Fünf Jahre hat sich ein Neonaziprozess in Leipzig bis zum Urteil geschleppt. Wegen der Trägheit fällt die Strafe milder aus – wohl nicht zum letzten Mal für den Verurteilten.
Von Henrik Merker
Der 11. Januar 2016 ist für viele Leipziger bis heute mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Eine Gruppe von 250 Rechtsextremen und Hooligans zog durch den südlichen Stadtteil Connewitz, zerstörte Autos von Anwohnern, schlug Scheiben von Geschäften ein. Der Mob zerstörte auch einen Dönerimbiss. Sachschaden laut Staatsanwaltschaft: über 130.000 Euro.
Einer der Täter war laut Überzeugung des Leipziger Amtsgerichts Gianluca B. Sein Name findet sich auf der Liste der Personen, die von der Polizei vor Ort festgesetzt wurden. In der vergangenen Woche verurteilte das Gericht ihn zu einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung – mehr als fünf Jahre nach der Tat. Wegen der langen Verfahrensdauer gelten zwei Monate bereits als abgesessen, entschied die Richterin.
Dass das Verfahren so sehr in die Länge gezogen wurde, verwundert auch angesichts der Brutalität des Vorfalls: In einer Seitenstraße, direkt vor der Polizeiwache, griffen die Neonazis Polizisten an, die sich mit Pfefferspray wehrten. So schilderten es mehrere Beamte, die damals im Einsatz waren und derzeit bei den vielen einzelnen Verfahren als Zeugen aussagen müssen.
Schleppende Ermittlungen
Die enorme Menge an Einzelprozessen führte die Richterin in ihrer Urteilsbegründung als Grund für die Verzögerung an: Es habe durch die vielen Vorgänge „einen regelrechten Tsunami gegeben“, mehr Personal sei nicht bereitgestellt worden.
Einzig Gianluca B. will erst im Anschluss dazugekommen sein, machte widersprüchliche Angaben zu den Orten, an denen er gewesen sein will. Die Richterin glaubt ihm nicht. 800 Euro muss der NPD-Mann an die Opferschutzorganisation Weißer Ring zahlen, sollte das Urteil rechtskräftig werden.
Die Staatsanwaltschaft hätte den Angeklagten nach dessen widersprüchlicher Aussage am liebsten für ein Jahr und fünf Monate hinter Gittern gesehen. Das kann noch kommen, denn gegen B. läuft ein weiteres Verfahren vor dem Landgericht Mühlhausen in Thüringen. Dort wird ihm vorgeworfen, gemeinsam mit einem Sohn des NPD-Vorsitzenden Thorsten Heise zwei Journalisten angegriffen und schwer verletzt zu haben.
Der Anwalt Sven Adam vertritt die Betroffenen als Nebenkläger. Ihn ärgert die lange Verfahrensdauer auch in diesem Fall. „Zuerst war eine örtliche Polizeistation zuständig, da lief die Ermittlungsarbeit wirklich unterirdisch schlecht“, sagt er. Dann habe das Landeskriminalamt den Fall übernommen. „Das lief deutlich besser als bei anderen großen Verfahren in Thüringen im Zusammenhang mit Neonazis, das war wirklich gut ermittelt, sehr umfassend – auch was das Umfeld der Angeklagten angeht.“
Im Fall Fretterode verteidigte sich Oberstaatsanwalt Ulf Walther gegenüber dem Göttinger Tageblatt, die Identifizierung der mutmaßlichen Täter habe gedauert, zudem hätten Schutzmaßnahmen für die Opfer wie etwa Aktenschwärzungen Zeit gefressen.
Seit Abschluss der Ermittlungen liegt das Verfahren beim Landgericht. Am 5. Februar 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, Ende des Jahres sollte der Prozess beginnen. Wegen der Pandemie wurde der Start in den März verschoben. Doch der Termin platzte abermals. Ein neues Datum gebe es nun, sagt Adam, „aber das hat uns auch wütend gemacht“. Das Verfahren soll am 7. September dieses Jahres beginnen, elf Verhandlungstage sind angesetzt. Zu dem Zeitpunkt wird die Tat dreieinhalb Jahre her sein.
Erneuter Strafrabatt?
Schon jetzt ist zu erkennen, dass der Angeklagte alles andere als zu hart angepackt werden wird: Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen sieht in ihrer Anklage keinen Tötungsvorsatz – obwohl einer der attackierten Journalisten einen Schädelbruch erlitt. Die Fraktur wurde im Krankenhaus offenbar nicht erkannt, Monate später folgte eine Stirnhöhlenentzündung. Laut Adam ist diese auf die Fehldiagnose zurückzuführen.
Immerhin: Zu dem Prozess hat das Landgericht einen Sachverständigen der Gerichtsmedizin geladen. Adam vermutet deshalb, dass das Gericht prüfen will, ob die Verletzungen auch zum Tod hätten führen können. „Dann stünde versuchter Totschlag im Raum.“
Im Urteil, fürchtet der Anwalt, wird nicht die volle Härte des Rechtsstaats zum Tragen kommen. Wie im Connewitz-Prozess sei wegen des langen Verzugs mit einer Strafmilderung zu rechnen. Er sieht das als verheerendes Signal an die Neonaziszene.