auf Berufung vor dem Tribunal in Bukavu einreichen. Aber das wird dauern. Mindestens zwei Wochen.“ Frau Massiri nickt halb dankbar, halb resigniert, weil zwei Wochen für einen Tuberkulose-Kranken in einem Gefängnis, wo es kein sauberes Trinkwasser und nur selten Nahrung gibt, eine tödlich lange Zeit sein können.

Der Nächste bitte. Pastor Chikawanine aus Kalenge zieht den Schirm seiner Baseballmütze wie eine Gebetskette durch die Finger. Der Pastor hat eigentlich kein rechtliches, sondern ein finanzielles Problem. Kalenge liegt in einem Gebiet, das von Hutu-Milizen der FDLR kontrolliert wird. Seit einem Massaker der FDLR vor vier Jahren, so der Pastor, gebe es dort viele Waisen. Er habe ein Heim für die Kinder eröffnet, samt Schule, aber es fehle an Betten, Geschirr, Schuluniformen, Büchern, Tafeln, Kreide, Stuhlen, Tischen. Also so ziemlich an allem. Er hoffe auf eine größere Spende von Vovolib. Ich weiß nicht, ob man dem Mann glauben soll. Ngongo jedenfalls hält ihn für vertrauenswürdig.

Er und der Pastor machen eine Weile Small Talk. Dann sagt Ngongo: „Es tut mir leid, Pastor, wir haben im Moment kein Geld zu vergeben.“ Schweigen. Ngongo spielt mit seinem Handy, der Pastor mit seiner Baseballmütze. „Pastor“, sagt Ngongo in einem zweiten Versuch, das Gespräch zu beenden, „wir bleiben in Kontakt, okay?“ Schweigen. Ngongo tippt ein paar Notizen in seinen Laptop. „Wissen Sie, Herr Anwalt, wir haben nicht mal Schulhefte“, sagt der Pastor zum Abschied.

Das sei der Nachteil der Massenmedien, sagt Ngongo später. „Wenn die Leute Deine Stimme im Radio hören, denken sie sofort, Du hast viel Geld.“ Was für kongolesische Verhältnisse stimmt – und auch wieder nicht. Bislang unterstützte die Schweizer Regierung das Büro von Vovolib, doch die Förderung, sagt Ngongo, laufe in diesem Jahr aus, und er müsse neue Geldgeber suchen. Die Ausgaben werden ja nicht weniger.

Neulich hätten er und eine Kollegin eine hochschwangere Frau in einem Vergewaltigungsprozess vertreten, pro bono, also unentgeltlich. Als nach dem ersten Verhandlungstag die Wehen einsetzten, habe die Mandantin ziemlich rabiat verlangt, „dass wir die Entbindung bezahlen.“ Was Vovolib auch getan habe. Ein bisschen mehr Dankbarkeit seitens seiner Klienten wäre manchmal schön. „Aber die sind alle total traumatisiert“, sagt er. Und Traumatisierte hätte nun mal keine Zeit für Dankbarkeit.

 

Lubanga bleibt vorerst in Haft

Thomas Lubanga bleibt vorerst hinter Gittern. Nachdem die erste Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) am 13. Juni das Verfahren gegen den Kongolesen ausgesetzt hatte, schob sie eine Entscheidung über seine Freilassung am Dienstag erst einmal auf. Die Richter der Kammer werfen dem Büro von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo vor, entlastendes Beweismaterial unter Verschluss zu halten. Der will gegen den Verfahrensstopp Widerspruch einlegen und hat den Opfern des ehemaligen Kriegsherrn versprochen, dass „Gerechtigkeit walten wird“. Ocampo glaubt, dass der Streit um das Beweismaterial in den nächsten Wochen beigelegt wird, und der Prozess dann endlich im September beginnen kann. Lubanga sitzt seit März 2005 in Haft.

Ocampo, der sich in den achtziger Jahren bei der Strafverfolgung von Junta-Mitgliedern in seinem Heimatland Argentinien einen Namen gemacht hat, feiert diesen Monat sein fünfjähriges Amtsjubiläum beim IStGh. Eine Zwischenbilanz seiner Arbeit zieht Nick Grono, Vize-Präsident der International Crisis Group. Die fällt durchaus kritisch aus. Grono moniert, dass der IStGh Gefahr läuft, zum „Gerichtshof für Afrika“ reduziert zu werden, weil er bislang ausschließlich in afrikanischen Ländern ermittelt (Kongo, Uganda, Sudan, Zentralafrikanische Republik)

„The prosecutor is already conducting preliminary analyses of atrocities in Colombia and Afghanistan. If the evidence warrants it, he should launch proper investigations in these countries, particularly in Afghanistan where warlords, commanders and insurgents have continued to commit systematic abuses in recent years.“

Außerdem erscheint ihm Ocampo zu zaghaft, wenn es um Anklagen gegen amtierende Machthaber geht. Mit Ausnahme des Falles Sudan richten sich die Ermittlungen des IStGh bislang ausschließlich gegen ehemalige oder noch aktive Rebellenführer.

„If the court is to have the impact its founders hoped of it, it needs convictions of government leaders who abuse human rights. Such convictions give deterrence and delegitimisation a force that prosecutions of rebels do not. Just look at how the Slobodan Milosevic and Charles Taylor prosecutions have resonated around the world.“