Im sächsischen Wurzen treten Neonazis seit Jahren militant auf. Mittlerweile sitzen sie im Stadtrat. Das Selbstbewusstsein der Rechten ist ungebrochen.
„Macht die Gaskammern wieder auf für die!“ und „Ihr Juden!“ brüllt ein junger Mann am Bahnhof von Wurzen, einer Kleinstadt nahe Leipzig. Gegenüber stehen 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Demonstration der Antifa, sie sind gemeint. Und wohl auch das gute Dutzend Journalisten, das zusieht. Der Mann brüllt weitere Parolen: „Deutsche macht euch frei von der Juden-Tyrannei“. Über 25 Neonazis machen mit oder stehen grinsend daneben. Ein wartender Busfahrer kennt die Gruppe, und er ist sauer: „Ist kein Wunder, dass wir den Status braune Stadt nicht verlieren“.
Der Ruf haftet der Stadt seit den Neunzigerjahren an. Seit diesem Dienstag sitzen die Neonazis nun auch im Stadtrat, mit drei von 25 Sitzen. Sie nennen sich Neues Forum – wie eine Bürgerrechtsbewegung der DDR. In deren Tradition sehen sich die Mitglieder. Unter Bürgerinnen und Bürgern genießen sie einige Sympathien.
Angriffe vor den Augen der Polizei
Am Bahnhof stürmen drei Polizisten auf den brüllenden Neonazi zu und führen ihn ab. Er grinst. Kurz darauf bekommt der Störungsmelder-Autor einen Faustschlag gegen den Unterarm. Ein bulliger Mann will verhindern, dass sein Kamerad und die anderen Neonazis gefilmt werden. Das Video läuft weiter, während Polizisten auch den zweiten überwältigen.
Antisemitische Parolen und Angriffe auf Journalisten, direkt vor den Augen der Polizei. Sie belegen die Selbstsicherheit der jungen Wurzener Neonazi-Szene. Diese wiederum bekommt Unterstützung von international bekannten Kampfsportlern aus dem Imperium Fight Team, in dem sich vorrangig Rechtsextreme für den Kampf schulen. Ihr Anführer, Benjamin Brinsa, sitzt jetzt für das Neue Forum im Stadtrat. Am Dienstag war die konstituierende Sitzung. Zehn Minuten vor Beginn hatte Brinsa wie ein König mit seinem Neonazi-Gefolge auf einem Erdhügel in der Innenstadt gestanden und lachend den vorbeiziehenden Demonstranten gedroht.
Am Fuß des Hügels stand derweil der Nachwuchs, gut 40 rechtsextreme Jugendliche. Einer von ihnen hatte die Fahne der Identitären Bewegung dabei. Ein anderer trug ein T-Shirt mit dem Logo der Neonazi-Partei Der Dritte Weg. Auf Bauchtaschen prangten Neonazi-Marken wie Thor Steinar oder Label23. Nur wenige Meter von ihnen entfernt hatte sich die AfD gegen die linke Demonstration gestellt. Recherchen der Tageszeitung taz legen nahe, dass sich Benjamin Brinsa an deren Wahlkampf beteiligt.
Der Staatsschutz ermittelt
Die wachsende rechtsextreme Szene wird in Wurzen und im Umland für schwere Straftaten verantwortlich gemacht. Der polizeiliche Staatsschutz ist in letzter Zeit oft in der Stadt. Regelmäßiges Opfer von Angriffen ist der örtliche Demokratieverein Netzwerk demokratische Kultur (NdK).
Die Organisation vermutet, dass Mitglieder einer neuen Neonazi-Kameradschaft namens 808 hinter den Angriffen stecken. In der Nacht zum 3. August waren die Fenster der Räume des NdK in Wurzen mit Steinen eingeschmissen worden. Schon im Mai wurde das historische Eingangsportal beschädigt, die Kamera abgerissen. Einer der Täter blickte noch in die Linse.
Eingestellte Strafverfahren
Ein deutlicher Druck aus der Justiz ist nicht zu spüren. Viele Strafverfahren, bei denen Neonazis als Urheber vermutet werden können, wurden eingestellt, wie eine bewaffnete Drohung gegen Journalisten im vergangenen Jahr. Weiterhin nicht aufgeklärt ist ein Angriff auf eine schwangere Eritreerin Ende Februar 2018.
Das Selbstbewusstsein der Rechtsextremen ist entsprechend groß: Die junge 808-Kameradschaft hat ihre Stadt markiert, bereits am Bahnhof sieht man große Graffiti mit ihrer Zahl. Die Geschäftsführerin des NdK, Martina Glass, vermutet, dass in Wurzen neue militante Strukturen entstehen. „Du hast da Schüler an der Oberschule und manche auch am Gymnasium, die in dieser Kameradschaft sind“, sagt sie. Aus der Schule würden ihr „Sachen berichtet“. Genauer will sie sich nicht äußern, um diejenigen zu schützen, die wenigstens hinter vorgehaltener Hand über die Vorfälle reden.
Dem NdK machen derweil nicht nur die physischen Angriffe zu schaffen. Der Demokratieverein ist von Fördergeldern abhängig, auch die Stadt unterstützt die Arbeit. Glass sagt, das Neue Forum habe sich die Streichung der Mittel zum vorrangigen Ziel gemacht: „Die wollen alle Kräfte in Bewegung setzen, damit wir die Förderung nicht mehr bekommen.“ Sie kritisiert auch den Wurzener Oberbürgermeister Jörg Röglin. Der habe die Angriffe öffentlich nicht verurteilt, sich auch nicht zum Demokratie-Netzwerk bekannt. „Sie stellen sich nicht öffentlich dafür hin und sagen, dass es wichtige Arbeit ist, die wir machen“, sagt Glass.
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Dazu kommen Bilder, wie sie auf Twitter erschienen: Bürgermeister Röglin begrüßt Neonazi Brinsa beim Einzug in den Stadtrat freundlich per Handschlag. Auf manche wirkt die Geste verstörend. Die Stadt lieferte eigens eine Erklärung. Brinsa habe sich geweigert, an einem obligatorischen Treffen aller Fraktionsvorsitzenden teilzunehmen. Der Oberbürgermeister habe ihn dann persönlich zur Teilnahme bewegen müssen, es sei um einen notwendigen Verwaltungsakt gegangen, erklärte eine Sprecherin.