Seit Jahren wird Dominik Zerbin von einem Neonazi bedroht. Immer wieder lauert der rechtsextreme Lokalpolitiker ihm auf. Von den Behörden fühlt er sich im Stich gelassen.
Von Dennis Pesch
„Jetzt zittere ich immer noch“, sagt Dominik Zerbin am Telefon gegenüber ZEIT ONLINE. Vor wenigen Minuten stand plötzlich der Neonazi Henry Schwind vor der Supermarktkasse, an der Zerbin gerade einen Kunden bediente. Schwind richtete seinen Blick auf Zerbin, warf ihm ein leichtes Kopfnicken zu und verließ den Laden. Das Nicken – eine Botschaft: Ich weiß, dass du hier arbeitest. Zerbin flüchtete von seinem Arbeitsplatz, einem Biomarkt im Gelsenkirchener Stadtteil Buer. Eine Kollegin übernahm für ihn. Es ist nicht die erste Heimsuchung: Immer wieder soll Schwind in den vergangenen Jahren im Geschäft aufgetaucht sein, berichteten Zerbins Arbeitskollegen. Nach Lebensmitteln suchte er nicht. Nach dem jüngsten Vorfall im Januar rief Zerbin seine Anwältin Sabrina Kimmeskamp an, dann den Reporter von ZEIT ONLINE – und gar nicht erst die Polizei.
Gegenüber vom Biomarkt, auf der anderen Straßenseite, liegt eine kleine Unterführung. Sie ist in der Nähe der Wohnung des 30-jährigen Zerbin. Er bleibt vor dem etwa zehn Meter langen Tunnel stehen, zögert, blickt hinein: „Hier trinkt der häufiger mal Bier“, sagt er und geht weiter. Henry Schwind ist nirgendwo zu sehen, aber der Ort ist für Zerbin wie kontaminiert. „Ich handele nur noch instinktiv“, murrt er vor sich hin. Er meidet Orte, an denen er Schwind begegnet ist. Doch nicht immer kann er ihm ausweichen. „Ich nutze immer andere Wege für dieselben Ziele.“
„Wenn ich dich noch mal sehe, schlag ich dir den Schädel ein“
Seit Jahren stellt sich Zerbin eine Frage: „Warum ausgerechnet ich?“ Eine Antwort von Schwind gibt es nicht, aber Vermutungen: Der Betroffene ist links, demonstriert gegen Nazis, ist Fan von Schalke 04 und steht in der Nordkurve, dem Stehblock im Schalker Stadion. Die Fangruppen dort gelten überwiegend als antirassistisch. Er sympathisiert auch mit dem FC St. Pauli. Die Bedrohungen durch den Neonazi begannen im April 2017 – vor der Schule, in der Zerbin im Hauptberuf als Integrationsfachkraft mit Menschen mit Behinderungen arbeitet. „Da bin ich das erste Mal auf ihn getroffen. Ich wusste gar nicht, wer das war.“
Dabei ist Schwind in Gelsenkirchen gut bekannt. Seit über zehn Jahren ist der 32-Jährige Teil der rechten Szene. Er ist Vorsitzender des Gelsenkirchener Kreisverbandes von Die Rechte. Die Neonazisplitterpartei wurde als Nachfolgestruktur für verschiedene vom Innenministerium NRW verbotene Kameradschaften im Ruhrgebiet gegründet.
Damals, vor der Schule, soll Schwind gedroht haben: „Wenn ich dich noch mal in Buer sehe, schlage ich dir den Schädel ein.“ Über zwei Jahre später brachte Zerbin das zur Anzeige. Er hatte so lange damit gewartet, weil die Polizei ihm gesagt habe, dass die Bedrohung nicht strafrechtlich relevant sei. „Warum sollte ich mich dann wieder bei denen melden?“ Zerbin hat kein Vertrauen in die Behörden.
Hausbesuch vom Neonazi
Im Sommer 2019 versucht er es notgedrungen wieder bei der Polizei. Schwind klingelt mit vier Neonazis an seiner Haustür. Das soll ebenfalls keine Straftat gewesen sein: Die ungebetenen Besucher hätten auf einer öffentlichen Straße gestanden, soll die Polizei ihm gesagt haben. Am Abend lässt sich Zerbin von Freunden abholen, er muss nicht zu Hause übernachten. Die Bedrohung vor der Wohnung hat keine Konsequenzen für Schwind. Von einer Gefährderansprache des Staatsschutzes ließ sich der Neonazi nicht beeindrucken: „Was kann ich dafür, wenn der sich bedroht fühlt?“, soll er dem Beamten laut einem Protokoll gesagt haben. Wo Zerbin sich noch sicher fühlt? „In Hamburg leben einige meiner Freunde. Ich weiß einfach, dass ich ihn da nicht treffen werde und kann dann auch mal abschalten.“
Seit über zwei Jahren fährt er nicht mehr mit bestimmten Straßenbahnen, weil der Neonazi sie regelmäßig nutzt, er ihn dort schon getroffen hat. Er nimmt absichtlich Umwege mit Bussen und steigt mehrmals um. Wenn er von Gelsenkirchen-Buer in den Süden fährt, kann das bis zu eineinhalb Stunden dauern. Eigentlich ist das eine Sache von 30 Minuten. Doch auch die Busfahrten sind belastend. 2018 begegnet er ihm auf der Rückfahrt von einer Geburtstagsfeier in einem Nachtexpress. Beim Aussteigen packt Schwind ihn von hinten in den Nacken und hält ihn an der Schulter fest: „Jetzt hab ich dich“, habe er geraunt. Zerbin reißt sich los, flüchtet über eine vielbefahrene Straße in einen Dönerimbiss am Buerer Busbahnhof. „Ich habe Panikattacken, werde bleich und mein Herz fängt an zu pochen, wenn ich den sehe“, sagt er heute.
Anna-Lena Herkenhoff ist Soziologin und arbeitet für die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im NRW-Regierungsbezirk Münster. „Wenn Betroffene sich über den juristischen Weg nicht wehren können, kann das den schlimmen Effekt haben, dass sie sich entmutigt fühlen“, sagt sie. Dass die Polizei – abgesehen von der Gefährderansprache des Staatsschutzes – wenig gegen Schwind unternimmt, hat genau das zur Folge. „Es ist enorm wichtig, dass Ermittlungsbehörden mit der nötigen Sensibilität mit Betroffenen umgehen“, sagt Herkenhoff. Wer Gewalt- oder Bedrohungserfahrungen mache, sei häufig unsicher.
Eingeschüchtert vor Gericht
Zerbin protokolliert auf Anraten seiner Anwältin Kimmeskamp, wann er Schwind begegnet ist. Bisher hat er in vier Jahren rund zehn Fälle aufgeschrieben. Schon die Anwesenheit des gewalttätigen Rechtsextremen versetzt ihn in Angst und Schrecken. „Das ist Psychoterror“, sagt er.
Erst ein Berufungsprozess vor dem Essener Landgericht Mitte Februar lässt ihn etwas aufatmen. Der Neonazi muss wahrscheinlich für elf Monate ins Gefängnis. Der 16-fach vorbestrafte Schwind hatte eine Mitarbeiterin der Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus beleidigt und rechtswidrig mehrere nicht angemeldete Versammlungen organisiert. Fünf Monate Haft bekam er dafür. Davor wurde er zuletzt 2018 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in einem anderen Verfahren zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Weil er erneut straffällig wurde, kommen die sechs Monate Haft nun zu den fünf aus dem letzten Verfahren hinzu.
Der Weg zum Urteil: eine Zitterpartie. In der ersten Instanz im September 2020 treffen die beiden Männer vor dem Gelsenkirchener Amtsgericht aufeinander. Es geht um die Bedrohung gegen Zerbin und die Beleidigung gegen die Mitarbeiterin der Dokumentationsstätte. Schwind erscheint mit zahlreichen Kameraden. „Ich habe mich alleingelassen gefühlt“, sagt Zerbin. Zu seiner Unterstützung war nur ein Freund mitgekommen. „Neonazis versuchen Zeugen so einzuschüchtern. Es ist keine Seltenheit, dass zu solchen Gerichtsverhandlungen viele Neonazis erscheinen“, sagt Herkenhoff von der Mobilen Beratung. In den Anklagepunkten der Bedrohung von Zerbin wird Schwind freigesprochen.
Rund ein halbes Jahr später sitzt Schwind wieder als Angeklagter beim Berufungsprozess wegen Beleidigung, Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und der Bedrohung gegen Zerbin. Der Betroffene ist auch da, muss aber wie alle anderen Zeugen nicht aussagen, weil die Richterin eine beschränkte Berufung anregt. Es geht also nur noch darum, wie hoch die vom Amtsgericht verhängte Haftstrafe sein wird und ob sie zur Bewährung ausgesetzt wird. Schwinds Kameraden sind dieses Mal nicht da. Stattdessen aber viele linke Unterstützer, auch für Zerbin: „Ich war mega erleichtert“, sagt er.
Das Weltbild bleibt – auch mit Job und Beziehung
Vor der Richterin gibt Schwind sich geläutert. Sein Anwalt erklärt seinen vermeintlichen Ausstieg für ihn: „Er hat sich von der Szene entfernt. Er hat sich deutlich gebessert“, sagt er. Das Gericht glaubt das nicht und setzt die elf Monate Gefängnis nicht zur Bewährung aus. Einen Tag später kündigt Schwind an, gegen das Urteil in Revision zu gehen – über den Twitteraccount des örtlichen Kreisverbandes. Kurz vor dem Berufungsprozess hatte Schwind noch mit Flyern seiner Partei vor dem Biomarkt posiert, in dem Zerbin arbeitet. Hinter dem angeblichen Ausstieg steckt eine Strategie, vermutet Anna-Lena Herkenhoff: „Da war wahrscheinlich die Hoffnung, dass sich das strafmildernd auswirkt.“
Für Erstaunen sorgen Aussagen der für Schwind zuständigen Bewährungshelferin. Sie habe zuletzt im Februar 2020 mit ihm über sein rechtsradikales Denken geredet, sagt sie. Es sei ihm gelungen „sich gesellschaftlich zu integrieren“. Er habe familiären Zusammenhalt, weil er in „einer festen Beziehung lebt“ und arbeiten gehe. Dokumente, die ZEIT ONLINE vorliegen, zeigen, dass er auf seinem Bauch einen Reichsadler mit Hakenkreuz tätowiert hat und auf seiner rechten Brusthälfte einen SS-Totenkopf. „Nur weil jemand in einer Beziehung ist oder einen Job hat, verabschiedet er sich nicht vom Weltbild eines Neonazis“, sagt die Soziologin Herkenhoff. Aus dem Bericht der Bewährungshelferin geht hervor, dass Schwind – wäre er auf freiem Fuß geblieben – einen Arbeitsvertrag als Vollzeitkraft in einem Bekleidungsgeschäft in Dortmund hätte unterschreiben können. Welches Geschäft das ist, ist unbekannt. Allerdings gibt es seit mehreren Monaten im nahen Dortmund einen Laden der Neonazimodemarke Thor Steinar.
Sollte Schwinds Revision abgelehnt werden, warten elf Monate Gefängnis auf ihn. Für Dominik Zerbin könnten die jahrelangen Bedrohungen zumindest für ein Jahr ausbleiben: „Wenn der erst mal weg ist, kann ich unbesorgter durch meinen Alltag gehen“, sagt er. Mit der Straßenbahn zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof, ohne Umwege nach Hause, zur Schule, zum Biomarkt, zu Freunden oder zum Einkaufen: Zerbins Leben könnte so etwas wie Normalität bekommen. Und wenn Schwind wieder rauskommt? „Ich hoffe, dass er dann die Füße stillhält oder am besten aus Gelsenkirchen wegzieht.“ Dass Zerbin nun mehr Unterstützung erhält, lässt ihn hoffen, „dass er mich dann auch in Zukunft nicht mehr bedroht“.