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„Probelauf“ für rechtsextreme Anschläge

 

Der Prozess gegen die Terrorgruppe Revolution Chemnitz ist eines der größten Verfahren zu rechtsextremer Militanz seit dem Ende des NSU. Jetzt schilderte ein Polizist das Teilgeständnis des Angeklagten Sten E.

Von Tagesspiegel-Autor Frank Jansen

Revolution Chemnitz: Zu Prozessbeginn Ende September wird ein Angeklagter in den Gerichtssaal in Dresden geführt. © dpa/Sebastian Kahnert
Zu Prozessbeginn Ende September wird ein Angeklagter in den Gerichtssaal in Dresden geführt. © dpa/Sebastian Kahnert

Die Angeklagten sehen aus, als wollten sie sich für ein Schaubild über typische Rechtsextremisten zur Verfügung stellen. Junge Männer mit Glatze oder militärisch anmutender Kurzhaarfrisur, Tätowierungen bis zum Hals, Tunnelohrringe, ein gewaltiger Totenkopf auf einem Kapuzenpulli. Dass Polizei und Justiz die acht Angeklagten für gefährlich halten, lässt sich schon am Aufwand für die Sicherheit ablesen.

Je zwei Polizisten führen einen mit Handschellen gefesselten Angeklagten in den Saal im Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts Dresden. Eine lange Wand mit hohen Panzerscheiben trennt das Publikum von den meist trotzig blickenden Rechten, ihren Verteidigern, den Anklägern der Bundesanwaltschaft und den fünf Richtern des Staatsschutzsenats.

Der Prozess gegen die mutmaßlichen Mitglieder der Terrorgruppe Revolution Chemnitz ist eines der größten Verfahren zu rechtsextremer Militanz seit dem Ende des NSU. Die Bundesanwaltschaft wirft den acht Männern vor, sie hätten für den 3. Oktober 2018 Anschläge als vermeintliche Linke in Berlin geplant – in der Erwartung, einen Bürgerkrieg auszulösen. Dass die Angeklagten den wahnsinnig klingenden Plan tatsächlich verfolgt haben könnten, ist am Montag, es ist der zweite Verhandlungstag, der Vernehmung des ersten Zeugen im Prozess zu entnehmen.

„Die wollten ein freies Chemnitz“

Der Angeklagte Sten E. habe über einen Chat berichtet, in dem es um die Beschaffung von Waffen ging, berichtet ein Kriminalhauptkommissar des sächsischen Landeskriminalamts. Der Beamte hatte mit einem Kollegen im September und Oktober 2018 den heute 29-jährigen Rechten vernommen. Sten E. habe gesagt, beim Thema Waffen sei es ihm in dem Chat „zu bunt“ geworden und er habe sich „ein Stück weit“ zurückgezogen. Warum die Rechtsextremisten über Waffen sprachen, berichtete Sten E. auch. „Die wollten was bewegen, die waren unzufrieden mit der Asylpolitik, die wollten ein freies Chemnitz“, sagte Sten E. der Polizei. Und er gab zu, im September 2018 bereits selbst gewalttätig geworden zu sein.

Fünf der acht Angeklagten und weitere Rechtsextremisten hatten für den 14. September verabredet, nach einer rechten Demonstration Antifa und „Kanaken“ anzugreifen. Es war die Zeit der rassistischen Aufläufe und Ausschreitungen in Chemnitz nach dem Tod von Daniel Hillig Ende August. Ein oder zwei arabische Flüchtlinge hatten den Deutschkubaner in der Stadt erstochen.

Was sich dann in Chemnitz abspielte, erschütterte die Bundesrepublik. Dass der rechte Massenfuror offenbar auch dazu führte, dass sich in diesen Tagen acht Rechtsextremisten aus Chemnitz und Umgebung blitzschnell in Richtung Terrorismus radikalisierten, war nach der Festnahme der letzten mutmaßlichen Mitglieder von Revolution Chemnitz im Oktober 2018 noch ein Schock obendrauf.

Offen, ob Sten E. vor Gericht reden wird

Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft unternahm ein Teil der Terrorgruppe am 14. September 2018 in Chemnitz gemeinsam mit rechten Hooligans den Angriff auf Antifa und Ausländer als „Probelauf“. Sten E. mischte bei der Attacke auf der Schlossteichinsel mit und schlug einem jungen Mann ins Gesicht. Er habe dem Jugendlichen „zwei Ordnungsschellen“ versetzt, sagte E. in der Vernehmung durch den Kriminalhauptkommissar. Und E. erzählte, wie der rechte Trupp mit Geschrei auf eine Gruppe feiernder Jugendlicher losstürmte und danach eine Gruppe Ausländer angriff. Ein junger Iraner bekam eine Bierflasche an den Hinterkopf. Das Opfer ging mit Platzwunden blutend zu Boden.

Die Angeklagten folgen der Aussage des Kriminalhauptkommissars ohne erkennbare Regung. Wie am ersten Prozesstag vor einer Woche gibt auch diesmal keiner der acht Rechten ein Wort von sich. Doch das muss nicht so bleiben. Der Verteidiger und die Verteidigerin des Angeklagten Sven W. deuten am Dienstag an, ihr Mandant wolle Ende Oktober aussagen. Ob auch Sten E. reden wird wie bei der Polizei, bleibt offen.

Aussage-Bonus für den Angeklagten?

Die Anwälte von Sten E. hatten sich am Dienstagvormittag gegen die Befragung des Kriminalhauptkommissars gewandt. Die Vernehmung seines Mandanten vom 20. September 2018 sei nicht verwertbar, sagte ein Anwalt. Er monierte, Sten E. sei erst am späten Abend und dann bis in die Nacht befragt worden, außerdem ohne Verteidiger. Die Bundesanwaltschaft wie auch der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats sehen jedoch keinen Rechtsverstoß.

Der Richter gab dem Angeklagten sogar zu bedenken, mit Blick auf eine mögliche Verurteilung zu einer Strafe sollte er der Verwertung der Aussage bei der Polizei besser nicht widersprechen. Sonst könnte die „positive Wirkung des damals Gesagten“ relativiert werden. Schlüter-Staats würde demnach das alte Teilgeständnis von Sten E. zu dessen Gunsten berücksichtigen. Selbst wenn der Angeklagte den ganzen Prozess über schweigen sollte.