Am 30. April 2008 trafen wir uns mit Prof. Flaig in Rostocks Weinwirtschaft, um über zentrale Aspekte hiesiger Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zu diskutieren. Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil des Gesprächs.
ENDSTATION RECHTS.: Sie verteidigen also emphatisch die Aufklärung und attackieren den relativistischen Zeitgeist. Der Relativismus ist jedoch seit geraumer Zeit präsent, insbesondere der Kulturrelativismus. Wie ist er entstanden und wie würden sie ihn politisch im 20. Jahrhundert verorten?
Prof. Flaig: Der Kulturrelativismus hat sich mit dem Historismus im 19. Jahrhundert entwickelt. Er ergibt sich direkt aus der Annahme, alle Kulturen stünden gleich nah zu Gott; und jede Kultur habe ein Eigenrecht. Versteht man dieses Eigenrecht radikal, dann muss es sich erstens an universalen Ansprüchen nicht messen lassen; und dann gibt es zweitens nicht einmal mehr einen potenziellen kulturellen Fortschritt der Menschheit. Auf dieser Basis begannen die frühesten Angriffe gegen die Menschenrechte, nämlich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Einzelkultur dermaßen zu verabsolutieren heißt, überhaupt keinen Maßstab mehr zu haben für alle transkulturellen Beziehungen und für die Menschheit als Ganzes. Auf dieser Ebene bleibt dann nur ein totaler kultureller, moralischer und politischer Relativismus. Auf den antwortete Nietzsche und auf den antwortete auch der Nationalsozialismus.
ENDSTATION RECHTS.: Und zwar wie genau? Und warum bringen Sie hier Nietzsche ins Spiel?
Prof. Flaig: Weil er sich dem Relativismus am entschiedensten gestellt und die radikalste Lösung formuliert hat, die überhaupt denkbar ist: Nach dem Absterben der religiösen Wahrheiten (Nietzsche spricht vom Tod Gottes) lassen sich nach seiner Ansicht verbindliche Maßstäbe für die Erkenntnis und für das Handeln nicht mehr begründen. Und zwar weder zwischen den Kulturen noch innerhalb einer Kultur. Also kann nichts mehr Geltung beanspruchen (Nihilismus). Der Ausweg ist dann der, diese Zerstörung aller Werte bis zum Exzess zu treiben. Auch um sämtliche politischen und sozialen Institutionen zusammenbrechen zu lassen. Und dann beginnt eine neue Ära der Menschheit: Es ergibt sich ein freies Spiel der Kräfte, in dem die ‚natürliche Ungleichheit’ der Menschen zur Aufspaltung der Menschheit führen wird – in Herrenmenschen und Untermenschen. Das ist tatsächlich die logische Konsequenz, wenn man den Universalismus opfert. Aber das scheint – vorläufig – nicht die historische Konsequenz sein. Denn es gibt Kulturen, die sich vehement mobilisieren gegen diese amoralische Konsequenz des Kultur-Relativismus, Kulturen, die in der Lage sind, heilige Kriege zu führen.
ENDSTATION RECHTS.: Es ist klar, dass eine staatlich verfasste Gesellschaft alles tun wird, um nicht in dieses Nietzscheanische Endstadium hineinzugeraten; sie wird reagieren. Lässt sich der Nationalsozialismus also als eine solche Reaktion interpretieren? War der Nationalsozialismus ein Versuch, den Kulturrelativismus aufzuhalten?
Prof. Flaig: Heidegger hat ihn so interpretiert. Er schreibt irgendwo, der Nationalsozialismus sei die tiefste und ernsteste Antwort auf die Krise des 20. Jahrhunderts gewesen. Auf der ideologischen Ebene war der Nationalsozialismus eine Reaktion darauf. Inmitten der Krisen und Klassenkämpfe nach dem 1. Weltkrieg war die Suche nach einem ‚Kitt’, der das Staatsvolk noch zusammenhalten sollte, eine ziemlich verzweifelte. Der Nationalsozialismus fand diesen Kitt in der ‚Rasse’. Dazu musste man freilich die Nation völkisch umdefinieren: aus den Staatsbürgern wurden Volksgenossen, die von ihrer Rasse zusammengehalten wurde. Die Rasse war naturgegeben und somit etwas Unverfügbares, also ein Wert, den man nicht relativieren konnte. Und zwar unabhängig davon, ob die einzelnen das wollten oder nicht. Und zur Selbsterhaltung dieser Rasse musste alles erlaubt sein. Damit stellte der Nationalsozialismus die radikalste Revolution dar, die es in der Geschichte der Menschheit wahrscheinlich jemals gab.
ENDSTATION RECHTS.: Würden Sie Heidegger letztlich als Ideologen des Nationalsozialismus ansehen?
Prof. Flaig: Nein, auf keinen Fall. Für Heidegger wie für viele Intellektuelle bot das völkisch verstandene Volk – einen Ausweg aus der Heillosigkeit des moralisch und politisch Beliebigen. Heidegger hat sich aber nie das ‚Entscheiden’ aus der Hand nehmen lassen. Und das betonte er immer wieder ganz pathetisch: das deutsche Volk sei zwar eine Schicksalsgemeinschaft; aber es müsse dieses Schicksal bewusst und willentlich annehmen. Das ist die dezisionistische Antwort auf die Krise der Werte: Im Angesicht der Unbegründbarkeit von verbindlichen Werten muss man sich willkürlich zu etwas entschließen; und man hat an dieser Entscheidung ehern festzuhalten. Durch dieses Festhalten an der Sache wird die Sache zu etwas ‚Unverfügbarem’. Heidegger braucht die Rasse nicht, weil seiner Ansicht nach der Wille der einzelnen ‚Volksgenossen’ völlig ausreicht, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Die ‚Volksgenossen’ müssen bloß – bis zum äußersten Opfer – zu ihrer Entschlossenheit stehen. Dieser Wille zur Entschlossenheit ist eine Variante des radikalen Dezisionismus. Eine stattliche Anzahl von Intellektuellen der Linken hatte dasselbe Problem mit dem ‚Festhalten’: Lukacs und Bloch hielten an Stalins Linie fest, als die Moskauer Prozesse längst begonnen hatten. Im Vergeich zu ihnen hat sich Heidegger weniger kompromittiert.
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