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Ach, diese Poesie!

Hamburg hat bekanntlich den Hafen. Das ist sehr schön: Es gibt viel Wasser und man hat immer ein Ausflugsziel, wenn Besuch kommt. Fisch essen kann man auch prima. Aber gnade uns Gott, es wird Abend! Die Sonne geht unter, die Schiffe werden zu Schatten und manche Zuschauer gleich sentimental:

„Das hat so eine Poesie“, seufzen sie dann.
„Ja“ (dramatische, wenn nicht poetische Pause) „Das stimmt“, seufzt es oft zurück.

Nicht selten liegen bald Köpfe auf Schultern. Häufiger jedoch zückt manch einer den Fotoapparat und hält diesen Moment fest, auf dass dieser fortan in der Wohngemeinschaftsküche hänge, bis die Poesie durch stetigen Nudeldampf langsam abblättert.

In meiner Studienzeit war es nicht der Hafen – es waren Industrieanlagen. Kaum eine Fotostudentenausstellung, die nicht vollgehängt war mit schwarz-weißen Bildern verfallener Fabriken, Gewebehöfe, Schornsteine, Lagerhäuser, Silos, Kühltürme, tralala. Angekündigt wurden diese Ereignisse zumeist mit: „Bilder voller Poesie.“

Alltägliche Erlebnisse stellen manche vor erhebliche Wortfindungsstörungen. Eine wehende Plastiktüte kann das sein oder ein stiller Augenblick im Park. Es geht um eine Ästhetik des Moments, vor dem der Betrachter hilflos steht und glaubt, bloß ein Gedicht könne erahnbar machen, was das Besondere daran sei. Da werden viele sentimental und verwechseln das mit Poesie, was eigentlich Kitsch heißen sollte. Ein Foto einer Industriebrache hat wenig poetisches, es ist platt, plump und verbindet ein simples Gefühl mit einem noch simpleren Ausdruck. Ein Gedicht braucht man dafür nicht.

Wohl aber Dichtung! Das geht mit Häusern nämlich ganz gut, nach Einsatz von Wärmekameras und hernach viel Dämmwolle. Aber bitte nicht zu dicht, sonst schimmelt’s. Wer beim Anblick von Gebäuden an Dichtung denkt, ist also hoffentlich Klempner, Glaser oder Bauingenieur. Wenn nicht, möge er die Dichtung woanders suchen. In einem Hölderlinvers zum Beispiel.

 

Toll, Herr Kirchhoff

Beziehungsweise: Toll, dpa! Nicht nur, dass Herr Kirchhoff euch das mitteilt, ihr müsst es auch noch aufschreiben:

„Schriftsteller Bodo Kirchhoff, als «Workaholic» der Arbeit verfallen, sucht Ausgleich beim Rasenmähen im Garten. «Man muss null nachdenken. Und man macht einfach etwas stur und sieht am Ende ein Ergebnis. Das ist schön», sagte der Frankfurter Autor («Infanta», Parlando») der dpa. Kirchhoff, der in Frankfurt am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs ist, hat nach eigenen Worten auch ein Faible für «unvernünftige Dinge» wie PS-starke Autos. «Dass mir schnelle Dinge keine Freude machen, das wäre gelogen», sagte Kirchhoff.“

Ich habe keinen Garten, fahre ungern Fahrrad, und mein erstes und einziges Auto war ein bordeauxfarbener Nissan Micra mit sagenhaften 42 PS. Wen das interessiert? Keinen. Eben.

 

Endlich: objektive Literaturkritik!

Immer ein Riesenstreit: Jemand bespricht ein Buch, einen Text, irgendein literarisches Erzeugnis – und plötzlich ist das Geschrei groß: „Wieeee?“, „Warum?“, „Ich find das doch total gut!“, „Ihr blöden Kritiker“, usw. Kritiker sind Menschen. Aber könnten Maschinen es besser? Beim diesjährigen Bachmann-Preis gab’s zum ersten Mal einen automatisch generierten Literaturpreis anhand fester Kriterien: den Preis der Riesenmaschine. Gewonnen hat diesen Preis Tilman Rammstedt, der ja auch den Hauptpreis bekam. Sehen Sie hier den Kriterienkatalog der Maschine. (LA heißt Lastenausgleich)

 

Keine Zeit? Lesen Sie Twitterstorys!

Twitter kennen ja inzwischen die meisten. Diese feine Internetplattform für 140 Buchstaben persönliche Gedanken. Dass dieses Portal man eine Literaturform begründen würde, war irgendwie auch abzusehen. Herauskommen dann gaaaaaanz kurze Geschichten. Bevor jetzt einige die Nase rümpfen: In den USA gab es einen ersten Wettbewerb. Die Resultate sind teilweise sehr interessant. Da klopft die Frage an, ob wir es hier nicht mal versuchen sollen? Haben Sie Lust und 140 Buchstaben Zeit für eine Geschichte? Wenn ja, schicken Sie sie mir!

 

Was les ich zur EM?

Da kommt man zurück nach Deutschland, hat seine Urlaubstasche noch gar nicht richtig ausgepackt – schon begegnet einem der Fußballwahnsinn! Menschen laufen bei knapp dreißig Grad in Polyesterhemdchen rum, Fähnchen wehen an Autos, Kneipen bauen Leinwände auf, und die Freunde haben keine Zeit mehr und reden von Mannschaftsaufstellungen, Torwartproblemchen, Bierkaltstellen und der Frisur von Bastian Schweinsteiger. Ja, es ist EM, ja, darüber muss man reden. Etwa so: Plötzlich erzählt mir ein Bekannter, er begeistere sich nun für Rumänien, allein, weil er den Stürmer Adrian Mutu so toll findet. Jetzt wolle er da auch mal hin, Bukarest sehen, das kleine Paris. So einfach geht das? Und: Geht das auch mit Büchern? Daher empfehle ich jetzt mal was. Für jedes EM-Team ein Buch aus ihrem Land, das Sie dann lesen können, wenn spielfrei ist. Und los geht’s:

Gruppe A:
Peter Stamm, Blitzeis (Schweiz)
Karel Čapek, Der Krieg mit den Molchen (Tschechien)
José Saramago, Das Todesjahr des Ricardo Reis (Portugal)
Orhan Pamuk, Rot ist mein Name (Türkei)

Gruppe B:
Dorota Maslowska, Schneeweiß und Russenrot (Polen)
Clemens Meyer, Als wir träumten (Deutschland)
Franz Grillparzer, Der arme Spielmann (Österreich)
Roman Simić, In was wir uns verlieben (Kroatien)

Gruppe C:
Mircea Cartarescu, Die Wissenden (Rumänien)
Cees Nooteboom, Allerseelen (Niederlande)
Louis-Ferdinand Celine, Reise ans Ende der Nacht (Frankreich)
Und weil Italien es leicht haben wird, ins Finale zu kommen, gibt’s etwas schweres zu lesen: Dante, Die göttliche Komödie – naja, vielleicht doch besser Italo Calvinos Der Ritter, den es nicht gab

Gruppe D:
Vladimir Sorokin, Die Schlange (Russland)
Stig Larsson, Die Autisten (Schweden)
Berta Marsé, Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte (Spanien)
Aischylos, Orestie (Griechenland)

Viel Spaß und frohes Fußballgucken.

 

Literatur für Partys

Neulich sagte eine sehr gute Freundin, ich hätte ihr gegenüber einen sozialen Vorteil, da ich Literaturwissenschaft studiert habe und sie Biochemie. Denn über Literatur könne man überall reden. Auch und besonders auf Partys. Ihr Studium helfe ihr da bloß, falls jemand wissen wolle, wie er den Kater am nächsten Tag wegbekomme. Somit sei allen Biochemikern, Maschinenbauern, Physikern und Juristen diese kurze Party-Literatur-Smalltalk-Anleitung gegeben. (Die Bücher sollten Sie gelesen haben, ist aber auch nicht schlimm, wenn nicht)

Zunächst: Reden Sie nie über Handke! Daran gingen schon Freundschaften zu Bruch. Sagen Sie höchstens: „Sein Frühwerk gefällt mir ganz gut, schade nur, dass er da noch so viel von Kafka geklaut hat.“ Wenn Sie auf Krawall aus sind, schieben Sie nach: „Ich finde es ganz bemerkenswert, dass er seinen Milosevic-Fimmel aus seiner Literatur heraushält.“

Aber besser nicht Handke. Reden Sie lieber über Süßkind! Sagen Sie, wie mittelmäßig Ihnen Das Parfüm gefallen hat im Vergleich zu Die Taube, die ja viel weniger kennen. Da können Sie auch wieder den Kafka-Satz anbringen, denn auf die Taube trifft das auch zu. Beklagen Sie danach den Zustand der deutschen Literatur. Sagen Sie, dieses ganze brave realistische Erzählen sei mutlos und langweilig. Loben Sie Clemens Meyer als eine Ausnahme. Sagen Sie, er sei sehr amerikanisch, mehr wie Hemingway. Das ermöglicht den Schlenker zu amerikanischen Kurzgeschichten. Zeigen Sie sich begeistert von T.C. Boyles ersten Sätzen (Wenn möglich zitieren. Notfalls gehen Sie vorher in die Buchhandlung und schreiben einen ab.). Bejubeln Sie dann Raymond Carvers Kurzatmigkeit. Wenn Ihnen immer noch zu wenige Leute staunen, sagen Sie, dass Carver heute hierzulande durchaus seine Epigonen hat: Peter Stamm oder Judith Hermann etwa. Aber bei WEIIIIITEM nicht so gut. Trinkpause.

Gerne können Sie auch Namen osteuropäischer Autoren einstreuen. Milena Oda, Jagoda Marinic, Alek Popov. In deren Prosa stecke eine Energie… Schnalzen Sie mit der Zunge, breiten Sie die Hände aus und nehmen noch einen Schluck.

Seufzen Sie dann und erinnern sich an Brecht! Der hatte noch was zu sagen, sagen Sie. Außerdem finden sich da immer genügend Zuhörer, den hat ja jeder in der Schule gelesen. Fangen Sie seicht an und bemerken Sie, dass der Gute Mensch von Szechaun aus der neunten Klasse immer noch wie eingebrannt sei. Falls Ihnen jemand widerspricht und Sie schon angeheitert sind, lassen Sie den Peter Gauweiler raus: Brechts „Kleines Organon vermittelt darüber hinaus die Diktion, welche man braucht, um im Deutschland von heute als kritischer Mensch zu gelten.“ Kommt bestimmt super an.

Wenn man dann von Schule und Brecht fast unvermeidlich zu Hesse kommt, bügeln Sie jeden Beitrag sofort ab: „Hesse? Pah! Viel zu barock!“ Sagen Sie, nur den Steppenwolf hätten Sie mit Gewinn gelesen. Ansonsten nerve Sie das Kalenderspruchartige seiner Lyrik, seine Romane seien viel zu blumig, und seine Aquarelle könnte man in jedes Sparkassen-Foyer hängen. In neun von zehn Fällen kommt jetzt ein anderer deutschsprachiger Nobelpreisträger. Zu Grass passt zwischen Bier und nächstem Bier ein Satz: „Die Blechtrommel gut, die restlichen Romane aber zu betulich, seine Lyrik hingegen, hach ja, völlig unterschätzt!“

Kommen Sie dann rasch zu Arno Schmidt, bevor dieser ganze Flakhelferkram Ihnen die Feier versaut. Schmidt ja, der hätte den Nobelpreis bekommen sollen, und dann sagen Sie wörtlich: „Der ist wirklich so genial versponnen.“ Hören Sie auf zu schwärmen! Bemerken Sie beiläufig, wie Schmidts Montagetechnik die postmoderne deutsche Literatur beeinflusste. Die Partyküche wird sich leeren.

Diejenigen, die noch da sind, können Sie mit Ihrem Wissen zu Jörg Fauser beglücken. Sagen Sie: „Schon tragisch, dass jemand einfach so an seinem Geburtstag von einem Laster überrollt wurde.“ Wenn Sie schon bei Tragik sind, schieben Sie Kleists Kampf mit Goethe hinterher. „Kleist wollte doch immer nur Goethes Anerkennung. Deswegen hat er sich erschossen damals am Wannsee.“ Aber bleiben Sie nicht so lange in der Klassik, da ist das Eis dünn, da gibt es zuviele Profis. Trinken Sie nach diesem Satz lieber noch ein Bier und gehen tanzen. Wenn noch jemand reden möchte, verweisen Sie auf John Dryden und sagen: „Tanzen ist die Poesie des Fußes.“

 

Max Goldt bekommt Kleist-Preis

Der Schriftsteller und Musiker Max Goldt erhält den Kleist-Preis 2008. Der Autor Daniel Kehlmann habe als Vertrauensperson der Jury Goldt für die Auszeichnung ernannt, teilte die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft am Montag in Berlin mit. Der 1958 in Göttingen geborene Goldt habe als Kolumnist der Zeitschrift Titanic, Essayist und Prosakünstler den deutschen Alltag bis «zur Kenntlichkeit entstellt», hieß es zur Begründung. Mit seinem Witz, Scharfsinn und ästhetischen Urteilsvermögen sei er dem Sprachkritiker Karl Kraus (1874-1936) vergleichbar.

Der mit 20 000 Euro dotierte Preis soll Goldt am 23. November in Berlin verliehen werden. In den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts wurden unter anderem Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht und Robert Musil mit dem Kleist-Preis geehrt. Nach Wiederbegründung des Preises 1985 waren Preisträger unter anderem Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Martin Mosebach und zuletzt Wilhelm Genazino.

Goldt lebt seit 1977 in Berlin. 1981 gründete er zusammen mit Gerd Pasemann das Duo Foyer des Arts und galt mit Songs wie Wissenswertes über Erlangen oder Hubschraubereinsatz als einer der Stars der Neuen Deutschen Welle. Als Schriftsteller wurde er mit mit Titeln bekannt wie Mein äußerst schwer erziehbarer schwuler Schwager aus der Schweiz (1984) oder Schließ einfach die Augen und stell dir vor, ich wäre Heinz Kluncker (1994). Zuletzt erschienen Vom Zauber des seitlich dran vorbeigehens und QQ.

Das Preisgeld stiften die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Länder Berlin und Brandenburg. Der Preis wurde erstmals 1912 anlässlich des 101. Todestages von Heinrich von Kleist auf Anregung von Fritz Engel (1867-1935), Redakteur des Berliner Tageblatts, durch die Kleist-Stiftung vergeben. (mit dpa)