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Quo vadis NRW?

Die Ampel blinkt offenbar nicht mehr. Sind nun Neuwahlen unausweichlich? Ich sehe fünf weitere Optionen in NRW.

1) Rot-Grün. Rot-Grün? Ja, Rot-Grün. Eine Stimme braucht Rot-Grün, um eine Mehrheit im Parlament zu haben. Also muss die SPD an einem möglichen Überläufer der Linken zur SPD arbeiten, um sich eine Mehrheit im Landtag zu sichern. Solch ein parlamentarischer Überläufer würde wohl am ehesten aus dem gewerkschaftlichen Lager der Linken kommen und müsste wohl auch zukünftig mit einem sicheren Landtagsmandat versorgt werden.

2) CDU-FDP Minderheitsregierung: Die NRW-Landesverfassung stellt klar, dass bis zur Amtsübernahme der Nachfolgerregierung die bisherige CDU-FDP-Landesregierung geschäftsführend im Amt bleibt (Art. 61 Abs. 2). Hessische Verhältnisse also. Ohne SPD-Unterstützung kann kein CDU-Parlamentarier zum Ministerpräsidenten gewählt werden. So könnte Rüttgers höchstens für den Moment durchschnaufen und auf bessere Stimmung nach der Fußballweltmeisterschaft und dem Sommerurlaub hoffen, um bei möglichen Neuwahlen im Herbst bessere Chancen zu haben.

3) Rot-Grüne Minderheitsregierung: Hannelore Kraft hätte, solange die SPD nicht doch noch einen CDU Kandidaten unterstützt, zumindest in einer Stichwahl (Art. 52 Abs. 2) die größten Chancen zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden. Über Minderheitsregierungen habe ich bereits hier gebloggt. Obwohl auf den ersten Blick stabile Verhältnisse anders aussehen, würde eine Rot-Grüne Minderheitsregierung sicherlich effizienter regieren können als eine CDU-FDP-Minderheitsregierung. Denn die Wahrscheinlichkeit, Gesetzesvorlagen mit Hilfe der Linken durchs Parlament zu bringen, ist höher als die, dass Vorlagen einer geschäftsführenden CDU-FDP-Landesregierung eine Mehrheit erhalten. Diese Option ist sicher nicht nur „rein theoretisch“ möglich.

4) Große Koalition unter SPD-Führung. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die größte Partei den Ministerpräsidenten stellen muss? Darauf hatte ich auch schon vor den ersten Sondierungsgesprächen von CDU und SPD in einem anderen Blog-Beitrag hingewiesen.

5) Große Koalition unter CDU-Führung: Diese Option schien ja bereits vom Tisch. Gemäß der NRW-Landesverfassung (Art. 52 Abs. 1) kann nur ein Mitglied des Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Statt Rüttgers wären daher als Kompromisskandidaten Landespolitiker wie Krautscheid, Laschet oder Laumann denkbar, aber eben keine Bundespolitiker (wie etwa NRW CDU-Granden Pofalla, Röttgen oder gar Lammert).

Habe ich etwas vergessen? Hat jemand ein Vorhersagemodell bzw. kann man die Bräuninger-Debus-Modelle kalibrieren? Spannende Tage – nicht nur wegen der WM…

 

Ampel alternativlos? Zum Machtpoker in NRW

Die Ampel-Koalitionäre sondieren. Am Donnerstag geht es in die nächste Runde. Überraschend ist nach den Koalitionssignalen im NRW-Wahlkampf ja bereits, dass sich die FDP überhaupt mit Rot-Grün an einen Tisch setzt. Wurde doch eine Zusammenarbeit mit den Grünen im Wahlkampf ausgeschlossen.

Strategisch etwas unklug feuerte nun der Fraktionsvorsitzende der Linken im Düsseldorfer Landtag, Wolfgang Zimmermann, am Montag die Diskussion über den nächsten möglichen Schritt im NRW-Machtpoker an – die Tolerierung einer möglichen rot-grünen Minderheitsregierung unter einer möglichen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Für die Linken ist das unklug, weil es den Beteiligten an den Ampel-Sondiergesprächen eine weitere Machtoption für Rot-Grün vorführt und so gerade für die FDP-Unterhändler zusätzliche Argumente liefert, im Zweifel dicke Kröten zu schlucken.

Der FDP könnten harte Konzessionen in den Verhandlungen abgerungen werden, weil SPD und Grüne jederzeit nun auch glaubhaft drohen könnten, erforderliche Mehrheiten im Parlament für Initiativen einer möglichen rot-grünen Minderheitenregierung mithilfe einzelner Abgeordneter der Fraktion der Linken zu sichern. Es wird ja immer nur eine weitere Stimme für das rot-grüne Lager gebraucht, um eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Nach Angaben der linken Fraktionschefin Bärbel Beuermann könnten in der kommenden Legislaturperiode zahlreiche Anträge gemeinsam mit der SPD und den Grünen eingebracht werden.

Was wissen wir eigentlich über Minderheitsregierungen? In Deutschland gehen die Meinungen über Minderheitsregierungen weit auseinander. In den Medien werden Minderheitsregierungen recht negativ beschrieben – ja oft sogar als instabil und ineffizient verteufelt. Die politikwissenschaftliche Sicht, basierend auf Zahlen statt auf Meinungen, ist eine andere. Von Verteufelung keine Spur. Minderheitsregierungen, bei der die Regierung sich von Fall zu Fall neue Mehrheiten schaffen muss, sind insbesondere in skandinavischen Ländern bekannt – aber ganz und gar nicht berüchtigt, wie Kare Strom (1990) in seiner wegweisenden Arbeit zeigt. Eine neuere und umfangreiche Studie (Cheibub et al. 2004) über nationale Regierungen praktisch aller Demokratien weltweit zwischen 1946 und 1999 zeigt zwei Dinge ganz eindeutig. Erstens, der Typ „Minderheitsregierung“ stellt im internationalen Vergleich keine wirkliche Minderheit als Regierungstyp dar. Zweitens regieren Minderheitsregierungen mindestens so erfolgreich und effizient (gemessen an der Anzahl von Gesetzesinitiativen der Regierung, die im Parlament verabschiedet werden) wie „normale“ Koalitionsregierungen, die eine Mehrheit in Parlament besitzen.

Wie denken aber die Bürger in Nordrhein-Westfalen darüber? Aktuelle Zahlen haben wir nicht. Im Sommer 2009 jedoch hat die akademische Wahlstudie zur Bundestagswahl, die German Longitudinal Election Study, ein spezielles Fragemodul zu Koalitionen in ihren umfangreichen Fragekatalog integriert. Dort wurde unter anderem nach einer möglichen Regierung gefragt, wenn es für keines der traditionellen Lager – Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün – zu einer Mehrheit im Parlament reicht. Eine Situation, die wir nun auch in Nordrhein-Westfalen vorfinden:

„Stellen Sie sich nun bitte vor, dass nach der Bundestagswahl die Situation entsteht, dass die einzige Zwei-Parteien-Koalition, die eine Mehrheit hat, die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ist. Welche Regierung würden Sie dann bevorzugen? Die Union – CDU und CSU – zählt als eine Partei.“

Die Antwortvorgaben waren die folgenden:

– Große Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Drei-Parteien-Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Minderheitsregierung ohne Mehrheit im Bundestag

Betrachtet man nur einmal die Befragten aus Nordrhein-Westfalen, so ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der Einstellung zu einer Minderheitsregierung.

Erstaunlich ist nicht, dass sich unter solchen Umständen 57% sich für die Große Koalition aussprechen. Das ist zu erwarten. Nein, erstaunlich finde ich, dass allen Unkenrufen in den Medien zum Trotz immerhin 14% eine Minderheitsregierung in dieser Situation bevorzugen würden. Zudem hat diese Antwortoption als einzige das eindeutig negativ konnotierte Attribut „ohne Mehrheit“ in der Formulierung. Mit etwas Werbung, so vermute ich, würde die Option einer Minderheitsregierung noch populärer in der Bevölkerung werden, so dass sie tatsächlich als Drohpotential genutzt werden kann, um die Ampel letztlich zu ermöglichen. „Schaun mer mal“, wie Kaiser Franz zu sagen pflegt.

Literaturhinweise:

• Jose Antonio Cheibub, Adam Przeworski, und Sebastian Saiegh. 2004. „Government Coalitions and Legislative Success Under Presidentialism and Parliamentarism“ British Journal of Political Science 34, 565–587.

• Kaare Strom. 1990. Minority Governments and Majority Rule. Cambridge: Cambridge University Press.

 

Hannelore Rüttgers – oder was?

Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind als Folge der schnellen Absage von Gesprächen mit der Linkspartei die Weichen nun erst einmal auf „Große Koalition“ gestellt. Die Frage, wer denn in einer solchen Regierungskonstellation den Ministerpräsidenten zu stellen hat, scheint offenbar ganz klar zu sein. Die CDU „natürlich“, wie immer wieder argumentiert wird. Zur Begründung wird das Kriterium der Stimmenanzahl bemüht. Weil die CDU laut amtlichem Endergebnis exakt 5982 Stimmen mehr erhalten hat als die SPD, sei es doch wohl klar, dass sie den Ministerpräsidenten auch stellen müsse – so oder so ähnlich war es dieser Tage der Presse zu entnehmen.

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Kriterium in einem parlamentarischen System auch tatsächlich viel Sinn ergibt, zeigt die Empirie jedenfalls keine reflexartige Beziehung in Koalitionsregierungen, der zu Folge immer die nach Stimmen stärkste Partei den Regierungschef stellen muss.

Ein paar Beispiele gefällig? Unser Nachbarland Österreich hat das auf der Bundesebene schon drei Mal erlebt. Zuletzt nach der Nationalratswahl 1999. Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter der Führung von Wolfgang Schüssel ist nach Stimmen nur drittstärkste Kraft geworden, nach der sozialdemokratischen SPÖ und der FPÖ von Jörg Haider. Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ führte Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ab dem 4. Februar 2000 eine ÖVP-FPÖ-Koalition an, obwohl wohlgemerkt die FPÖ nach der Wahl die „stärkere“ Partei war. 1953 und 1959 ist der ÖVP Kandidat ebenfalls Bundeskanzler geworden, obwohl die mitregierenden Sozialdemokraten mehr Stimmen bei der Wahl bekommen hatten.

Aber auch in anderen Ländern, die an Koalitionsregierungen gewöhnt sind, finden sich solche Beispiele. Der schwedische Zentrumspolitiker Fälldin etwa wurde nach der Wahl 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl damals die bürgerlich-konservative Moderata samlingspartiet und nicht mehr die Zentrumspartei die nach Stimmen größte bürgerliche Partei wurde. Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch in Dänemark in der Koalition zwischen Liberalen und Konservativen in den 80er Jahren. Wenn man systematisch sucht, findet man wahrscheinlich noch mehr. Hat jemand noch weitere Beispiele parat?

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist mitnichten in Stein gemeißelt, dass die stärkste Partei auch den Ministerpräsidenten stellen muss. Die Beispiele zeigen, dass von einem derartigen Automatismus keine Rede sein kann. Welche Partei den Regierungschef stellt, liegt genauso auf dem Verhandlungstisch und ist daher Bestandteil von Koalitionsverhandlungen, wie viele andere Dinge auch.

 

Das Kanzlermodell bei der Wahl 2009: Diesmal kein Volltreffer

In den Tagen nach der Bundestagswahl haben mein Kollege Helmut Norpoth und ich das Abschneiden unseres Kanzlermodells näher untersucht. Die nachfolgende Analyse ist das erste Ergebnis unserer gemeinsamen Bemühungen.

Das Wahlergebnis vom 27. September zeigt eines ganz deutlich: Der Regierungswechsel wird kommen. CDU/CSU haben zusammen mit der FDP eine Mehrheit im neuen Bundestag erreichen können. Im Gegensatz zu einigen Kommentatoren und Umfragen, die noch kurz vor dem Wahltag einen solchen Ausgang für unwahrscheinlich hielten und stattdessen eher eine Wiederauflage der „Großen Koalition“ voraussahen, hat das Kanzlermodell erneut den richtigen Sieger vorhergesagt. Schwarz-Gelb. Trotz der zugegebenen schwierigen Ausgangssituation im Jahr 2009 mit einer amtierenden Regierung, die eigentlich gar nicht wiedergewählt werden wollte, prognostizierte unser Modell wie bei allen anderen Wahlen zuvor wieder einmal den richtigen Sieger. Und das nicht erst am Wahlabend oder mit lauten Zweifeln, sondern schon lange vor dem Wahltag.

Der tatsächlich erreichte Prozentsatz für Schwarz-Gelb von 48,4 % weicht von unserem am 20. August vorhergesagten Wert (52,9 %) um 4,5 Prozentpunkte ab. Obwohl wir den Ausgang richtig vorhergesagt haben, war das Modell offensichtlich großzügiger zur Wunschkoalition der Kanzlerin als die Wählerinnen und Wähler am Wahltag selbst. Natürlich ist nicht jedesmal ein Volltreffer zu erwarten wie 2002 oder nur eine geringfügige Abweichung wie 2005, als unsere Modellprognosen besser abschnitten als die Umfrageergebnisse vor und am Wahltag selbst. Allerdings irrte sich dieses Mal unser Modell weit mehr als die Umfragen.

Warum wurde der Stimmenanteil von Schwarz-Gelb derart überschätzt? Wir können natürlich nicht in die Köpfe der Wähler hineinschauen, vermuten aber Folgendes: Die Umsetzung von Popularität vor der Wahl in Stimmen am Wahltag hat für die schwarz-gelbe Wunschkoalition der Kanzlerin nicht so funktioniert, wie wir das von den anderen Bundestagswahlen her kannten. Leider sind bisher noch keine Umfragedaten, die eine genauere Analyse ermöglichen würden, öffentlich zugängig. Trotzdem gibt es Anzeichen, die diese Vermutung stützen.

Popularität von Merkel und Steinmeier bei ihren eigenen Anhängern im Jahr 2009

2009 Merkel wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Steinmeier wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Juli I 89 62
Juli II 91 50
Aug I 93 53
Aug II 92 55

Quelle: Veröffentlichte Werte im Bericht zum Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen

Die Anhänger der SPD standen nicht deutlich hinter ihrem Kanzlerkandidaten. Die Unterstützungswerte von Steinmeier lagen nur bei rund 55 %. Offensichtlich hat die hypothetische Entscheidung „Merkel oder Steinmeier?“ die eigenen SPD-Reihen nicht so fest geschlossen wie das üblicherweise der Fall ist. Viele wünschten sich Frau Merkel anstelle des eigenen Kandidaten als Bundeskanzler(in), ohne jedoch für die Union zu stimmen. So war Frau Merkel vor der Wahl populärer als die Bundeskanzler bei früheren Wahlen. Das lag hauptsächlich an der besonderen Situation der amtierenden „Großen Koalition.“ Die SPD gehörte einer Regierung an, die nicht von einer Persönlichkeit aus der eigenen Partei, sondern aus der Gegenpartei geleitet wurde. Es gab offenbar SPD-Anhänger, die es ohne weiteres mit sich vereinbaren konnten, einerseits lieber die Amtsinhaberin anstelle des eigenen Kandidaten als Kanzler zu bevorzugen, aber am Wahltag doch der eigenen Partei ihre Stimme gaben statt ihrer Wunschkanzlerin ins Amt zu verhelfen. Vermutlich waren viele Wähler derart an die „Große Koalition“ gewöhnt, dass sie trotz gegenseitiger Konfrontationen im zurückliegenden Wahlkampf zu solch einem gefühlten Spagat fähig waren. Dieser Umstand bescherte 2009 der amtierende Kanzlerin bei SPD-Anhängern Sympathien, einen „Großer Koalitions-Bonus“ sozusagen, die bei Wahlen ohne Grosse Koalition nicht zu erwarten sind. Ein Vergleich von Kanzlerpopularität in den Reihen der Parteianhänger mit Kanzlerpopularität vergangener Wahlen beweist das eindeutig.

Wir haben uns daraufhin die veröffentlichten Berichte der Forschungsgruppe Wahlen zum Politbarometer angesehen, auf deren Basis wir unser Maß für die Kanzlerpopularität konstruierten. Zudem haben wir auch die von der Forschungsgruppe Wahlen dankenswerterweise archivierten Daten für 2002 reanalysiert.

Popularität von Stoiber und Schröder bei ihren eigenen Anhängern im Jahr 2002

2002 Ost Stoiber wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Feb 81 95
Mär 85 96
Apr 82 95
Mai 83 93
Jun 81 93
Jul 81 95
Aug 78 97
Sep 87 99

 

2002 West Stoiber wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Feb 91 96
Mär 89 93
Apr 89 95
Mai 87 96
Jun 89 94
Jul 88 95
Aug 88 98
Sep 88 99

Quelle: Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen

Vor der Wahl 2002, als die eine Großpartei (SPD) im Amt und die andere (CDU/CSU) in der Opposition war, erfreuten sich Kanzler Schröder wie auch Kanzlerkandidat Stoiber nahezu voller Unterstützung in den eigenen Reihen. In Ost wie West. Zwischen 80 und 90 % der CDU/CSU- Anhänger wünschten sich lieber Stoiber als Schröder als Kanzler. Über 90 % der SPD-Anhänger wünschten sich lieber wieder Schröder.

Für 2005 ergibt sich im Wesentlichen dasselbe Bild. Hier berufen wir uns auf die veröffentlichten Werte im Politbarometer. Beide Kanzlerkandidaten konnten unter den jeweiligen Parteianhängern klar polarisieren. Während die damalige Herausforderin sich auf rund 80 % Zustimmung im eigenen Lager verlassen konnte, konnte der Amtsinhaber auf rund 90 % seiner Anhänger zählen. Ein solches Muster ist typisch für den Normalfall einer Bundestagswahl, wo CDU/CSU und SPD auf entgegengesetzten Seiten der Macht stehen.

Popularität von Merkel und Schröder bei ihren Anhängern im Jahr 2005

2005 Merkel wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Jul I 79 92
Jun II 75 89
Jun I 83 88
Mai 81 91

Quelle: Veröffentlichte Werte im Bericht zum Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen

Für den seltenen Fall einer Wahl wie der in 2009, wo diese beiden Parteien gemeinsam im Amt sind, wäre es ratsam, die Variable „Kanzlerpopularität“ im Prognosemodell entsprechend zu bereinigen. Insbesondere dann, wenn die Wahlprognose auf eine andere Parteienkombination abzielt, also Schwarz-Gelb statt Schwarz-Rot. Nehmen wir also den typischen Fall, in dem sich die beiden Großparteien gegenüberstehen: Hier finden die beiden Kanzlerkandidaten etwa die gleiche Zustimmung in den eigenen Parteilagern. Unter dieser Annahme erhielten wir für 2009 einen vom „Großen Koalitions-Bonus“ bereinigten Wert für die Kanzlerpopularität von 61 % für die amtierende Kanzlerin. Mit einem solchen Popularitätswert hätte unser Modell sodann eine Prognose von 49,1 % Stimmen für Schwarz-Gelb geliefert. Bei einem solchen Sonderfall wie in 2009, ist eine solche Korrektur sicherlich zu rechtfertigen. Die Kanzlerpopularität eignet sich ohne weiteres als Prognosefaktor bei Wahlen, in denen sich die Kanzlerkandidaten wie auch die hinter ihnen stehenden Parteien auf entgegengesetzten Seiten befinden. Wenn beide Großparteien jedoch zusammen im Amt sind und mit eigenen Kanzlerkandidaten antreten, dann hat die Kanzlerpopularität nur bedingte Prognosekraft für eine andere Kombination von Parteien.

 

Schwarz-Gelb wird gewinnen.

Die gewünschte Regierungskoalition der amtierenden Bundeskanzlerin, eine Koalition aus CDU/CSU und FDP, wird bei der kommenden Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil von 52,9 Prozent eine Mehrheit erhalten.

Diese Einsicht verdanken mein Kollege Helmut Norpoth und ich einem von uns entwickelten Prognosemodell, das sich bei den letzten beiden Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein statistisches Modell entwickelt, das bereits im Sommer vor den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 exakte Vorhersagen liefern konnte und auf den richtigen Sieger tippte, während die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute, basierend auf den Umfragewerten der Parteien, daneben lagen. Unser Verfahren lieferte einen Monat vor der Wahl sogar genauere Werte für die Regierungskoalitionen als alle etablierten Meinungsforschungsinstitute, einschließlich deren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend selbst.

Für die Entwicklung unseres Vorhersagemodells fragten wir uns, was wir aus den zurückliegenden Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik lernen können. Uns interessierte dabei besonders der gemeinsame Stimmenanteil der jeweiligen Regierungskoalition. Dies verwandelt die Wahlentscheidung zwischen beliebig vielen Parteien in zwei handliche Hälften: die Wahl für oder gegen die Regierung. Weil die amtierende Regierung sich selbst als Notlösung sieht, nachdem keines der politischen Lager 2005 eine Regierungsmehrheit auf sich vereinen konnte, sagen wir für die kommende Bundestagswahl den Stimmenanteil der von der Kanzlerinnenpartei präferierten Regierungskoalition voraus.

Ob auf einen Sieg einer solchen Koalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die durchschnittliche Popularität der jeweils amtierenden Kanzler ein, gemessen durch Werte in Umfragen im Zeitraum von ein und zwei Monaten vor einer Bundestagswahl.

Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten der von der Kanzlerin präferierten Regierungskoalition wie folgt bestimmen.

Prognose für Schwarz-Gelb = -5,6 + 0,75*(PAR) + 0,38*(KAN) – 1,53*(AMT)

PAR: Langfristiger Wählerrückhalt der Regierungsparteien (Mittel der Stimmenanteile in den letzten drei Bundestagswahlen)
KAN: Kanzlerunterstützung (unter Ausschluss von Unentschlossenen)
AMT: Abnützungseffekt (Anzahl der Amtsperioden der Regierung)

Für die Berechnung der Prognose für 2009 brauchen wir noch drei Werte. Für den längerfristigen Wählerrückhalt, den Schwarz-Gelb bei den Wählern genießt, ergibt sich ein Wert von 44,1%. Dies entspricht dem Durchschnitt der Stimmenanteile, die Schwarz-Gelb in den letzten drei Bundestagswahlen gewinnen konnte. Hinzu kommt eine Kanzlerunterstützung von 71% für Angela Merkel auf Basis der Erhebungen im Juli und August der Forschungsgruppe Wahlen. Dieser Wert ergibt sich als gemittelter Anteil der Befragten in den Politbarometern im Juli und August, die lieber Merkel statt Steinmeier als Bundeskanzler hätten, unter Ausschluss der Unentschlossenen. Schließlich hat die amtierende Regierung bei dieser Bundestagswahl erst eine Amtsperiode hinter sich. Somit hat sie nur mit einem geringen Abnützungseffekt zu kämpfen.

Werden diese drei Werte in die obige Formel eingesetzt, ergibt das eine Prognose von 52,9 Prozent an Zweitstimmen für Schwarz-Gelb am 27. September 2009. Diese Prognose bestätigt damit eine vorläufige Vorhersage, die wir bereits im Juli auf diesem Blog sowie in der der Financial Times Deutschland veröffentlicht hatten.

 

Merkel macht’s: Eine Prognose zum Wahlausgang

Bei der Bundestagswahl im Herbst zeichnet sich eine neue Mehrheit ab unter Leitung der amtierenden Regierungschefin. Die Deutschen mögen Merkel. Die aktuellen Popularitätswerte der ersten Kanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik sind im Vergleich zu denen ihres Herausforderers, Frank-Walter Steinmeier, auf einem historischen Hoch. Seit der Wiedervereinigung war der Abstand zwischen den Popularitätswerten eines amtierenden Kanzlers und des Herausforderers noch nie so groß gewesen. Sofern die Popularitätsraten der Spitzenkandidaten vom Frühjahr stabil bleiben, wird Merkels Popularität entscheidend sein, um einer von ihr geführten CDU/CSU-FDP-Koalition eine absolute Mehrheit der Zweitstimmen zu sichern.

Diese Einsicht verdanken wir einem von uns entwickelten Prognosemodell, das sich bei den letzten beiden Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein statistisches Modell entwickelt, das bereits im Sommer vor den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 exakte Vorhersagen liefern konnte und auf den richtigen Sieger tippte, während die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute, basierend auf den Umfragewerten der Parteien, daneben lagen. Unser Verfahren lieferte einen Monat vor der Wahl sogar genauere Werte für die Regierungskoalitionen als alle etablierten Meinungsforschungsinstitute, einschließlich deren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend selbst.

Für die Entwicklung unseres Vorhersagemodells fragten wir uns, was wir aus den zurückliegenden Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik lernen können. Uns interessierte dabei besonders der gemeinsame Stimmenanteil der jeweiligen Regierungskoalition. Dies verwandelt die Wahlentscheidung zwischen beliebig vielen Parteien in zwei handliche Hälften: die Wahl für oder gegen die Regierung. Weil die amtierende Regierung sich selbst als Notlösung sieht, nachdem keines der politischen Lager 2005 eine Regierungsmehrheit auf sich vereinen konnte, sagen wir für die kommende Bundestagswahl den Stimmenanteil der von der Kanzlerinnenpartei präferierten Regierungskoalition bestehend aus CDU, CSU und FDP voraus.

Ob auf einen Sieg einer solchen Koalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die Popularität des amtierenden Kanzlers ein, gemessen als mittlerer Wert jeweils ein und zwei Monate vor einer Bundestagswahl. Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten einer Regierungskoalition äußerst genau bestimmen.

Bis auf den Wert der Kanzlerunterstützung kurz vor der Wahl liegen alle benötigten Modellwerte bereits vor. Es ist jedoch noch nicht möglich, schon heute eine exakte Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst zu erstellen. Die kann es nach der Logik unseres Modells erst Mitte August geben. Allerdings können wir auf Grund hypothetischer Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, die sie kurz vor der Wahl im Vergleich zu Ihrem Herausforderer genießen könnte, schon heute sehen, welches Ergebnis unser Modell dann vorhersagen würde.

Nach den letzten veröffentlichten Politbarometern vom Mai und Juni, bereinigt um die Unentschlossenen, liegt die Zustimmungsrate für Merkel bei 65 Prozent. Steinmeier rangiert dagegen nur bei 35 Prozent. Bliebe es dabei, würde unser Prognosemodell komfortable 50,6 Prozent für das schwarz-gelbe Lager vorhersagen. Damit würde es für einen Regierungswechsel für eine CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Wahl im September reichen.

 

Warum ist der Ausgang von Wahlen trotz schwankender Umfrageergebnisse vorhersagbar?

Umfragen vor oder zu Beginn eines Wahlkampfes sind notorisch ungenau und meist erst kurz vor dem Wahltag relativ aussagekräftig. Paradoxerweise ist der Ausgang einer Wahl bereits Wochen bzw. Monate vor dem Wahltag vorhersehbar, zumindest so genau, wie es Umfragen am Tag vor der Wahl ermitteln könnten. Warum fluktuieren Umfragewerte so stark, wenn Wahlen dann doch vorhergesagt werden können? Ist der Wahlkampf somit unnötig? Nein. In einem Bundestagswahlkampf wird normalerweise keines der jeweiligen Lager eindeutig vom Wahlkampf profitieren können, sofern nicht einer Seite das Geld ausgeht (bei weniger wichtigen Landtags- oder Kommunalwahlen ist das anders). Im Wahlkampf werden der Wählerschaft Informationen und Handreichungen gegeben, mit Hilfe derer sie ihre Wahlentscheidungen treffen können. Die „Überzeugungstäter“ müssen motiviert werden zur Wahl zu gehen, die „Unparteiischen“ mit politischen Angeboten überzeugt und die „Apathischen“ auch mit unpolitischen Image-Kampagnen politisch „verführt“ werden. Aus der akademischen Wahlforschung wissen wir, dass Wahlentscheidungen nicht beliebig fabriziert werden können wie der Absatz von Zahnpasta, sondern sich aus fundamentalen Bestimmungsfaktoren zusammensetzen, wie z. B. der Bewertung von politischen Parteien, Kandidaten sowie politischen Themen.

Die Handreichungen im Wahlkampf helfen den Wählerinnen und Wählern, sich wieder politisch ins Tagesgeschäft einzuschalten und sich zu orientieren. Dabei lernen sie den Wert dieser fundamentalen Bestimmungsfaktoren erneut kennen, falls sie es in der wahlkampfarmen Zeit vergessen haben sollten. Neben dieser Erinnerungsfunktion, die der Wahlkampf für die „Überzeugungstäter“ bietet, biete sich hier eine weitere Möglichkeit, durch die Ausgestaltung der Kampagne bei den „Unparteiischen“ eine Gewichtsverschiebung dieser fundamentalen Bestimmungsfaktoren zu erreichen. Für den einen kann ein politisches Thema vorrangig sein, für andere kann die Bewertung eines Kandidaten wichtiger sein als die der zugehörigen Partei. Erst wenn politische Kampagnen bestimmte, einfach verfügbare Bewertungskriterien liefern, die bei den noch unentschiedenen unparteiischen Wählern zu einer anderen Gewichtung der fundamentalen Bestimmungsfaktoren oder ihrer Erwartung über den Wahlausgang führt, kann sich die Wahlentscheidung dieser Wähler bis zum Wahltag noch ändern.

Die akademische Wahlforschung kann Angebote machen, wie ihre Expertise hinsichtlich der Erklärung individueller Entscheidungsprozesse sowie der Entwicklung von Vorhersagemodellen genutzt werden kann, um die Schwächen von Umfragen als Mittel zur Beurteilung politischer Kampagnen auszugleichen. Beispielsweise haben schon vor einem halben Jahrhundert die Autoren der „Bibel“ der Wahlforschung The American Voter mit ihren Modellen die tatsächliche Wahlentscheidung von Befragten vor einer Wahl genauer vorhersagen können, als es die Befragten selbst zu diesem Zeitpunkt konnten. Die Umfragen vor der Wahl lieferten also damals schon ein verschwommeneres Bild als die statistischen Modelle der Godfathers der Wahlforschung. Warum ist das so? Politikwissenschaftliche Modelle des Wahlverhaltens messen die fundamentalen Bestimmungsfaktoren und können daher prinzipiell Vorhersagen über das Wahlverhalten treffen. Der einzelne Befragte hingegen muss sich die Antwort auf die Wahlabsichtsfrage in der Interviewsituation immer wieder selbst zusammenreimen. Erfahrungsgemäß werden lange vor einer Wahl nicht unbedingt diese fundamentalen Bestimmungsfaktoren dafür verwendet. Der einzelne lernt gewissermaßen diese Faktoren im Laufe des Wahlkampfes erst wieder kennen und wird sie dann für seine Wahlentscheidung heranziehen.

Im Hinblick auf die Prognose von Wahlen gibt es mittlerweile auch eine Reihe vielversprechender Ansätze, die nicht nur auf Interpretationen des Antwortverhaltens von Befragten auf die hypothetische „Sonntagsfrage“ beruhen. Auf der Basis von nur drei Faktoren – Kanzler(innen)popularität, Wählerrückhalt der Regierungsparteien und Abnutzung einer jeweiligen Regierung im Amt — konnte ein von Helmut Norpoth und mir entwickeltes Modell den Stimmenanteil der amtierenden Regierungskoalition bei den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 (in diesen Fällen also SPD/Grüne) einen Monat vor dem jeweiligen Wahltag genauer vorhersagen als es die Umfragen zum Teil noch mit ihren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend vermochten. Auch für diesen Herbst werden wir eine Prognose erstellen. Mehr dazu am kommenden Sonntag.

 

Sind Umfragen das Allheilmittel zur Begleitung politischer Kampagnen?

Wir können uns glücklich schätzen, dass uns für die professionelle Begleitung politischer Kampagnen in der Bundesrepublik mehrere sehr gute Meinungsforschungsinstitute zur Verfügung stehen. Viele Institute externalisieren auch in einem gewissen Maß die Qualitätskontrolle ihrer Datenerhebung, weil sie sogar nach einiger Zeit ihre Rohdaten der interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Diese potentielle Möglichkeit einer Kontrolle – auch wenn sie erst im Nachhinein geschehen kann – ist ein großer Fortschritt, der uneingeschränkt zu begrüßen ist. Die Institute sehen sich bei der Durchführung von Umfragen vielen praktischen Herausforderungen gegenüber (einzelne wurden exemplarisch von Andreas Wüst und anderen in diesem Blog bereits thematisiert), die üblicherweise nicht in akademischen Lehrbüchern zu finden sind und die sie trotz widriger Randbedingungen erfolgreich meistern.
Jedoch selbst in einer perfekten Umfrageforschungswelt mit einer wirklich zufällig realisierten Stichprobe, guten Frageinstrumenten sowie erreichbaren und auskunftswilligen Befragten sind Schlussfolgerungen, die auf Umfragedaten basieren, mit Vorsicht zu genießen. Eigentlich benötigen sie einen Beipackzettel (siehe dazu auch meinen letzten Blog-Beitrag). Das gilt insbesondere dann, wenn für ein bestimmtes Merkmal (etwa die beabsichtigte Wahl einer Partei) Veränderungen über die Zeit hinweg interpretiert werden sollen: „Steht die SPD besser da als vor zwei Wochen? Hat die FDP doch keinen Nutzen aus XY ziehen können?“
Ein großer Teil der beobachteten Veränderungen im Zeitverlauf ist nicht real, sondern rein zufällig und statistisch bedingt, weil eben nicht alle Wahlberechtigten befragt werden (können), sondern bestenfalls nur ein zufälliger Teil. Aus der Wahrscheinlichkeitstheorie wissen wir, dass wir, um eine Veränderung von einem (bzw. zwei) Prozentpunkt(en) mit 99 %-iger Sicherheit feststellen zu können, etwa einen Stichprobenumfang von 100.000 (bzw. 25.000) Befragten benötigen. Umfragedaten für solche präzisen Angaben kann und will natürlich niemand bezahlen. Typische Umfragen werden bei 1.000 bis 2.000 Befragten erhoben. Begnügt man sich mit einer Sicherheit von 90 %, dann genügen 2.000 Befragte einer perfekt realisierten Zufallsstichprobe bestenfalls, um eine Veränderung von 5 Prozentpunkten festzustellen.
Als Fazit bleibt daher festzuhalten: Die Anzahl der Befragten ist zu klein, um reale Veränderungen der aktuellen Stimmungslage in typischen Umfragen, wie sie vor der Bundestagswahl gemacht werden, zu entdecken. Trotzdem werden in den Medien vermeintliche Trends aufgezeigt und oft ad hoc interpretiert, als seien sie real. Mit der Berichterstattung über Umfragen wird so aufgrund bestimmter Anreizstrukturen der Medienlandschaft (Change ist sexy – wenn nichts passiert, kann man auch nichts berichten) ein künstlicher Hype produziert, den die Politik auch für sich instrumentalisieren kann. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass dies mit einer Beschreibung und Interpretation der aktuellen Stimmungslage dann nichts mehr zu tun hat.

 

Stimmung und Stimmen sind zwei paar Stiefel: Das Elend mit der sogennanten „Sonntagsfrage“

Jetzt kommt sie wieder, die Zeit der Balken- und Kuchendiagramme. Die Berichterstattung zu Umfragen wird sich in den kommenden Wochen drastisch erhöhen. Man wird darüber lesen dürfen, wie viele Prozentpunkte eine Partei in den Umfragen zulegen konnte und wie viel eine anderen Partei dafür gesunken ist (siehe auch den Beitrag von Thorsten Faas). Grundlage dieser Berichterstattung bildet die sogennante „Sonntagsfrage“, die in repräsentativen Bevölkerungsumfragen den entsprechenden Zielpersonen regelmäßig gestellt wird. Der Fragetext ist der folgende: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Der alte Sponti-Spruch als Antwort auf diese Frage „Woher soll ich das wissen? Heute ist erst Montag!“, hat durchaus auch einen ernsten Hintergrund. (Wir haben in diesem Blog schon einiges über die zunehmend spätere Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler lesen können.) Eigentlich soll mit dieser Frage die Wahlabsicht der Befragten bei der nächsten Bundestagswahl gemessen werden. Allerdings kann aus der jetzigen Absicht die eine oder die andere Partei im September zu wählen noch nicht unmittelbar auf das tatsächliche Verhalten der Wähler geschlossen werden. Das wäre dann doch zu einfach.

Das Hauptproblem damit: Kommenden Sonntag ist gar keine Bundestagswahl! Wie sollen Befragte, die womöglich eher an den nächsten Urlaub als an die kommende Bundestagswahl denken, auf so eine Frage antworten? Selbst wenn sie sich für Politik interessieren und den Wahlkampf intensiv verfolgen, so geht es doch in dieser Frage um kein reales Verhalten, sondern um eine Absicht zu einem rein hypothetischen „Was wäre, wenn…“. Solche Fragen sind immer schwierig zu beantworten.

Und man stelle sich bitte auch immer die Interviewsituation vor. Mich selbst hat es schon bei der Essenszubereitung erwischt. „Guten Abend, haben Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“ Kurze Überlegung, während Kind 1 im Kinderstuhl sitzt und lauthals schreit, Kind 2 auf dem linken Arm zappelt und ich mit der rechten Hand die Tomatensoße umrühre, den Telefonhörer zwischen Ohr und Hals eingeklemmt. Aber als Umfragen-Junkie kenn ich keine Gnade und habe natürlich eingewilligt.

Viele Befragte bemühen sich genau wie ich damals, trotzdem eine Antwort auf jede noch so schwierige Frage zu geben. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass dieselbe Frage von ein und demselben Befragten zu einem späteren Zeitpunkt durchaus anders beantwortet würde. Es ist daher kein Wunder, dass die Antworten auf solche Fragen von einem Zeitpunkt zum nächsten variieren ohne sich dabei wirklich geändert zu haben.

Die sogenannte „Sonntagsfrage“ – obwohl sie eigentlich treffender als „Wahlabsichtsfrage“ bezeichnet werden sollte – kann aber zumindest die aktuelle Stimmungslage der Menschen wiedergeben. Allerdings sollte auf jeden Fall auf den Beipackzettel zu Nebenwirkungen im Umgang mit Umfragen geschrieben stehen, dass auf Basis der Wahlabsichtsfrage alleine noch keine Vorhersage darüber gemacht werden kann, wie viele Stimmen eine Partei am Wahltag tatsächlich am Wahltag erzielen kann. Stimmungen sind eben noch keine Stimmen am Wahltag. Wahlprognosen können anders gemacht werden. Mehr dazu später.

 

Nur eine Petitesse des Wahlrechts? Überhangmandate bei der nächsten Bundestagswahl

Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem bundesweiten Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich zustünden. Solche Überhangmandate sind zwar, um es lax auszudrücken, unschön, stören aber nicht weiter, solange sich damit keine anderen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ergeben. Wenn aber CDU, CSU und SPD, die ja im Wesentlichen die Direktmandate gewinnen, eigentlich viel weniger Sitze zustehen, als sie schon mit Direktmandaten gewinnen, kann es zu deutlichen Verzerrungen kommen.

Mein Kollege Joachim Behnke von der Zeppelin University in Friedrichshafen hat nun eine überzeugende Simulationsstudie vorgelegt, die zu alarmierenden Ergebnissen kommt, wie er gestern in Spiegel Online berichtet. In einer Simulationsstudie wie dieser werden systematisch bestimmte Szenarien eines möglichen Wahlausgangs durchgespielt. Dazu müssen immer Annahmen gemacht werden, die angreifbar sind, worauf Joachim Behnke selbst immer wieder hinweist.

In seiner Studie wird von den 299 Wahlkreisergebnissen der letzten Bundestagswahl 2005 ausgegangen und angenommen, dass sich die Erststimmen der Parteien in jedem Wahlkreis gleichmäßig verbessern bzw. verschlechtern, wie es die derzeitigen Umfragewerte der Zweitstimmen widerspiegeln. Zu diesen Werten werden noch die zu erwartenden Stimmensplitter (in der Größenordnung der letzten Bundestagswahl) der Wunschkoalitionspartner FDP und der Grünen für die WahlkreiskandidatInnen der CDU, CSU und SPD pro Wahlkreis hinzugezählt. Somit können die Gewinner der Direktmandate mit dem jeweiligen Zweitstimmenergebnis (sofern die jetzigen Umfragen stimmen) der Parteien verglichen und die Anzahl der Überhangmandate berechnet werden. Da die Umfragen zu diesem Zeitpunkt bestenfalls ungefähr das Endergebnis widerspiegeln, werden mehrere leicht schwankende Zweitstimmenergebnisse der Parteien als Berechnungsgrundlage herangezogen. Daher bekommt man nicht eine bestimmte prognostizierte Anzahl der Überhangmandate für CDU, CSU bzw. SPD, sondern eine ganze Verteilung solcher Werte.

Behnkes Ergebnisse verdeutlichen die Größe des zu erwartenden Vorsprungs der CDU/CSU gegenüber der SPD. Der Sitzvorsprung der CDU/CSU vor der SPD, nur basierend auf Überhangmandaten, beträgt im Mittel mehr als 21 Sitze. In praktisch allen Simulationen hat die CDU/CSU einen deutlichen Vorsprung an Überhangmandaten, oft sogar einen rekordverdächtigen. Eine auf diese Weise künstlich vergrößerte CDU/CSU Fraktion im Bundestag hätte auch erheblich mehr strategisches Machtpotential in Koalitionsverhandlungen mit der FDP (oder natürlich auch den Grünen bzw. der SPD) nach der Bundestagswahl.

So dramatisch wird es vermutlich aber nicht kommen. Ich nehme nicht an, dass die jetzigen Umfragen wirklich gut das Stimmungsbild am Wahlabend wiedergeben. Der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD wird sich noch verkleinern. Potentielle Wahlkreissieger der CDU/CSU gemäß Behnkes Simulationsstudie werden dann doch nicht das Direktmandat gewinnen, sondern es an die SPD-KandidatIn verlieren, was sofort zu einer Verringerung von Überhangmandaten führen würde. Außerdem wären die Wahlkampfstrategen der Parteien töricht, wenn sie ihre Direktmandatsstrategien nicht entsprechend auf diese Umstände anpassten (siehe hierzu auch den Beitrag von Thorsten Faas).