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Kafkas Pornoschrank

Biografieforscher an vorderster Front. Erst entdeckt einer Goethes heimliche Liebe zu Anna Amalia, jetzt das: Franz Kafka las Pornos! Da graust sich der Germanist. Zumindest, wenn er vom Buch des britischen Autors James Hawes gehört hat, das gerade in England erschienen ist. Excavating Kafka heißt es, „Kafka freilegen“. Es beschreibt unter anderem, wie der Schriftsteller seine Schmuddelhefte in seinem Schrank einschloss. Den Schlüssel nahm Kafka in die Ferien mit, damit die Mutter die Sammlung nicht fand. Und Hawes will Bilder zeigen! Sexbildchen: Mit Tieren! Pfui, Franz! Die Hefte hatte er von Franz Blei – demjenigen, der die ersten Werke Kafkas 1908 veröffentlichte.

So, und jetzt atmen wir mal durch. Der Amethyst und Die Opale, so hießen die Zeitschriften. Sie erschienen um die Jahrhundertwende, Franz Blei war ihr Herausgeber. Das Groteske, das Erotische wollte er in ihnen zeigen. In den Heften standen Texte richtiger Schmuddelautoren: Goethe, Rimbaud, Wilde und Robert Walser. Die Zeichnungen kamen von Künstlern wie Alfred Kubin oder Theodor Thomas Heine. Wird Ihnen schon heiß?

Der Kafka-Biograf Reiner Stach sagt zu den Heften: „Es waren zwar pornografische Darstellungen dabei, aber Sie dürfen sich das nicht so vorstellen wie die harte Pornografie heute. Das sind Zeichnungen, keine Fotos. Das sind spielerische Darstellungen, die haben zum Teil karikaturistischen Wert.“ Die Zeitschriften waren also nicht die Praline und St.Pauli Nachrichten der Jahrhundertwende, und dass Kafka sie las, ist lange bekannt. Er hatte sie abonniert, als er 24 war. Das schrieb bereits Klaus Wagenbach vor 50 Jahren auf.

Was ist denn jetzt erstaunlich daran? Dass Kafka diese Hefte las, die damals zwar als erotisch, nicht aber als obszön galten und sogar in Bibliotheken liegen? Oder dass 100 Jahre später ein englischer Forscher, ihrer ansichtig geworden, „Porno, Porno“ schreit? Hawes sagt, er möchte endlich die Kafka-Forschung aus ihrer Verlogenheit führen, den Teppich lüften, unter dem die schmutzigen Details liegen. Er will den Mythos zerstören vom keuschen Dichter. Toll: Diejenigen, die selbst viel schlimmere Heftchen vor ihren Ehefrauen verstecken, können sich Kafka nun nahe fühlen. „Der ist ja wie ich! Den les ich jetzt!“ So bringt man die Literatur ins Volk.

Vielleicht kann Hawes aber einfach kein Deutsch lesen. Denn Kafkas schmutzige Seiten, seine Bordellbesuche, seine Flirts mit Wirtsmädchen sind doch schon längst aufgeschrieben worden. Den Schrank schloss Kafka übrigens aus anderen Gründen ab. Dort lag sein Sparbuch. Und das durften seine Eltern wirklich nicht sehen.

 

Novalis trifft Obama

Liebe Hamburger Schüler. Heute kommt Barack Obama nach Berlin (unsere Hauptstadt). Riesenhallo! Riesentrara! Das kann man überall lesen. Frank-Walter Steinmeier (unser Außenminister) darf mit ihm reden, Angela Merkel (unsere Bundeskanzlerin) auch. Es ist sozusagen Obama-Woche oder Obama-Mania, wie das manche nennen. Und zugleich Novalis-Woche! Was wäre passiert, wenn die beiden sich mal unterhalten hätten? Vielleicht das:

Novalis: „Der jetzige Streit über die Regierungsformen ist ein Streit über den Vorzug des reifen Alters, oder der blühenden Jugend.“

Barack Obama: „Wir sind eine Nation, wir sind ein Volk, und unsere Zeit für Veränderungen ist gekommen.“

Novalis: „Wenn man von einer Nation urtheilt, so beurtheilt man meistens nur den vorzüglich sichtbaren, den frappanten Theil der Nation“

Barack Obama:Sag mir nicht, Wandel ist nicht möglich

Novalis: „Revolutionen beweisen eher gegen die wahre Energie einer Nation. Es gibt eine Energie aus Kränklichkeit und Schwäche – die gewaltsamer wirkt, als die wahre – aber leider mit noch tieferer Schwäche aufhört.“

Barack Obama: „Das Geniale unserer Staatsgründer liegt darin, dass sie ein Regierungssystem entworfen haben, das verändert werden kann.“

Novalis: „Kein Argument ist der alten Regierung nachtheiliger, als dasjenige, was man aus der disproportionellen Stärke der Glieder des Staats, die in einer Revolution zum Vorschein kommt, ziehen kann.“

Barack Obama: „Es gibt Leute, die sich rüsten, uns zu teilen, die politischen Medienberater und die, die mit negativer Wahlwerbung hausieren gehen, die sich eine Politik nach dem Motto ‚Erlaubt ist, was gefällt‘ zu Eigen machen.“

Novalis: „Der beste Staat besteht aus Indifferentisten dieser Art.“

 

Steuerhinterziehung? Auch dufte!

Martin Walser widmet sich mal wieder dem Deutschen an sich. Kürzlich empörte er sich noch vor der Bayerischen Kulturakademie über das stetige „Rechthabenmüssen“, den „moralischen Oberton“ und „die Heuchelei“ seiner Landsleute – nun ist er wieder auf 180.

Es sei gerechtfertigt, wenn deutsche Unternehmen Bestechungsgeld zahlten, um an Aufträge zu bekommen, sagte der Schriftsteller dem Wirtschaftsmagazin Capital. Dass Manager wie Heinrich von Pierer oder Klaus Zumwinkel an den Pranger gestellt würden, findet Walser „deutsch, deutsch bis ins Mark“.

Zum Fall Siemens meinte er: „Meine Vermutung ist, so ein Unternehmen ist derart konstruiert, dass bis zu einer gewissen Ebene alle wissen, wir müssen bestechen, aber wir müssen für den Fall des Falles die Spitze davon freihalten. Dann ist das eine sehr solide, vernünftige Konstruktion.“ Nämlich so wie früher, als die Knechte putzten, wenn der König gepupst hatte.

Und Steuerhinterziehung? Auch dufte! „Der Staat sollte sich mal überlegen, warum so etwas passiert. Es gibt ja wenige Steuerflüchtlinge vom Ausland in die Bundesrepublik, oder?“ fragt Walser völlig undeutsch. Auf der Strafbank: die Journalisten. Diese setzten in ihrer Berichterstattung bei den Lesern ein „wollüstiges Interesse“ voraus.

Denn:

„Die wissen, es freut die Leute, wenn man zuerst sagt, das ist einer der am edelsten aussehenden Wirtschaftsmenschen und schau mal da: korrupt, korrupt, Sumpf, Sumpf.“ Viele Menschen seien vom Neid befallen, wenn Manager das Hundertfache verdienten.

Neid, Wollust, Walser wird biblisch. Und grundsätzlich:

Geld sei das einzige Mittel zur Unabhängigkeit. Er selbst habe materielle Not immer gefürchtet. Und der Rest wird auch nicht immer ärmer: „Da bin ich absolut erkenntnisabweisend. Wenn es jetzt heißt, jeder achte Deutsche ist arm, und wenn der Staat nicht zuzahlte, dann müsste jeder vierte als arm bezeichnet werden – das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, sagte Walser zur Kulturakademie in Bayern. Das Schöne: Er darf das alles sagen. Das Blöde: Man darf’s zitieren.

 

In Weißenfels, da steht ein Haus

Liebe Hamburger Schüler, weiter geht’s mit dem frühromantischen Dichter Novalis. Bergbauingenieur war er! Seine Jugendwerke zeugen bereits von ungeheurer Bildung. Gestorben ist er 1801 in Weißenfels in Sachsen-Anhalt, im Burgenlandkreis, jährlicher Niederschlag 471 mm, Durchschnittstemperatur 9,4 Grad. Dort steht das Novalis-Haus. Schöner Bau. So sieht er aus:

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Und weil man Gebäude ja schnell mal poetisch findet, so sei dem Dichter hier das Wort gestattet:

Poesie ist Darstellung des Gemüts – der innern Welt in ihrer Gesamtheit

 

Oh, Novalis!

McDonalds startet aus heiterem Himmel absurde Mottowochen. Die Asia-Wochen mit dem „Beef LangTsu“ zum Beispiel. Kann ich auch. Also jetzt: Novalis-Woche! Denn neulich in der U-Bahn las ich das Buch von Rüdiger Safranski über die Romantik, da tuschelten drei Schüler.

„Guck mal den! Romantik! Was ist denn das für ein Softie!“
„Liebe Freunde, das ist eine Literaturepoche.“
„Nie gehört!“
„Ähm, Novalis?“
„Pff, kenn ich nicht.“

Na sowas! Dann holen wir jetzt mal das Gymnasium nach. Eigentlich hieß er Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg und schrieb den Heinrich von Ofterdingen, ehe ihn seine schwache Lunge dahin raffte. So, ihr lieben Hamburger Schüler: Die nächsten sieben Tage schön hier gucken, dann wisst ihr künftighin, wer das war. Geht auch schnell, nur Zitate: Heute, passend zum Wetter: Schlafen!

„Schlafen ist Verdauen der Sinneseindrücke, Träume sind die Exkremente.“

Und so sah er aus, der Gute:
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„Best of Booker“ für Rushdie

Na, da schau her:

Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie ist mit dem Sonderpreis «Best of the Booker» ausgezeichnet worden. Die Ehrung, die anlässlich des 40-jährigen Bestehens des wichtigsten britischen Literaturpreises verliehen wurde, bekam Sir Salman heute für seinen Roman «Mitternachtskinder». Damit ist das Buch nach Meinung der Leserjury das beste, das je mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde.

Rushdie, der Ende Juni von Königin Elizabeth II. zum Ritter geschlagen wurde, hatte den Booker-Preis 1981 für seinen zweiten
Roman bekommen. Mitternachtskinder (1981) gilt als großes Werk des Magischen Realismus und des Postkolonialismus. «Das sind großartige Neuigkeiten. Ich bin absolut erfreut», sagte Rushdie. Über den Sieger stimmten fast 8000 Leser aus der ganzen Welt im Internet ab.

Fünf weitere Booker-Preis-Sieger waren für den Sonderpreis im Rennen, darunter Schande des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers John M. Coetzee und Oscar und Lucinda des Australiers Peter Carey. Die Auszeichnung wird seit 1969 verliehen.

Gegen die Ritterwürde für Rushdie hatten vor einem Jahr in zahlreichen Ländern Muslime protestiert. Rushdie ist wegen seines
Romans Die Satanischen Verse in der islamischen Welt höchst umstritten, weil sich Muslime durch die Beschreibung des Propheten Mohammed beleidigt fühlen. Rushdie musste jahrelang unter strenger Bewachung im Untergrund leben, nachdem der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini 1989 eine Todesdrohung gegen ihn ausgesprochen hatte.

 

Ach, diese Poesie!

Hamburg hat bekanntlich den Hafen. Das ist sehr schön: Es gibt viel Wasser und man hat immer ein Ausflugsziel, wenn Besuch kommt. Fisch essen kann man auch prima. Aber gnade uns Gott, es wird Abend! Die Sonne geht unter, die Schiffe werden zu Schatten und manche Zuschauer gleich sentimental:

„Das hat so eine Poesie“, seufzen sie dann.
„Ja“ (dramatische, wenn nicht poetische Pause) „Das stimmt“, seufzt es oft zurück.

Nicht selten liegen bald Köpfe auf Schultern. Häufiger jedoch zückt manch einer den Fotoapparat und hält diesen Moment fest, auf dass dieser fortan in der Wohngemeinschaftsküche hänge, bis die Poesie durch stetigen Nudeldampf langsam abblättert.

In meiner Studienzeit war es nicht der Hafen – es waren Industrieanlagen. Kaum eine Fotostudentenausstellung, die nicht vollgehängt war mit schwarz-weißen Bildern verfallener Fabriken, Gewebehöfe, Schornsteine, Lagerhäuser, Silos, Kühltürme, tralala. Angekündigt wurden diese Ereignisse zumeist mit: „Bilder voller Poesie.“

Alltägliche Erlebnisse stellen manche vor erhebliche Wortfindungsstörungen. Eine wehende Plastiktüte kann das sein oder ein stiller Augenblick im Park. Es geht um eine Ästhetik des Moments, vor dem der Betrachter hilflos steht und glaubt, bloß ein Gedicht könne erahnbar machen, was das Besondere daran sei. Da werden viele sentimental und verwechseln das mit Poesie, was eigentlich Kitsch heißen sollte. Ein Foto einer Industriebrache hat wenig poetisches, es ist platt, plump und verbindet ein simples Gefühl mit einem noch simpleren Ausdruck. Ein Gedicht braucht man dafür nicht.

Wohl aber Dichtung! Das geht mit Häusern nämlich ganz gut, nach Einsatz von Wärmekameras und hernach viel Dämmwolle. Aber bitte nicht zu dicht, sonst schimmelt’s. Wer beim Anblick von Gebäuden an Dichtung denkt, ist also hoffentlich Klempner, Glaser oder Bauingenieur. Wenn nicht, möge er die Dichtung woanders suchen. In einem Hölderlinvers zum Beispiel.

 

Toll, Herr Kirchhoff

Beziehungsweise: Toll, dpa! Nicht nur, dass Herr Kirchhoff euch das mitteilt, ihr müsst es auch noch aufschreiben:

„Schriftsteller Bodo Kirchhoff, als «Workaholic» der Arbeit verfallen, sucht Ausgleich beim Rasenmähen im Garten. «Man muss null nachdenken. Und man macht einfach etwas stur und sieht am Ende ein Ergebnis. Das ist schön», sagte der Frankfurter Autor («Infanta», Parlando») der dpa. Kirchhoff, der in Frankfurt am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs ist, hat nach eigenen Worten auch ein Faible für «unvernünftige Dinge» wie PS-starke Autos. «Dass mir schnelle Dinge keine Freude machen, das wäre gelogen», sagte Kirchhoff.“

Ich habe keinen Garten, fahre ungern Fahrrad, und mein erstes und einziges Auto war ein bordeauxfarbener Nissan Micra mit sagenhaften 42 PS. Wen das interessiert? Keinen. Eben.