Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) tritt für die Schaffung eines „Bildungsrats“ ein, eines Expertengremiums, das – analog zum schon bestehenden Wissenschaftsrat – der Politik Ratschläge zur Entwicklung des Bildungswesens erteilt. In einer Rede zum 125. Geburtstag Kurt Hahns, des Mitgründers des Internats Schloss Salem, sagte sie wörtlich: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.“
Im Folgenden sei der ganze – sehr interessante – Festvortrag der Ministerin vom 12. Juni 2011 dokumentiert. Genauer: Das Manuskript des Vortrags; gültig ist selbstverständlich das gesprochene Wort.
Festvortrag der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Prof. Dr. Annette Schavan, zum 125. Geburtstag Kurt Hahns
Vom Staatsbürger zum Weltbürger – das Erbe Kurt Hahns
und die Erziehung für das 21. Jahrhundert
I.
Kurt Hahn verbindet mit Pädagogen zu allen Zeiten das Leiden an der Wirklichkeit. Die Geschichte pädagogischer Ideen ist auch die Geschichte des Leidens an der Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen.
Die Klage über allgemeine pädagogische Verwahrlosung in einer für Erziehung und Bildung unsensiblen Gesellschaft durchzieht die Geschichte der pädagogischen Aufbrüche. Eine neue stringente pädagogische Kultur zu schaffen, gilt als Weg der Erneuerung, zumindest aber als Möglichkeit, die weitere Verwahrlosung auf zu halten.
Kurt Hahn formuliert das 1958 so: „Der Verfall, der die junge Generation in der freien Welt bedroht ist im Fortschreiten, aber er ist aufzuhalten.“1 Er macht die Hast des modernen Lebens verantwortlich für den Niedergang von Werten, Grundhaltungen und öffentlichem Gewissen.
Kurt Hahn verbindet mit vielen Pädagogen, zumal den Vertretern der Reformpädagogik am Beginn des 20. Jahrhunderts, der Optimismus über die Jugend. „Es gibt keinen kostbareren Schatz einer Nation als die Menschenkraft ihrer Jugend.“2
Die schwedische Schriftstellerin und Lehrerin Ellen Key hat mit dem Titel ihres Buches „Das Jahrhundert des Kindes“ die Ouvertüre für die Pädagogik des 20. Jahrhunderts geliefert. Das Buch war ein Welterfolg und erschien 1926 bereits in der 36. Auflage. Das war wohl nur möglich, weil dieser Titel das pädagogische Selbstbewusstsein ihrer Zeit traf.
Die Welt um die Jahrhundertwende war verunsichert. Auf dem Weg in die säkulare Industriegesellschaft lebten die Menschen unter dem Eindruck, die bisher vertraute Gesellschaftsform zu verlassen und in eine neue, bislang unbekannte Lebenswelt einzutreten.
Andreas Flitner beschreibt die pädagogische Hoffnung der damaligen Zeit so: „Mit den Kindern und Jugendlichen lässt sich ein neuer Anfang machen. Eine Veränderung durch Erziehung scheint möglich.“3
Kurt Hahn teilt mit anderen Pädagogen die Skepsis gegenüber dem Staat und der Staatsschule. „Schöpferische Pionierarbeit zu leisten ist dem Staat nicht gegeben.“4 Aus dieser Einschätzung heraus bietet er die Bereitschaft der Landerziehungsheime an, „ihre Hebammendienste zur Verfügung zu stellen, um der revolutionären Reform, die wir fordern, bei ihrer schweren Geburt beizustehen.“5 Die Staatsschule kann nach seinem Verständnis nicht leisten, was notwendig ist, um die Jugend von den von ihm diagnostizierten Einflüssen allgemeiner Verwahrlosung zu schützen. Eltern seien überfordert, weil beruflich zu sehr in Anspruch genommen. Der Staat brauche gute Beispiele, die die Landerziehungsheime sein könnten, um das öffentliche Bildungssystem grundlegend zu verändern.
Kurt Hahn will Pionier sein. Landerziehungsheime sollen „ein kleiner Staat“ sein, in dem Lehrer, Forscher, Erzieher, Handwerker und andere Fachleute arbeiten. Eine kleine Welt in der großen Welt, die die Jugend fordert und fördert, ihre besten Seiten und Potenziale zu entfalten.
Kompromisse waren ihm fremd. Sein Modell der Schule lebte von der Geschlossenheit und strikten Unterscheidung von der sie umgebenden Gesellschaft. Einflüsse waren unerwünscht, Mit-Erzieher ebenso und vermutlich war dann doch auch das Landerziehungsheim überschätzt.
Kurt Hahn hat viel geleistet. Er gehört zu den pädagogischen Pionieren des 20. Jahrhunderts. Es war dann aber für ihn schwer zu verkraften, dass die eigenen pädagogischen Ideen an Grenzen stoßen.
Die Aufbruchsstimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit Erziehung und Bildung verbunden war, fand eine jähe Zäsur nach den beiden Weltkriegen und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Gesellschaft und ihrer Bildungsideale. Pädagogisches Denken geriet in eine tiefe Krise. Bildung schien ein Relikt vergangener Tage gewesen zu sein. Bereits Mitte der 1960er Jahre begann in Westdeutschland eine grundsätzliche Kritik am Bildungsdenken, verbunden mit dem Vorwurf, dahinter stehe im Anschluss an Wilhelm von Humboldt ein idealistisches Konzept. Hermann Giesecke schreibt in seiner „Einführung in die Pädagogik“: „Der ursprüngliche Bildungsbegriff (kann) in seiner damals umfassenden Bedeutung heute nicht mehr zur Zielvorstellung des pädagogischen Handels und Denkens gemacht werden. Dafür haben sich die Lebensverhältnisse zu sehr verändert.“6 In der Bildungsdiskussion Ende der 1960er Jahre wurden andere Begriffe eingeführt, vor allem der Begriff „Lernen“, der ein Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen sein sollte. Die Pädagogisierung der Bildung war perfekt. Empirische Lernforschung und Lernpsychologie sollten helfen, Klarheit im Konkreten zu schaffen. Ziel waren Prozesse der Sozialisierung junger Menschen, nicht mehr Bildung – ein Begriff, der unter Ideologieverdacht stand.
Hinsichtlich der Erziehung war die Verunsicherung nicht minder tiefgreifend. Erfahrungen von Machtmissbrauch, die im damaligen Generationenkonflikt thematisiert wurden, ließen Erziehung eher als einen Akt der Fremdbestimmung erscheinen.
Die Stimmung im pädagogischen Milieu sank auf einen Tiefpunkt. Wilhelm Flitner schrieb 1979 einen Aufsatz mit der rhetorischen Titelfrage: „Ist Erziehung erlaubt?“7 Er legt dar, dass erzieherische Hilfe den Heranwachsenden gegenüber unentbehrlich sei und die Spannung zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung im pädagogischen Raum durch die Wahl der rechten Methode gelöst werden müsse.
Die beschriebene Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Pädagogik, die sich seit her als Erziehungswissenschaft bezeichnet, ist nicht ohne Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Bildungspolitik geblieben. In dieser Zeit war Wilhelm Hahn Kultus- und Wissenschaftsminister in Baden-Württemberg. Er fand Anerkennung als großer Reformer und hielt 1974 in seinem Tagebuch fest, dass „die Bildungsreform durch ihre Verzerrung ins technokratische und ideologische ihren Kulminationspunkt überschritten“ habe. Er, der mit seiner Person für eine kraftvolle Gestaltung der bisherigen Reformepoche im Bildungswesen stand, befürchtete nun, dass Pädagogik zu sehr von technokratischen Konzepten und „planerischen Idealentwürfen auf dem Reißbrett bestimmt und zu wenig am Kind orientiert sei. Sein persönliches Anliegen zu einer am Kind orientierten Pädagogik beschrieb er mit dem Brecht-Zitat: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“8
Manche erinnern sich daran, dass er danach eine bundesweite Initiative „Mut zur Erziehung“ startete. Wer diese Zeit gut kennt, erinnert sich auch daran, dass Wilhelm Hahn damit in große Auseinandersetzungen geriet.
Die bildungspolitischen Debatten in den folgenden Jahrzehnten waren von heftigen Auseinandersetzungen über Schulstrukturen geprägt, immer waren es auch Finanzdebatten angesichts zunehmender Schülerzahlen, selten solche über Bildungsinhalte und Bildungsziele.
II.
Wie ein Paukenschlag wirkt im Jahr 2001 die öffentliche Präsentation der ersten Pisa-Studie. Ich war damals Präsidentin der Kultusministerkonferenz und erinnere mich noch gut an die große Aufregung, die die Ergebnisse dieser Studie auslöste. Im internationalen Vergleich waren die Schulen in Deutschland längst nicht so gut, wie allgemein angenommen. Die Skepsis gegenüber den Begriffen Bildung und Erziehung waren zwar überwunden, jetzt aber trat an die Stelle eine neue Skepsis gegenüber dem öffentlichen Bildungssystem. Hans Maier berichtet in seiner Autobiografie „Gute Jahr. Böse Jahre“, dass er bereits in den 70er Jahren von Bernd Vogel als junger Kultusminister in seiner ersten Sitzung der Kultusministerkonferenz begrüßt wurde mit dem Satz: „Willkommen im Klub der Prügelknaben der Nation.“ Der Ruf der Kultusminister war nie gut. Immer wurden sie verantwortlich gemacht für Defizite im öffentlichen Bildungssystem. Das war jetzt nicht anders. Mancher Kultusminister geriet massiv unter Druck. Die Kultusministerkonferenz bemühte sich um einen umfassenden Plan zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Die im Jahre 2009 vorgelegte Pisa-Studie zeigte deutliche Verbesserungen. Kritik am Bildungssystem, an mangelnder Bildungsgerechtigkeit, am Föderalismus, an einer unzureichenden Finanzierung des Bildungssystems aber hält an. Es ist den Ländern nach der Föderalismusreform nicht gelungen, wirklich gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen. Die Unterscheide zwischen den Ländern sind eher größer geworden. Das gilt vor allem für die Organisation des Bildungssystems und der Lehrerbildung, aber auch im Vergleich der Lernniveaus angesichts vereinbarter Bildungsstandards für alle Länder.
Das erste Jahrzehnt im 21. Jahrhundert ist in der Bildungspolitik in Deutschland ein Jahrzehnt umfassender Schulreformen gewesen. Aber anders als vor 100 Jahren fehlt der Optimismus im Blick auf die Wirkungen von Erziehung. Wer würde schon heute angesichts von wiederum tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sagen: „Eine Veränderung der Welt durch Erziehung scheint möglich.“
Wenn wir vom Erbe Kurt Hahns sprechen, dann ähnelt die Stimmung wohl eher seiner damaligen Einschätzung, dass es nicht gelingt, der Jugend die pädagogische Begleitung zu geben, die notwendig ist, damit sie ihre Persönlichkeit entwickeln und ihre Fähigkeiten entfalten kann. Die Stimmung ist am ehesten geprägt von schlechtem Gewissen und manchmal auch von dem Eindruck, dass Bildungspolitik sich verzettelt.
Hat das möglicherweise auch damit zu tun, dass in allem Reformeifer so wenig über die Inhalte von Bildung und die Ziele von Erziehung gesprochen wird?
Sind unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit?
Ist die Art, wie wir lehren und lernen im 21. Jahrhundert angekommen?
Haben wir schon realisiert, dass die Jugend von heute junge Europäer sind, deren Bildungshorizont über nationale Grenzen hinaus reichen sollte?
Vor den Antworten auf solche und andere Fragen steht die kulturtheoretisch wie bildungstheoretisch unterschätzte Bedeutung des Generationenverhältnisses. Bildung und Erziehung sind Ausdruck des Interesses der Generationen aneinander. Friedrich Schleiermacher spricht darüber in seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1826: „Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, sie ist umso unvollkommener je weniger bewusst wird, was man tut und warum man es tut. Es muss also eine Theorie geben, die von dem Verhältnis der älteren Generationen zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf dieser Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung zur anderen obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt.“9 Als Ausgangspunkt pädagogischer Praxis und Reflektion steht für Schleiermacher das ernsthafte Interesse der Generationen an einander, der Wille, mit einander zu ringen und sich zu verständigen. Bildung und Erziehung sind Teil eines geistigen Generationenvertrages, der der jeweils nächsten Generation Kultur erschließt.
Wo das ernst genommen wird, kann über Bildung und Erziehung nicht allein im Kontext von Institutionen gesprochen werden. Das gilt einmal mehr in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der die Informationsquelle und Kommunikationsplattform schlechthin das digitale Netz ist, auf das manche Kinder bereits Zugriff vor dem ersten Schultag haben.
Interesse der Generationen an einander gewinnt zusätzlich an Bedeutung für Bildung und Erziehung angesichts der Erkenntnisse der Hirnforscher, wonach Bindungsfähigkeit eine Voraussetzung für die Bildungsfähigkeit ist. Vor jeder Schulreform steht also die Erwartung an die Erwachsenengeneration, sich darüber zu vergewissern, welches die Inhalte und Ziele von Erziehung und Bildung sind, die Kultur erschließen und vermeiden, dass sich eine junge Generation wie Fremdlinge in der eigenen Kultur bewegen. Auch die raschere Abfolge von Generationen ändert daran nichts. Und entlässt die ältere Generation nicht aus der Pflicht, Verbindliches zu vermitteln gerade dann, wenn die vorherrschende Zeitsignatur die sich beschleunigende Veränderung ist. Erziehung gewinnt gerade dann immer mehr an Bedeutung Verbindlichkeit an die Stelle von Beliebigkeit zu setzen – Verbindlichkeit der Beziehungen und Werte. So entstehen Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundelemente im pädagogischen Milieu.
Erziehung und Bildung im 21. Jahrhundert sollte sich also nicht zuvorderst mit der Schaffung pädagogischer Sonderwelten beschäftigen, die sich durch eine möglichst strikte Trennung von den übrigen Lebenswelten definieren. Die Angst von äußeren Einflüssen und Mit-Erziehern ist müßig. Sie sind immer präsent. Sie sind Teil der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Wenn wir über Bildung und Erziehung sprechen, dann meinen wir auch am Beginn des 21. Jahrhunderts die Wege, in denen Menschen nicht hinter ihren Möglichkeiten bleiben. In der Tradition ist viel von Persönlichkeitsbildung die Rede. Sie hat nichts an Aktualität verloren. Kurt Hahn hat 1930 „the seven laws of Salem“ veröffentlicht. Das sind die Prinzipien, die er als unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiche Erziehung und Bildung ansah. Sie lauten:
Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken.
Lasst den Kindern Triumpf und Niederlage erleben.
Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe an die gemeinsame Sache.
Sorgt für Zeiten der Stille.
Übt die Fantasie.
Lasst Spiele eine wichtige, aber keine vorherrschende Rolle spielen.
Erlöst die Söhne reicher und mächtiger Eltern von einem entnervenden Gefühl der Privilegiertheit. 10
So oder vergleichbar formuliert finden wir pädagogische Imperative auch in anderen pädagogischen Konzepten. Sie sind zeitlos. Sie erinnern daran, dass vor aller Wissensvermittlung und aller Denkschulen die Entfaltung eigener Kräfte und Grundhaltungen steht.
Heute kommen Erkenntnise der Entwicklungsneurobiologie, der Entwicklungspsychologie und der Verhaltensphysiologie hinzu. Sie gehören in jede Lehrerbildung. Sie liefern wichtige Erkenntnisse darüber, wie wir lernen und wie Lernumgebungen zu gestalten sind. Sie erklären die Rolle von Persönlichkeit und Motivation beim Lehren und Lernen. Sie haben bislang kaum Eingang in unser Bildungssystem gefunden. Sie zeigen auf, dass gelingendes Lehren und Lernen nicht allein eine Frage der Didaktik- und Methodenvielfalt ist, vielmehr frühkindliche Einflüsse, Bindungsverhalten, ein anderer Umgang mit der Zeit, Emotionen, Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung und Sprachvermögen prägenden Einfluss auf Lernmotivation und Intelligenzentwicklung ausüben.
Teil der Lehrerbildung sind solche Erkenntnisse wohl kaum. Deshalb gehört zu den vorrangigen Reformen im Bildungssystem die Lehrerbildung. Sie ist nicht auf der Höhe der Zeit. Sie lehrt zu wenig darüber, wie wir lernen. Ob unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit sind, vermag ich schwer zu sagen. Es gibt so viele davon in Deutschland. Die Kultusministerkonferenz hat vor vielen Jahren gemeinsame Bildungsstandards vereinbart und damit einen kompetenzorientierten Ansatz verbunden. Es ist schwerlich herauszufinden, ob diese Vereinbarung in allen 16 Ländern in neue Bildungspläne umgesetzt wurde. Wer – wie ich – einmal die Erfahrung gemacht hat, neue Bildungspläne erarbeiten zu lassen, der weiß um den Kampf, der dann geführt wird. Alle reden von Kompetenzen, ringen aber um jede bisherige Lernsequenz, um Themen und Namen und vor allem um den Anteil des eigenen Faches am Ganzen des Bildungsplans. Die Schule der Zukunft braucht ein Bildungskonzept, dass auf Konzentration setzt, auf die Verbindlichkeit eines Kerncurriculums und die Möglichkeit der selbstständigen Profilbildung. Ein modernes Bildungssystem braucht Vergleichbarkeit, nicht die Uniformität schulischer Curricula. Schule braucht Selbstständigkeit.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.
Schließlich greife ich noch einmal die Frage nach der europäischen Bildung auf. Wir sprechen vom europäischen Bildungsraum und vom europäischen Hochschulraum. In den 27 Mitgliedsländern soll Mobilität möglich werden. Es setzt voraus, im Bereich der Hochschulen Studienleistungen und Studienabschlüsse wechselseitig anzuerkennen. Im europäischen Bildungsraum existieren Mobilitätsprogramme, die Auslandserfahrungen fördern. Wie aber steht es um die Ausrichtung nationaler Bildungspläne auf ein Grundverständnis von europäischer Bildung? Welche Rolle spielen europäische Literatur, europäische Geschichte und europäische Kultur in unseren Bildungsplänen? Jede Forderung nach einem entsprechenden Bildungskanon stößt bislang an Grenzen. Dennoch lohnt sich der Versuch. Ein in den Schulen aller Mitgliedsländer zugelassenes Buch zur europäischen Kulturgeschichte, zur europäischen Literatur, zur politischen Bildung – das wäre ein guter Impuls. Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert braucht einen europäischen Bildungskontext.
Dazu gehört auch die Frage, wie in den Mitgliedsländern Bildungspolitik mit dem Thema Sprachenlernen umgeht. Manche erinnern sich vermutlich noch an die heftigen Debatten, die wir in Baden-Württemberg geführt haben, als es um die Einführung von Französisch in den Grundschulen am Oberrhein ging. Analog dazu stellt sich die Frage in Brandenburg und Sachsen nach der polnischen Sprache. Das ist zugegebenermaßen ein anspruchsvolles Programm. Beim frühen Fremdsprachenlernen gehen die Meinungen in Deutschland nach wie vor auseinander. In Baden-Württemberg ist die Fremdsprache ab Klasse 1 eingeführt. Ein Expertenrat hat dies jüngst wieder infrage gestellt, weil mit Blick auf viele Kinder mit Migrationshintergrund das Erlernen der deutschen Sprache als der Schulsprache Vorrang haben müsse. Befürworter des frühen Fremdsprachenlernens, zu denen ich gehöre, argumentieren damit, dass diese Fremdsprache das einzige Schulfach sein, in dem alle eine gleiche Ausgangslage haben. Solche Fragen können Gegenstand der Expertise eines Bildungsrates sein und der Bildungspolitik helfen, zu richtigen Entscheidungen zu kommen.
Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt von Bildung und Erziehung. Sie sollen ihre Talente entfalten und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Diese Erwartungen an Bildungs- und Erziehungsprozesse haben Vorrang vor allem anderen. In Zeiten der raschen Wissensvermehrung und einer wachsenden Informationsflut gewinnt die Auswahl geeigneter Bildungsinhalte in unseren Schulen an Bedeutung. Schule braucht Konzentration. Schule muss sich gegen Verzettelung wehren, zumal die Versuchung besteht, ständig neue Erziehungs- und Bildungsaufträge an die Schule zu geben, mit denen der Eindruck erweckt wird, als sei dies der einzig relevante Lernort. Lernen aber ist längst nicht auf Schule beschränkt. Bildung beginnt nicht in der Schule und weist über die Schule hinaus. Deshalb muss Schule das leisten, was sie kann und letztlich besser zu leisten vermag, als andere Lebensbereiche. Sie muss ein Fundament schaffen, dass Lernen auch jenseits der Institutionen befördert. Sie soll Neugierde erhalten und den Schwung des Lernens befördern. Kurt Hahn hat bemängelt, dass manche Lehrer nicht wahrnehmen, wenn der Schwung zum Lernen nachlässt und Kinder damit hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Er stellt hohe Anforderungen an die pädagogische Arbeit. Es legt nahe, sich darum zu bemühen, dass die Besten eines Jahrgangs diesen wichtigen, schwierigen und zugleich schönen Beruf wählen. Wo dies gelingt, hat Bildungspolitik bereits viel erreicht. Vor allem ist damit ein sichtbarer Hinweis dafür gegeben, dass Bildung und Erziehung ernst genommen und anerkannt wird.
Bildung und Erziehung in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu stärken, sie als Ausdruck des geistigen Generationenvertrages zu begreifen und unsere nationalen Bildungssysteme in einem europäischen Bildungskontext zu gestalten gehört zu den vornehmsten Aufgaben moderner Gesellschaften.