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Plädoyer für Pynchon

Am 11. Oktober hat die Welt einen neuen Literatur-Nobelpreisträger. Da wird schon wild spekuliert. Don DeLillo, Phillip Roth, Ko Un oder Thomas Pynchon. Da machen wir mal mit! Ich möchte, dass Thomas Pynchon gewinnt. Nicht, weil ich seine Bücher besser finde als die von Roth zum Beispiel. Nein, aus einem einfachen Grund: Ich will wissen, wie er aussieht! Alle öffentlichen Bilder von ihm sind älter als 50 Jahre. Er verbittet sich seit mehr als 40 Jahren jedwedes Foto. Ein Phantom des Literaturbetriebs, das sogar in Simpsons-Folgen auftritt: mit einer Papiertüte über dem Kopf. Es gibt sogar die Geschichte, die CIA habe ihn Jahre lang beschattet, weil ihr der Foto-Boykott verdächtig vorkam. Eine weitere erzählt, dass Pynchon und der Schriftsteller J.D. Salinger lange Zeit als eine Person galten, weil auch Salinger sich zu einem ähnlichen Zeitpunkt aus der Öffentlichkeit zurückzog. Allerdings weiß man von ihm, wie er aussieht.

Nun. Sollte Pynchon den Preis tatsächlich bekommen, bestünde ja vielleicht die Chance, ihn endlich einmal zu Gesicht zu bekommen. Immerhin würden ihm auf der Verleihung noch ein paar Möglichkeiten bleiben, sein Antlitz vor gierigen Pressefotografen und Fernsehteams zu verbergen. Peter Licht hat es auf dem diesjährigen Bachmann-Preis vorgemacht. Die Kameras durften ihn nicht von vorn filmen, nur seinen Rücken, seinen Text, und was aus der Regie sonst noch so befohlen wurde. Sehen Sie selbst. Und wenn Sie schon mal da sind: Hören Sie auch den Text. Der ist hervorragend.

Was meinen Sie? Wem wünschen Sie den Nobelpreis?

 

Und schon wieder: Kehlmann

Der österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann bekommt den Welt-Literaturpreis 2007 für seinen Roman Die
Vermessung der Welt
. Der Preis wird am 9. November bei einem Festakt im Axel-Springer-Haus in Berlin übergeben. Die Laudatio hält Hellmuth Karasek. Die Jury lobte Kehlmanns Bestseller über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß als „eminent intelligenten, gleichermaßen witzigen und gelehrten Roman“, schrieb die Zeitung Die Welt am Freitag.

Der Preis erinnert an den Publizisten Willy Haas, der 1925 Die literarische Welt gründete. Die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung würdigt ein einzelnes Buch oder ein Gesamtwerk. Zu den Preisträgern gehörten unter anderem Bernhard Schlink, Imre Kertész, Yasmina Reza und Rüdiger Safranski. Kehlmann wurde bereits mit dem Kleist-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Heimito-von-Doderer-Preis geehrt.

Glückwunsch!

 

Jesus auf dem Kiez

An einem freien Tag wie heute hat man Zeit aufzuräumen. Was man dabei aus manchen Kisten zu Tage fördert, ist schon bemerkenswert. In einem Karton voller aussortierter Bücher fand sich ein Büchlein eines Autors namens Dankmar Fischer. Es heißt „Mit Jesus auf der Reeperbahn“ und ist 1978 in der Reihe 28 erschienen, einer Serie, die auf „verschiedene Art und Weise das erstaunliche, oft verblüffende Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen und in das ganz persönliche Leben unserer Mitmenschen“ zeige. Man könne darin „das machtvolle, umgestaltende Handeln Gottes in unserer Zeit“ entdecken. Nun denn. Auf 64 Seiten erzählt der Autor, wie er auf St.Pauli arbeitet und versucht, ins Vergnügungsviertel, in dem es nach Suff und Sünde riecht, den Herrgott einkehren zu lassen. Es beginnt rasant: mit einem U-Bahn-Dialog. Und der geht so:

„Schon in der U-Bahn führte er mich in die Geheimnisse der Großstadt ein, krempelte seinen Ärmel hoch und fragte mich: ‚Weißt du, was das ist?‘ Ich sah nur lauter kleine Wunden und sagte: ‚Nein.‘ Da sagte er ein wenig verheißungsvoll: ‚Ich spritze.‘ Da ich soeben einen Sanitätskurs beim Roten Kreuz beendet hatte, sagte ich mit medizinischem Sachverstand: ‚Ach so, du bist zuckerkrank und spritzt Insulin.‘ Er lachte mich aus, tippte sich mit dem deutschen Autofahrergruß an die Stirn und sagte: ‚Mann, bist du doof! Ich spritze Heroin.‘ Dann faßte er noch nach meiner Hand und meinte: ‚Homosexuell bin ich auch.'“

Puh. Wenige Seiten später ist er in der Herbertstraße, die sündige Bordellstraße, die Frauen nicht betreten dürfen. Er läuft da durch und ist zunächst schockiert: „Links und rechts sitzen die Fleischmassen in den Schaufenstern. Erst ekelte es mich unheimlich.“ Und dann? „Dann durchzuckte es mich: Auch dies sind Menschen, die Jesus liebt, für die er gestorben ist.“
Dann beginnt seine Mission. Wie gesagt, 64 Seiten lang. Er singt, er redet mit Prostituierten, trägt Fahnen mit „Blut und Feuer“ umher und bringt Gottesfurcht und Demut auf die Reeperbahn. „Wir meinen, daß gerade Menschen, die im Vergnügungsviertel untertauchen, unsere Hilfe brauchen.“ Unbedingt. Aber nicht mehr solche Bücher.

Was haben Sie heute gelesen an Ihrem freien Tag? Oder haben Sie auch ein skurriles Buch gefunden, irgendwo beim Aufräumen?

P.S.: Wer das Buch von Dankmar Fischer übrigens haben möchte, der soll sich melden – ich schicke es gerne zu.

 

Morgen feiert Danzig

Am Donnerstag feiert die polnische Stadt mit großem Programm den bevorstehenden 80. Geburtstag ihres berühmten Sohnes Günter Grass. Höhepunkt ist eine Podiumsdiskussion am Donnerstag mit dem deutschen Literaturnobelpreisträger. Daran nehmen auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der ehemalige polnische Arbeiterführer und Präsident Lech Walesa und der polnische Ex-Außenministers Stefan Meller teil. Es geht um die Zukunft der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen nach den Erfahrungen der Vergangenheit. Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren.

Vorgesehen sind außerdem eine Konferenz über Literatur, Kunst und Politik im berühmten Artushof in der Danziger Altstadt, die
Uraufführung eines polnischen Theaterstücks, das auf Grass‘ Roman Die Blechtrommel basiert und ein Jazzkonzert mit zu dieser Gelegenheit komponierten Stücken des Danziger Komponisten Mikolaj Trzaska. Außerdem gibt es zwei Kunstausstellungen mit Werken des Nobelpreisträgers, der neben seiner literarischen Arbeit als bildender Künstler Zeichnungen, Grafiken, Lithographien, Aquarelle und Skulpturen schafft. Unter anderen werden mehr als 50 Grafiken gezeigt, die Grass seiner Heimatstadt geschenkt hat.

Pünktlich zur vorgezogenen Geburtstagsfeier ist die polnische Übersetzung der Grass-Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel erschienen. Das Eingeständnis des Autors, zum Ende des Zweiten Weltkrieges einige Monate bei der Waffen-SS gedient zu haben, bevor der im April 1945 verwundet wurde, hatte im vergangenen Jahr in Polen zunächst für Aufregung und Empörung gesorgt. Einige Stadtväter verlangten, er solle auf die Ehrenbürgerschaft der Hansestadt verzichten. Diese Diskussion wurde jetzt im polnischen Wahlkampf mit seinen stark antideutschen Tönen weitergeführt. So haben die Stadtverordneten der Regierungspartei der Brüder Kaczynski «Recht und Gerechtigkeit» (PIS) demonstrativ die Einladungen zu Veranstaltungen mit Grass abgelehnt. Der Stadtpräsident von Danzig Pawel Adamowicz, der Grass eingeladen hat, gehört zur wichtigsten Oppositionspartei der «Bürgerplattform» (PO).

Grass hatte letztes Jahr in einem Brief an die Stadtverwaltung erklärt, dass er 1944 nicht freiwillig in die Waffen-SS eingetreten,
sondern eingezogen worden sei. Daraufhin veranstalteten die Stadtväter eine Umfrage. Darin erklärten 52 Prozent der Einwohner der Stadt, Grass brauche nicht auf die Ehrenbürgerschaft zu verzichten, 20 Prozent waren der Meinung, man soll ihm die Ehrenbürgerschaft wieder entziehen.

Am 20. Oktober feiert Grass übrigens in Göttingen eine Riesenparty. John Irving kommt, Westernhagen auch. ZEIT online wird erzählen, wie es war.

(mit dpa)

 

Geschnitten, nicht gewonnen

Professor Stephan Füssel ist Leiter des Institus für Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Klingt gut. Aber was macht man da? Wikipedia weiß Bescheid: Ein Buchwissenschaftler erfasst „das Buch in seinen kulturellen, wirtschaftlichen, medialen und technischen Eigenschaften. Neben Betriebswirtschaft integriert die Buchwissenschaft in wechselndem Umfang auch kommunikations-, kulturwissenschaftliche und historisch-philologische Forschungsinhalte. Vereinfachend kann behauptet werden, dass sich Buchwissenschaft mit allen Aspekten beschäftigt, welche mit der Produktion, der Distribution und der Rezeption geistiger Werke zusammenhängen.“ Wahre Kenner des Buchmarkts also. Und die sind zur anstehenden Buchmesse gefragt.

Stephan Füssel sagte nun der dpa, Buchpreise würden fürderhin immer wichtiger, damit Verlage die Bücher loswerden. „Der alleingelassene Kunde möchte gerne so etwas wie eine Empfehlung.“ Gleichwohl weist er darauf hin, dass es mehr deutsche Literaturpreise als Tage gäbe: 394 nämlich. Und nicht alle seien repräsentativ. Die Wirkung hänge davon ab, wie seriös es auf der Verleihung zugehe. Der Deutsche Buchpreis könne zu einer richtigen „Marke“ werden; der bayerischen Corine-Preis hingegen ergehe sich in zuviel „Glamour“ und Fernseh-Tamtam. Das sei schädlich.

Und auch der Ingeborg-Bachmann-Preis habe sich in den vergangenen Jahren zur einer „experimentellen Selbstinszenierung“ entwickelt, sagt Füssel. „Wer dort sitzt und sich vor laufender Kamera einen Schnitt in die Stirn macht, der hat dann eben Erfolge.“ Na! Dass Rainald Goetz sein Subito blutüberströmt in Klagenfurt las, ist 24 Jahre her. Den Preis hat er nicht gewonnen, und seine Bücher sind auch keine Riesenerfolge. Der Wettbewerb des Bachmann-Preises ist das Gegenteil von experimentell: Das Publikum hält bereits den Atem an, wenn ein Autor mal nicht artig auf dem Stuhl sitzt, sondern lieber steht und dann und wann Musik einspielen lässt. Sehr zum Missfallen der Juroren. In den vergangenen Jahren war Klagenfurt eins: viel brav dahin erzählter Realismus und wenig originelle Texte.

Und für die alleingelassenen Kunden noch eine Empfehlung: Lutz Seilers vierzig kilometer nacht. Lyriker und Bachmannpreis-Sieger. Ohne Blut und Rasiermesser.

 

Wurde auch mal Zeit…

83 Jahre nach Franz Kafkas Tod gibt es sein Gesamtwerk erstmals komplett auf Tschechisch. Mit der Veröffentlichung des 13. Bandes mit Schriften und Briefen sei das Projekt endlich vollendet, sagte heute die Franz-Kafka-Gesellschaft in Prag. Bis 1990 wurde Kafka nicht übersetzt, da den Regierungen zuvor Kafkas Visionen zu „reaktionär“ erschienen.
Nach der politischen Wende hatte die Kafka-Gesellschaft mit dem rund 360 000 Euro teuren Projekt begonnen. Leiter war der böhmische Germanist Kurt Krolop, einer der weltweit anerkannten Spezialisten für deutschsprachige Prager Literatur. Mehrere der 13 Bände waren nie zuvor ins Tschechische übertragen worden, andere wurden komplett neu übersetzt. Auch vor der kommunistischen Machtübernahme 1948 war Kafka bei den faschistischen Besatzern des „Protektorats Böhmen und Mähren“ unerwünscht. Viele Germanisten hatten stets geklagt, dass der Autor in Prag zwar als Werbeträger benutzt werde, sein Werk aber weitgehend unbekannt sei. Das ändert sich ja jetzt. Wie schön.
(mit dpa)

 

Blankvers auf Mattscheibe

MTV macht sich auf zu neuen Ufern. Nach schnelllebigen Formaten wie Musikvideos und Kuppelshows entdeckt der Musiksender, etwas, was es schon Jahrhunderte gibt: die Lyrik! Kein Witz. Seit Anfang diesen Monats zeigt MtvU, das Studentenprogramm, 18 Gedichtvideos. Und von wem? Nicht von Justin Timberlake, Christina Aguilera oder Bono, sondern von John Ashbery – ein amerikanischer, vielfach ausgezeichneter Lyriker. Den Pulitzerpreis hat er gewonnen, Preise der MacArthur Gesellschaft und gottweißwas alles. Nun gewann der 80-Jährige auch den ersten MTV-Poesiepreis. Und warum? Zu Werbezwecken!
Denn zugleich schreibt MtvU einen Gedichtwettbewerb aus, an dem sich Studenten amerikanischer Unis beteiligen können. Der Gewinner darf ein Buch beim Verlag HarperCollins veröffentlichen. So greift MTV dem literarischen Nachwuchs unter die Ärmchen. Ashberys kurze Gedichtspots sollen die Studenten wieder auf den Geschmack am Vers bringen. Sein Manager David Kermani sagt dazu, sie hätten Zeilen ausgesucht, die eingängig sind und „irgendwie bedeutungsvoll“. Die jungen Leute mochten Zeilen, die „schlüpfrige Anspielungen“ hatten. Dann passts ja zum Großteil der Musikvideos.

Wollen wir sowas auch in Deutschland? Ich finde, ja. Friederike Mayröcker liest in den Werbepausen von „Wer wird Millionär?“, Verse von Günter Eich als Klingelton, und Durs Grünbein bekommt seine eigene Sendung auf VIVA. Und zum Schluss das große Samstagabendformat „Germanys next Top-Poet“, moderiert von Marcel Reich-Ranicki.

 

Gebildet wohnen

Manche Menschen kaufen sich Bücher nicht zum Lesen, sondern zum Hinstellen. Zum Beispiel das Gesamtwerk von Karl Kraus, den in rotes Leinen gebundene Germanistenporsche. Sieht im Billy-Regal gut aus, schindet Eindruck, aber ganz durchlesen? Im Ernst, die wenigen Zitate, die man kennt, sind doch eigentlich aus einer Aphorismensammlung Kraus für Gestresste. Auch Heimwerkerfernsehsendungen raten öfter zum Buch als tolle Deko-Idee, das dann sparsam arrangiert im neuen Wohnzimmer sein Dasein fristet auf selbstgezimmerten Regalen und, ja, verstaubt. Einen guten Einfall hatten ein paar Studenten der University of Stanford: Alte Bücher schichteten sie auf, und heraus kam eine Bar.
Die Idee ist nicht neu, gar Designer wie Werner Aisslinger entwarfen schon Möbelstücke, die das Wort „Bücherregal“ wahrlich verdienen. Feststellen lässt sich Folgendes:
Bücher schmücken Zimmer, Bildung schmückt Menschen. Bildung kann man vortäuschen. Bücher jetzt auch! Eine Tapete macht’s möglich.
Auch für den, der es etwas antiquarischer mag. Tolle Sache.

 

Wie konnten wir sie nur verpassen?

Das fragt der englische Observer und ließ fünfzig Schriftsteller in den vergessenen Schätzen der Literatur buddeln – und sie zogen Bücher hervor, die sie für unterschätzt, lesenswert oder schlicht großartig halten. Hans Falladas Trinker ist dabei, auch Hunger von Knut Hamsun. Die ganze Liste finden Sie hier. Vielleicht entdecken Sie ja auch noch was…