Lesezeichen
 

Schlafen mit Büchern

Der österreichische Aktionskünstler André Heller kann abends nur einschlafen, wenn er vorher zwei Stunden gelesen hat.
Lesen sei seine Hauptleidenschaft, sagte er am Dienstag in der Aufzeichnung der ZDF-Sendung Lesen! mit Elke Heidenreich. Bücher seien für ihn die Rettung in dem Jesuiteninternat gewesen, in dem er einen Teil seiner Kindheit verbracht habe. In dem Schlafsaal mit 80 Jungen sei alles Private verboten gewesen, sogar ein Bild der Mutter. Man habe aber Bücher lesen dürfen. Und das geht bei Heller so:

„Ich hab mir’s so übers Gesicht gelegt und hatte dadurch ein Haus, eine Schutzhütte.“

Sein Lieblingsbuch war und ist der Roman Radetzkymarsch von Joseph Roth. „Das war mein Karl May, so als Zwölfjähriger“, sagte Heller. „Ein Buch der Nuancen, eine Raserei der Zwischentöne. Es geht einem nach diesem Buch in jedem Fall besser als vorher.“

Wenn Sie nicht einschlafen können, legen Sie sich einfach auch ein Buch aufs Gesicht, am besten ein richtig schweres. Krieg und Frieden zum Beispiel. Oder Voltaires Briefwechsel mit Friedrich dem Großen. Da kommt kein Licht mehr durch und die Augen bleiben zu. Gute Nacht.

 

Wenn Henker kommt

Am 22.10 ist der Welttag des Stotterns. In der Literatur ein sehr seltenes Thema. Romanhelden sind oft mit allerlei Widrigkeiten versehen: Schwindsucht, Drogensucht, dicke Füße, Magenproblemen, hartem Husten oder auch Lähmungen, aber Stottern tun sie fast nie. Es ist ja auch schwer die Ladehemmung beim Sprechen textlich darzustellen. Meistens in plumpen Konsonantenwiederholungen, ja, aber wirkt das nicht ein bisschen billig? Unlängst erschien ein Roman des Briten David Mitchell, der einen Stotterer zur Hauptfigur hat. Der dreizehnte Monat heißt das Buch und es ist nicht nur ein wunderbarer Adoleszenzroman, sondern er schildert auch mit sehr viel Witz und Einfallsreichtum, wie sich Stottern anfühlt und welche alltäglichen Probleme es einem Stotterer bereiten kann:

„Das N kam ganz normal, aber je mehr ich versuchte, den Rest mit Gewalt herauszupressen, desto enger Zog sich die Schlinge um meinen Hals. (…) Wenn Stotterer stottern, quellen ihre Augäpfel vor, sie zittern vor Anstrengung und laufen knallrot an wie zwei gleich starke Armdrücker, und ihr Mund geht auf und zu wie ein Fisch im Netz.“

Der Erzähler Jason gibt seinem Stottern einen Namen: Henker. Und der bereitet ihm arge Schwierigkeiten.

„Zwanzig Millionen Wörter beginnen auf N oder S. Abgesehen davon, dass die Russen einen Atomkrieg anfangen, ist meine größte Angst, dass Henker sein Interesse für Wörter auf J entdeckt, denn dann kann ich nicht mal mehr meinen Namen sagen. Ich müsste eine Namensänderung beantragen, aber das würde Dad nie im Leben erlauben.“

Abgesehen davon liefert der Roman die wohl schönste Beschreibung eines verbogenen Fahrrads, die ich je gelesen hab: „Das Fahrrad sah aus, als hätte Uri Geller es zu Tode gefoltert.“

 

Carvers längerer Atem

Raymond Carver war ein Meister der amerikanischen Kurzgeschichte. Einer, der den minimalistischen Stil, die Auslassung wie kaum ein anderer beherrschte und zunehmend auch deutschsprachige Autoren beeinflusste. Wie Peter Stamm oder Judith Hermann. Nun berichtet die New York Times, der kurzatmige Stil Carvers sei das Werk seines Lektors, der die Geschichten radikal verknappte. War der lakonische Raymond Carver in Wahrheit ein geschwätziger Autor?
Jedenfalls will seine Witwe Tess Gallagher 17 Geschichten ihres 1988 verstorbenen Mannes neu herausgeben. Nicht lektoriert und weitaus länger als die bereits erschienenen Versionen. Wir werden dann ja sehen…

 

Oweia, Deutschland

Mehr als ein Fünftel der Deutschen hat in diesem Jahr noch kein Buch gelesen. In einer repräsentativen Umfrage von TNS Emnid für die Bild am Sonntag verneinten 22 Prozent der Befragten die Frage, ob sie in diesem Jahr schon ein Buch gelesen haben. Von den Frauen waren es nur 16 Prozent, von den Männern dagegen sogar 28 Prozent. Auch an den Schulen wird nicht durchgängig gelesen: Acht Prozent aller Schüler gaben an, 2007 noch kein Buch gelesen zu haben. Das berichtet AFP.

Was macht dieses Fünftel in ihren freien Stunden? Nur Fernsehen? Feiern? Die Decke anstarren?

Und was kann man dagegen machen? Bücher verschenken? Kostenlose Vorlesestunden im Gemeindesaal? Auswandern? Hilfe.

 

Ein letztes Mal: Buchmesse

Ich habe Listen gemacht. So heißt ein Kapitel in Sasa Stanisics wunderbarem Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert. Ich habe auch Listen gemacht. Auf der Buchmesse. Wenn man ein paar Tage da herumläuft und zählt, kommt einiges zusammen. Das will ich Ihnen nicht vorenthalten:

Visitenkarten bekommen: 27
Visitenkarten vergeben: 0
Werbetüten abgestaubt: 13
Werbetüten wieder liegengelassen: 11
Prospekte mitgenommen: 86
Prospekte wieder weggeschmissen: 77
Hände geschüttelt: 49
Prominente gesehen: 30
Prominente aus Versehen umgerannt: 3
Prominente absichtlich umgerannt: Ich bitte Sie!
Bücher gekauft: 9
Bücher, die man noch gern gekauft hätte: Wer zählt sowas!
Signierstunden besucht: 1 (Richard Ford)
Schönste Entdeckung: David Blackbourn Die Eroberung der Natur (DVA)
Gruseligste Entdeckung: Hugo Müller-Voggs Gespräche mit Hartmut Mehdorn
Schönster Verlagsstand: Luchterhand
Hässlichster Verlagstand: BoD
Beste Kekse: Beim Zu Klampen! Verlag
Nervigstes Standpersonal: Focus
Nettestes Standpersonal: Klett Cotta, KiWi
Langweiligster Vortrag: Klaus Wowereit
Angenehmster Vortrag: Martin Mosebach

Toll auch, dass man so viele Literaturzeitungen geschenkt bekommt. In einer fand ich gleich ein sehr hübsches, nicht ganz ernstes Gedicht übers Lesen. Es stammt von Stephan Turowski und geht so:

„Komm zu mir nachhause,
ich bin über achtzehn und vollschlank,
Ich lese gerne bei Kerzenlicht,
dann kann ich die Bücher gleich anzünden.“

(Aus: Stephan Turowski Und jetzt bist du nackt Gedichte. Edition Azur, Leipzig 2006)

 

Mit Vollkornbuch im Schrebergarten

Eine Frage zur Messe wurde hier noch gar nicht beantwortet: Kann man da eigentlich was essen? Man kann! Ob man sollte, ist eine andere Frage. In den Gängen zwischen den Hallen quetschen sich kleine Buden. Da gibt’s Würstchen, da drüben Eis. Woanders steht eine Frau einsam an einem Brezelstand und serviert das Backwerk mit bemerkenswerter Achtlosigkeit. Eine Schlange steht vor dem Champagner-Stand und trinkt ein Gläschen für 16 Euro. Und draußen geht’s weiter. Imbissbuden. Rindswurst im Brötchen. Schmeckt nicht, wie es klingt. Schmeckt schlimmer. Inmitten der Besucher spazieren Edmund Stoiber und Angela Merkel vorüber. Nicht die echten. Mit Gummiköpfen bahnen sie sich ihren Weg, albern herum und kaum jemand lacht. „Muss warm sein unter der Maske“, sagt eine Besucherin gestrengen Blicks. „Naja, selbst schuld“, entgegnet eine andere.

Ein paar Meter weiter auf einem großen Platz befindet sich eine Ruhezone. Im Schatten überdimensionaler Brockhaus-Bände sitzen Heerscharen von Gästen und schnaufen kurz durch, ehe sie drinnen wieder die Neuerscheinungen inspizieren, Händeschütteln oder ihr Namensschild herumzeigen. Ein ungeheueres Sprachengewirr. Chinesisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Spanisch, Spanisch. Katalonien ist Ehrengast der Messe. Ein paar katalanische Journalistinnen rennen um die bunten aufgeblasenen Lexika und fragen herum, ob die Ausstellung die Kultur ihres Landes gut repräsentiere. Die wenigsten machen mit. Wollen lieber rauchen, lesen oder kauen.

Drinnen wird weiter gewuselt und gedrängelt. In Halle 3 hat Dr.Oetker einen Stand. Essen kann man da nichts, kochen lernen schon. Gegenüber steht die Vollkornbrot-Literatur von Hanser und Luchterhand. Pompöse Stände. Die kleinen Verlage hingegen stehen zum Teil auf handtuchgroßen Plätzen, ein bisschen wie ein Schrebergarten, in denen jeder seine Gewächse pflegt und sorgsam zur Schau stellt. Nur die Gartenzwerge fehlen. Autoren lesen in Nischen vor ein paar Versprengten, die unruhig ihre Hälse verdrehen, weil ja jemand bekanntes vorbei laufen könnte. Dort der Fischer, hier der Matussek und da drüben, „ist das nicht der Dingsbums, weißt schon, der Die Vermessung der Welt geschrieben hat.“

Weiter weg, im gehobenen gastronomischen Bereich des Restaurants „Aubergine“ schnarren die Gesprächsfetzen der Verleger und Agenten. „Spitzentitel“ sollen rangeschafft, „Zugpferde“ präsentiert und der „Break-Even“ erreicht werden. Englische Literatur mache ja inzwischen jeder, lieber italienische Sachen, literarische Krimis, gern auch historisch, so richtige Schmöker halt, aber mit Anspruch und kommerziell, ja klar, „man hat ja nur wenige Slots“, „hier meine Karte“. Ein kurzes Weh und Ach über die Auflagen noch, dann werden die Nudeln serviert.

 

Endlich! Der Nobelpreis!

„Blauschielend der Himmel“, würde Friederike Mayröcker dichten. Das Radio sagt dazu: gutes Wetter. Aber das ist ja egal. Ist ja Buchmesse. Ist ja drinnen. Und ist schwülwarm und anstrengend. Menschen tragen Papptaschen rum, schieben und stoßen sich durch die Gänge. An vielen Buchständen zeigt sich gegen Mittag eine gewisse Spannung: Der Literaturnobelpreisträger wird gleich bekannt gegeben. Ein bisschen Weltmeisterschaftsgefühl. Beim Hanser-Verlag steht schon das ZDF, eine Journalistin hakt Fragen auf einem Zettel ab, der Kameramann entsichert sein Geschütz. Das Verlags-Personal ist vorbereitet und ist sich schon ein wenig sicher. Phillip Roth gilt seit Jahren als sicherer Preisträger. Immer wieder tauchte sein Name in den Spekulationen auf. Ein wenig der Martin Walser der amerikanischen Literatur. Wenn man böse wäre. Falls er gewinnt, wird die Buchwand umdekoriert. Dann heißt es Roth, Roth, Roth – solange das Fernsehen herumsteht. Der Sekt ist auch schon kalt. Sicher ist sicher.

Weniger Stress am Rowohlt-Stand. Mit Thomas Pynchon rechnet hier kaum jemand. Seine Bücher sind in den Regalen kaum zu finden. Ein anderer Kandidat lächelt an den Wänden S.Fischers herab. Aber auch er, Richard Ford, scheint nicht ernsthaft in Erwägung zu kommen. Auch der Verlag glaubt offenbar nicht dran. Oder ist er nur bescheiden?

Ein Stockwerk höher, mal wieder am Focus-Stand, lässt sich der Schauspieler Walter Sittler mit ein paar Gästen fotografieren, dann passiert’s, das Geraune beginnt: Ko Un? Nein. Pynchon? Neinnein! DeLillo? Neinneinnein! Oder Roth? N-E-I-N! Sondern die englische Schriftstellerin Doris Lessing! „Ach echt?“, sagt eine Besucherin. „Was hat’n die geschrieben?“ Das steht alles bei Hoffmann und Campe in Halle 3. Die Presse setzt sich in Bewegung. Man wird mitgeschoben, mitgezerrt, fast rennt man Alexa Hennig von Lange auf der Rolltreppe um, fegt vorbei an Roger Willemsen, und natürlich ist man nicht der Erste am Stand. Der Champagner in den Gläsern ist schon fast leer, Kameras blitzen, Videokameras halten auf das Stoffplakat der Schriftstellerin, die darauf gütig lächelt. Ihr jüngster Roman Die Kluft wird nachgelegt, das Regal muss voll. Verlagsangestellte Bettina von Sallwitz schüttelt Hände. „Na klar haben wir damit gerechnet“, scherzt sie. „Aber eigentlich ist sie ja seit einigen Jahren immer auf der Liste.“ Da sei man nicht allzu überrascht. Noch vor einer Woche hätten sie Doris Lessing getroffen, in Hamburgs Thalia-Theater. „Wer weiß, ob man dieser Frau noch einmal so begegnen kann.“ Schließlich ist Lessing 87.
Ein paar Studenten wurden vom Trubel angezogen. Sandra aus Bielefeld und Diane aus Stuttgart.
„Kennt ihr Doris Lessing?“
„Lessing, Lessing“, sagt Sandra und grübelt, „ist das nicht Nathan der Weise?“
„Nein“, sagt Diane, „die hat doch dieses Katzenbuch geschrieben.“

Das Journalistengedrängel wird weniger. „Hab alles!“, ruft einer, wischt sich die Stirn und klatscht in die Hände. Soviel Klischee muss sein. Außerdem locken die nächsten Bücherwände und die nächsten Schriftsteller. Ein paar Werbetaschen gibt’s sicher auch noch irgendwo. Ist ja Frankfurt. Ist ja Messe.

 

Kekse essen mit Christa Wolf

„Ey, geil!“ Vor einer Glasvitrine drängeln sich elf Schuljungen und stehen etwas umständlich im Gang herum. Der Gang zu Halle 3, die Kalenderabteilung. In den Auslagen stehen Kalender von Schiffen, Pandabären und, darum das „geil“, russische Mädchenkalender. Also mit Mädchen drauf, aber eher für Männer. Nude in Russia. Teil eins bis sieben. Träume schlafloser Schülernächte, der Albtraum der begleitenden Lehrerin: „Los, kommt schon! Wir sind hier, um echte Bücher anzugucken. Bücher! Und nicht so einen Schrott.“ „Haha“, macht ein Schüler, trottet aber dann mit seinen Kameraden der Lehrkraft hinterher. Rein ins Geschiebe.

Warm ist es, die Klimaanlagen blasen trockene Luft in die Hallen. Die zwei jungen Männer, die als Langenscheidt-Wörterbuch verkleidet Handzettel verteilen, sind nicht zu beneiden. Wer auf die Frankfurter Buchmesse geht, ohne Plan, ohne eigenes Programm, sondern nur darauf hofft, sich inspirieren zu lassen, der hat ein Problem. Es ist unübersichtlich! Überall locken Verlage mit überdimensionalen Postern ihrer Autoren: Da schaut Christa Wolf schwarz-weiß und matt auf einen herunter, ein paar Meter weiter Juli Zeh. Wer nicht weiß, wohin mit sich, kann in den dicken Broschüren nachgucken. In ihnen steht jeder Stand, jede Veranstaltung und sie riechen modrig wie ein Telefonbuch. Überall mikrofonverstärkte Stimmen. Wolfgang Clement redet am Focus-Stand über Bildung. Das Nachrichtenmagazin hat seinen Stellplatz ganz dem Thema gewidmet, dort stehen ein kleiner Hörsaal und ein paar Schulbänke. Manche sitzen sogar drauf. Davor schwadronieren Mädchen in engen roten T-Shirts und noch engeren schwarzen Hosen und versuchen Abos und Infos loszuwerden. In Lauf- und Hörweite bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung krächzt Joschka Fischer von Außenpolitik und Altersmildheit, und eine im Publikumshalbkreis sagt zu ihrem Begleiter: „Lass uns mal zu Suhrkamp, da waren die Kekse so gut.“

Vorher aber noch zu Pendo. Beim Stand ist das Gedränge nicht so groß, obschon Eva Herman ihr Arche-Noah-Prinzip dort veröffentlichte. Oder vielleicht auch deshalb. Eine Besucherin packt die Neugier: „Kommt Frau Herman auch an den Stand?“ Ihre Stimme klingt freudig aufgeregt oder aggressiv, das ist ab einer gewissen Tonlage ja nicht mehr zu unterscheiden. Die Dame am Stand schüttelt den Kopf. „Da hätten Sie gestern Kerner gucken müssen“, antwortet sie routiniert beflissen. Dann geht sie in die Mittagspause. Raus an die herrliche Oktoberluft.

P.S.: Die besten Kekse gibt’s beim ZuKlampen!-Verlag, Halle 4, Gang F, Stand 131. Falls Sie noch vorbeischauen wollen.

 

Mehdorn dichtet

Von den Machenschaften der Bahn bleibt man ja nicht verschont. Erst das endlose Gestreike der Lokführer, dann auf dem Weg zur Buchmesse kein Service im Bordbistro und jetzt auch noch das: Der Journalist Hugo Müller-Vogg sprach nicht nur mit Hartmut Mehdorn, nein, er macht ein Buch daraus! Es erschien gestern, trägt den passenden Namen Diplomat wollte ich nie werden und erscheint bei Hoffmann und Campe. Müller-Vogg ist ehemaliger Herausgeber der FAZ und schrieb in den vergangenen Jahren schon zwei ähnliche Begegnungsbücher. Eins über Angela Merkel und noch eins über Horst Köhler. Nun also Mehdorn. Anne Seith hat’s für Spiegel online schon gelesen. Und, gnade uns Gott, sie findet es ganz gut.

Die ersten 90 Seiten seien langweilig, schreibt Seith. Da frage sich Müller-Vogg durch die Kindheit des Bahnchefs, und heraus kommen Sätze, die einem Robin Hood zur Ehre gereichten: „Ich habe mich auf dem Schulhof für die Schwächeren geprügelt.“ Mit seiner Körpergröße sei „Macher“ Mehdorn sehr zufrieden. 1,70 m, „Astronautenmaß“. Habe der Leser das alles überstanden, werde das Buch spannend. Dann trete der „typische Mehdorn“ zu Tage. Doch auch seine heitere, träumerische Seite. Zuweilen wird’s gar discount-poetisch, spricht Mehdorn über den geplanten Börsengang des Unternehmens: „Mutter und Baby müssen sich trennen. Der Börsengang ist der Schnitt in die Nabelschnur.“ „Sehr lebhaft“, findet das Anne Seith. Vielleicht lesen wir ja fürderhin ein Paar Zeilchen Mehdornscher Poesie auf den Gleisanzeigen, gleich hinter dem Hinweis „Die Abfahrt des Zuges verzögert sich um unbestimmte Zeit“.

Und wer ist danach dran? Mehr Manager, mehr Macher, mehr Player – so nennt Hugo Müller-Vogg diese Leute. Josef Ackermann vielleicht? Ich hätte dafür schon einen Namen: „Gespräche mit Ackermann“. Goethe möge mir diesen Kalauer verzeihen.

 

Die Kaiser haben’s gesehen

Frankfurt, Montag, kurz vor sechs, Kaisersaal im Römer. Von oben flimmern wuchtige Kronleuchter, von den Seiten blicken in Öl gemalte deutsche Kaiser auf das Treiben im Prunkzimmer. Friedrich, Wilhelm, Karl der Große. Was sie sehen: Männer in schwarzen Anzügen, Frauen in Hosenanzügen und dunklen Kleidern klimpern mit Perlenketten, Kellnerinnen tragen Sekt herum und das Fernsehen ist auch schon da. Verleger, Journalisten und die Autoren natürlich. Nur geladene Gäste. Großer Betriebsnudelauflauf. Und alle warten nur auf eins: den wichtigsten Roman des Jahres. Die Verleihung des Deutsche Buchpreises. Er soll als größter deutscher Literaturpreis etabliert werden, verliehen vom Börsenverein des deutschen Buchhandels, mit 25.000 Euro dotiert.

Eine siebenköpfige Jury nahm sich sechs deutschsprachige Romane zur Brust, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das bin doch ich zum Beispiel – Thomas Glavinics humorvolle Betrachtung des Literaturbetriebs, oder Julia Francks Die Mittagsfrau, ein poetischer Familienroman zwischen den zwei Weltkriegen. Liebesromane gab’s auch: Martin Mosebachs Der Mond und das Mädchen und Böse Schafe von Katja Lange-Müller. Das einzige Debüt auf der Liste, die auch beim deutschen Buchpreis „Shortlist“ heißen muss, war Thomas von Steinaeckers Wallner beginnt zu fliegen. Zuletzt noch Michael Köhlmeyers Abendland.

Handys aus! Die Reden. Petra Roth, die Bürgermeisterin Frankfurts, beginnt, zitiert Goethe und alle klatschen, wegen Frankfurt und Goethe. Eine Frau platzt mit Sektglas hinein in den Saal, in die Stille und wird freundlich herausgeschickt. „Lassen Sie den Sekt bitte draußen, ja?“ Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins, ist der nächste am Pult. Nimmermüde betont er, die Verlage hätten keinen Einfluss auf die Auswahl der Bücher, nein, die Jury sei unabhängig und resistent gegen allerlei Anfragen oder gar Lenkung von außen. Eine Dame flüstert leise, aber so dass man es drei Reihen weiter noch hören kann: „Aber dreimal Hanser Verlag ist schon komisch“, und ein paar nicken. Honnefelder hofft, dass der Preis den Buchverkauf ankurble, alle sechs Bücher Bestseller würden, gerade zum Weihnachtsgeschäft. Das Schriftsteller-Dasein fasst er so zusammen: Papier, ein Laptop, Ruhe und vielleicht mal ein Glas Wein.

Jury-Vorsitzende Felicitas von Lovenberg sagt auch noch einmal, wie unabhängig die Jury sei. Warum sich alle Redner bemüßigen, das wieder und wieder zu erklären, weiß keiner. Ist ja auch egal. Videos laufen an. Kurzporträts der einzelnen Autoren, die ersten Sätze der Bücher, dann noch ein paar warme Worte eines Juroren. Katja Lange-Müllers Porträt erntet Beifall und Gelächter. Sie sitzt im Video am Küchentisch, schnippelt Bohnen in eine Schale und erzählt, dass Kochen und Schreiben eigentlich nicht viel gemeinsam hätten, aber irgendwie doch.

Und? Wer isses? Julia Franck! Sichtlich überrascht steht sie am Pult. Damit habe sie nicht gerechnet, sagt sie mit wackliger Stimme. In der Tat: Favoritin war sie nicht. Eher Lange-Müller oder der Frankfurter Mosebach. Wäre ja sein Heimspiel gewesen. Umso schöner, dass Franck ihn gewinnt und ihre Dankesrede kurz hält: Verleger, Lektor, ersten Leser, alle Leser, danke, tschüss. Sie vergisst sogar die Urkunde auf dem Pult, so eilig stürzt sie wieder vom Podium. Ein älterer Herr sagt zu seiner Begleiterin: „Also, ich hab ja nur den Mosebach versucht, aber der erste Satz von dieser jungen Dame“, er zeigt dorthin, wo eben noch Julia Franck gestanden hat, „der hat mich sofort überzeugt.“

Hier ist er: „Auf dem Fensterbrett stand eine Möwe, sie schrie, es klang, als habe sie die Ostsee im Hals, hoch, die Schaumkronen ihrer Wellen, spitz, die Farbe des Himmels, ihr Ruf verhallte über dem Königsplatz, still war es da, wo jetzt das Theater in Trümmern lag.“