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E-Scooter müssen draußen bleiben

Sie dürfen nicht mehr in den Bus. Nicht in Herne. Nicht in Oldenburg. Nicht in Wuppertal.

Seit einigen Monaten verbieten immer mehr Verkehrsbetriebe in Deutschland die Mitnahme von so genannten E-Scootern in ihren Bussen. Behinderten- und Seniorenverbände sind entsetzt. „Mobilitätseingeschränkte Menschen in ländlichen Gebieten, die keinen Anschluss an das Schienennetz haben, sind auf den Busverkehr angewiesen. Ohne die Nutzung des Busverkehrs können zahlreiche Scooter-Nutzer sich nicht wie bisher selbständig mit allem Bedarf für das tägliche Leben versorgen“, empört sich der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter.

Vor allem ältere Menschen nutzen diese „elektrisch angetriebenen Leichtfahrzeuge für einen Fahrzeugführer mit Gepäck“, wie sie offiziell heißen, in den vergangenen Jahren immer mehr. Mit der Anzahl der älteren Menschen, die auch im Alter weiter mobil sein wollen, stieg auch die Anzahl der E-Scooter.

Zu groß, zu schwer, zu kippanfällig

Die Verkehrsbetriebe, die E-Scooter jetzt aus ihren Bussen und Straßenbahnen verbannt haben, halten die E-Scooter allerdings für eine Gefahr. Sie hätten nicht genug Standfestigkeit, würden bei einer einfachen Bremsung umfallen und andere Passagiere verletzen. Außerdem seien manche Scooter so schwer, dass sie die Rampen beschädigten. Diese seien für das Gewicht nicht ausgelegt. Zudem seien die E-Scooter teilweise so groß, dass sie gar nicht auf den Rollstuhlplatz im Bus passten und so die Gänge blockierten.

Ein Sprecher der Stadtwerke in Wuppertal verteidigte gegenüber dem WDR die Entscheidung so: „Die E-Scooter sind für uns schon lange problematisch. Die können bis zu 500 Kilogramm wiegen und sind damit viel zu schwer für die Rampen an unseren Bussen. Wenn so ein Scooter umkippt, ist nicht nur der, der drin sitzt, in Gefahr, sondern auch andere Fahrgäste könnten verletzt werden. Außerdem: Was ist, wenn wir den Bus schnell räumen müssen? Dann blockiert so ein Scooter den Gang, und es gibt große Probleme.“

Scooter ist nicht gleich Scooter

Aber warum fällt den Verkehrsbetrieben das erst jetzt ein? E-Scooter fahren ja nicht erst seit gestern durch die Gegend. Hintergrund ist ein Gutachten des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Aus diesem geht hervor, dass „bei einem E-Scooter mit aufsitzender Person (…) bei einer Gefahrenbremsung mit einem Kippen zu rechnen“ sei.

Was die Verkehrsbetriebe allerdings nicht berücksichtigen: E-Scooter ist nicht gleich E-Scooter. Die Ausführungen der Fahrzeuge sind höchst unterschiedlich. Es gibt sie in verschiedenen Größen, sie fahren unterschiedlich schnell, haben manchmal drei Räder oder auch vier. Mal wiegen sie weniger als 100 Kilo, manchmal aber auch das fast das Vierfache.

Schlecht beraten

Das Problem ist, viele E-Scooter-Nutzer werden beim Kauf schlecht beraten. Sie kaufen sich viel zu große Fahrzeuge oder aber auch viel zu kleine mit wenig Leistung, die teilweise sehr wackelig sind (Kippgefahr). Viele wissen nicht, dass ein Elektrorollstuhl ihnen vielleicht sogar viel besser helfen würde, stabiler ist, auch im Bus nicht kippt und weniger Platz wegnimmt.

Und – das muss man auch mal sagen – E-Scooter erfreuen sich auch deshalb so großer Beliebtheit, weil es eben keine Rollstühle sind. „Alles, nur kein Rollstuhl“, denken sich manche und kaufen dann irgendeinen wenig alltagstauglichen E-Scooter, um doch noch irgendwie von A nach B zu kommen.

Was ist nun also die Lösung?

Vermutlich sind die Kölner auf dem richtigen Weg. Die Kölner Verkehrsbetriebe haben nämlich angekündigt, weitere Tests abzuwarten, welche Gefahren von E-Scootern ausgehen. Genau solche Tests haben in London dazu geführt, dass bestimmte Modelle von E-Scootern unterdessen in Bussen befördert werden. Nämlich diese, die nicht leicht kippen und auf den Rollstuhlplatz passen. Die Londoner Verkehrsbetriebe haben dazu eine Liste mit Modelltypen veröffentlicht. Wer einen solchen E-Scooter fährt, erhält einen Pass, den er beim Fahrer vorzeigen kann, und der fährt dann, wie für jeden Rollstuhlfahrer auch, die Rampe des Busses aus. Wer aber das falsche Modell fährt, das nicht kippsicher oder zu groß ist, muss weiterhin draußen bleiben.

 

Partyvorbereitungen mit Hindernissen

Am vergangenen Wochenende war ich auf einer Party eingeladen. Das Geburtstagskind würde ich als Bekannte bezeichnen: Wir sind nicht eng befreundet, aber kennen uns, seit wir gemeinsam bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2012 in London mitgewirkt haben.

Die Einladung kam per Facebook, wie die meisten Partyeinladungen, die ich mittlerweile aus meinem Netzwerk bekomme. Ich sagte vor Wochen zu, ebenfalls per Facebook, und nahm mir vor, vorher abzuklären, ob die Bar überhaupt für mich zugänglich ist, also möglichst keine Stufen hat. Sowas muss ich immer vorher wissen, bevor ich zu so einer Party gehe. Schließlich will ich den Abend nicht vor der Tür verbringen.

Die Frage nach den Stufen

Natürlich hatte ich dann x andere Dinge zu tun, aber als ich am Tag vor der Party auf meinen Kalender schaute, fiel mir wieder ein, dass ich noch gar nicht wusste, ob ich da nun eigentlich auch hinkomme, wo ich hinwollte. Ich kannte die Bar nicht.

Als erstes schrieb ich also die Gastgeberin an und fragte sie, ob sie in besagter Bar schon einmal war. War sie nicht. Sie hatte den Tipp von Freunden erhalten. Aber die Bar war im Erdgeschoss, so viel wusste sie. Sie werde für mich anrufen und fragen. Das hätte ich natürlich auch selber machen können, aber sie bestand darauf.

Es ging aber niemand ans Telefon. Auch am nächsten Morgen nicht. Und so dachte ich für eine halbe Minute darüber nach, die Party sausen zu lassen.

Street View und Foursquare

Aber ich machte das, was mir in solchen Situationen schon oft geholfen hat: Ich bemühte Google Street View und Foursquare. Auf Google Street View sieht man oft die Hauseingänge und kann sich, wenn nicht gerade ein Lkw vor dem Haus steht, ein ganz gutes Bild vom Eingang machen. Foursquare ist ein soziales Netzwerk für Orte, bei dem die Nutzer teilweise Hunderte von Fotos zu einem Platz hinterlegen. Wenn man Glück hat, sieht man auch dort den Eingang.

Ich hatte Glück. Ich konnte erkennen, dass der Eingang zwar nicht stufenfrei war, aber die Stufen so klein waren, dass ich mit etwas Hilfe hineinkam. Und gleichzeitig hatte ich auch telefonisch Glück. Es nahm endlich jemand ab. Ich hatte dann doch selbst versucht, dort anzurufen.

Der Mensch am anderen Ende verstand erst meine Frage nicht – das ist so gut wie bei jedem dieser Anrufe so. Die Menschen rechnen nicht mit der Frage, ob sie Stufen vor der Tür haben, und verstehen sie dann beim ersten Mal nicht. Als er sie dann endlich verstanden hatte, war er skeptisch, ob ich dort wirklich hineinkäme, aber ich hatte schon die Bilder gesehen und beschloss daher, es zu versuchen.

Dort angekommen, war es viel einfacher als gedacht: Es gab zwei Türsteher, die mir sofort reinhalfen und auch später wieder hinaus. In weniger als 15 Sekunden war ich drin. Ich hätte mich geärgert, wäre ich nicht hingegangen, denn ich hatte wirklich einen schönen Abend.

Wenn ich von Freunden eingeladen werde, die mich besser kennen, ist das übrigens viel unkomplizierter. Sie reservieren Tische in barrierefreien Restaurants, buchen selbstverständlich einen Rollstuhlplatz für Konzerte, ohne dass ich darum bitten muss, checken vorher, ob etwas barrierefrei ist und sagen mir, ohne dass ich überhaupt frage, wie die bauliche Situation ist, damit ich entscheiden kann, ob ich mitkommen möchte oder nicht. All das ohne peinliche Diskussion, sondern es ist einfach normal.

 

Nichtbehinderte Schauspieler – ziemlich schlechte Rollstuhlfahrer

Sonntag. 20.15 Uhr. ARD. Es läuft Tatort. Die Tochter des Kommissars ist gelähmt und es dauert nicht lange bis ich augenrollend vor dem Fernseher sitze. Es ist einfach zu offensichtlich, dass die Frau, die da spielt, gelähmt zu sein, es eben nicht ist. Sie bewegt ihre Beine unnatürlich oder auch unnatürlich nicht. Und vor allem fährt sie Rollstuhl wie der erste Mensch. Das liegt auch daran, dass sie in einem Rollstuhl sitzt, der für sie viel zu groß ist.

Ich erkenne nichtbehinderte Schauspieler, die behinderte Menschen spielen, so gut wie immer. Das ist auch bei den angehenden Sozialpädagogen und Freiwilliges-Soziales-Jahr-Absolvierern so, die einen Nachmittag im Rollstuhl durch die Stadt fahren, um mal zu sehen „wie das so ist im Rollstuhl“. Die sitzen auch immer in viel zu großen Rollstühlen, können kaum damit umgehen und man wartet förmlich jede Sekunde darauf, dass sie aufspringen und den Rollstuhl eine Bordsteinkante hochheben, weil sie sonst nicht drüber kämen. So wirken auf mich die meisten nichtbehinderten Schauspieler auch, die im Film Rollstuhlfahrer spielen. Es gibt nur einige wenige Ausnahmen, bei denen das nicht so ist. Patrick Bach in „Anna“ fand ich beispielsweise großartig.

Schauspielerisches Scheitern

Trotzdem scheint es als völlig normal zu gelten, Rollen von behinderten Personen nicht an behinderte Schauspieler zu geben. Selbst wenn sie den ganzen Film durch behindert sind, werden diese Rollen nur selten an behinderte Schauspieler vergeben. In den Fällen, wo jemand während des Films eine Behinderung bekommt, könnte man ja noch argumentieren, dass er damit nicht sein Aussehen verändern kann. Okay, geschenkt. Aber selbst in den anderen Fällen, brechen sich nichtbehinderte Schauspieler einen ab, möglichst behindert zu wirken und scheitern teilweise völlig, um nicht zu sagen, sie machen sich lächerlich.

Früher wurden Frauen auf der Bühne von Männern gespielt, weiße Schauspieler malten sich schwarz an, um schwarze Rollen zu spielen. Beides gilt heute als verpönt und lächerlich. Nur behinderte Menschen müssen ständig zuschauen, wie ihnen nichtbehinderte Schauspieler nicht nur ihre Rollen wegnehmen, sondern auch wie sie teilweise völlig unrealistisch dargestellt werden. Es ist wohl eine der wenigen Gruppen, die sich nicht selber spielen darf.

Lächerlich und klischeehaft

Manchmal muss ich lachen, wie schlecht manche Schauspieler Rollstuhl fahren, manchmal ärgere ich mich über die Klischees, die sie damit verbreiten, die teilweise gar nicht stimmen. Blinde Menschen zum Beispiel wirken in Filmen sehr oft völlig hilflos, wenn sie von Sehenden gespielt werden. Weil Sehende, denen man das Augenlicht nimmt, eben hilflos sind. Blinde Menschen, die daran gewöhnt sind, nichts zu sehen, sind das aber nicht. Sie hatten im Normalfall Mobilitätstraining, in dem man lernt, sich blind zu orientieren und erlernen lebenspraktische Fertigkeiten, wie Kochen zum Beispiel, ohne sehen zu können.

Eine Frage der Qualität

Also warum finden es Filmemacher und Regisseure immer noch in Ordnung, Rollen von behinderten Menschen mit Nichtbehinderten zu besetzen? Ich glaube, weil sie den Wert nicht erkennen, den jemand einem Film bringen kann, der wirklich selber die Behinderung hat. Sie haben Angst, niemanden beim Casting zu finden, der die Rolle spielen kann, ohne es überhaupt zu versuchen. Oder sie befürchten, dass das Filmen länger dauert oder es organisatorische Probleme gibt.

Sie nehmen damit aber in Kauf, dass die Qualität des Filmes leidet. Dass Vorurteile transportiert werden. Und dass eine behinderte Person wirkt wie eine nichtbehinderte Person, die eine behinderte Rolle spielt. Ich sitze dann manchmal im Kino oder vor dem Fernseher und lache über die Fehler der Schauspieler. Es ist manchmal für mich unbegreiflich, wie wenig Ahnung Leute davon haben, Rollstuhl zu fahren oder mit einem Blindenlangstock zu laufen, aber glauben, damit in einer millionenschweren Filmproduktion einfach durchzukommen. Und das vor dem Hintergrund, dass es Schauspieler gibt, die das in ihrem Alltag tun und es deshalb aus im Film könnten. Eine Rolle eines Pferdewirts geht sicher auch nicht an einen Schauspieler, der nicht reiten kann. Warum wird also akzeptiert, dass so viele behinderte Menschen in Filmen einfach nur schlecht dargestellt werden?

 

Nur Fliegen ist schöner

Den Beginn meiner Liebe zum Fliegen verdanke ich der Deutschen Bahn. Als ich nach dem Abitur von Hessen nach Hamburg zog, um zur Uni zu gehen, fuhr ich öfter mit der Bahn und fand es furchtbar. Wer, wie ich, Rollstuhlfahrerin ist und in den ICE oder in andere Züge einsteigen will, die Stufen haben, muss sich 24 Stunden vorher bei der Bahn anmelden, wenn er Assistenz haben möchte. Mitarbeiter der Bahn kommen dann mit einem Hublift, der vor die Zugeingangstür geschoben wird. So kommt man dann barrierefrei in den Zug.

Nach der x-ten schlechten Erfahrung mit diesem Service – von unfreundlichen Mitarbeitern bis Mitarbeitern, die gar nicht erschienen – entschloss ich mir von meinem Studentenbudget irgendwann einmal ein Flugticket von Frankfurt nach Hamburg zu kaufen, anstatt die Bahn zu nutzen und war begeistert. Zwar nicht vom Vorgang für Rollstuhlfahrer, um ins Flugzeug zu kommen, aber von der Freundlichkeit des Personals. Außerdem liebe ich das Fliegen überhaupt. Ich kann an Bord super entspannen und ich habe die besten Ideen über den Wolken. Ich würde am liebsten jeden meiner Texte im Flieger schreiben.

Fairerweise muss man aber sagen, dass sich der Service der Bahn unterdessen gebessert hat, von ein paar Ausnahmen abgesehen.

EU-Richtlinie

Auch das Fliegen ist nicht perfekt, aber es hat sich in den vergangenen Jahren ebenfalls massiv verbessert. Für behinderte Fluggäste begann 2008 eine neue Ära. Denn dann trat die EU-Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 für Fluggäste mit eingeschränkter Mobilität in Kraft. Diese gewährleistet behinderten Fluggästen umfassende Rechte gegenüber den Fluggesellschaften und den Flughäfen. Die EU-Verordnung schreibt vor, dass niemand aufgrund von Behinderung oder eingeschränkter Mobilität bei Flugreisen diskriminiert werden darf. Luftfahrtunternehmen können behinderten Menschen und Personen mit eingeschränkter Mobilität die Beförderung nur aufgrund klar definierter Sicherheitsgründe verweigern. Behinderte Menschen haben Anspruch darauf, zu den selben Bedingungen reisen zu können wie nicht in ihrer Mobilität eingeschränkte Passagiere. Dazu zählt zum Beispiel das Recht auf unentgeltliche Hilfeleistungen am Flughafen und an Bord sowie die unentgeltliche Beförderung von bis zu zwei Hilfsmitteln. Und das alles gilt für alle Flüge, die an einem EU-Flughafen starten oder enden.

Mit der EU-Richtlinie wurde auch endlich die Finanzierung der Assistenz an den Flughäfen klar geregelt. Viele Flughäfen schrieben die Assistenzleistungen neu aus, Personal wurde an vielen Flughäfen aufgestockt, neu organisiert und geschult. Behinderte Menschen wurden endlich zu Reisenden mit Rechten gegenüber der Fluggesellschaft und den Flughäfen statt zu Bittstellern, die jedes Mal bangen mussten, ob man sie mitnimmt.

Es gibt auch ein klar geregeltes Beschwerdeverfahren. In Frankreich beispielsweise wurde die Fluggesellschaft easyJet mehrfach zur einer Strafzahlung wegen Diskriminierung verurteilt, weil sie behinderten Passagieren die Beförderung verweigert hatte.

Problem ist das Einsteigen

Ich weiß, dass ich meine Liebe zum Fliegen nicht mit vielen anderen Rollstuhlfahrern teile. Haupthindernis beim Einsteigen ist, dass man seinen Rollstuhl abgeben muss. Dafür setzt man sich auf einen kleinen, schmalen Bordrollstuhl um und wird dann vom Assistenzdienst des Flughafens ins Flugzeug gebracht.

Der Rollstuhl kommt in den Bauch des Flugzeugs und ich hoffe jedes Mal inständig, dass der Rollstuhl heil am Zielort ankommt. Zwei Mal war das bislang nicht der Fall. Der Rollstuhl hatte in beiden Fällen einen ordentlichen Schlag auf die Hinterräder bekommen. Vermutlich war ein Container verrutscht oder ein schweres Gepäckstück darauf gefallen. Einmal hatte ich einen Achter im Rad selbst, ein anderes Mal war die Steckachse des Rades total verbogen. In beiden Fällen war ich zum Glück in Städten, in denen ich den Rollstuhl schnell reparieren lassen konnte. Ein Alptraum wäre, wenn der Rollstuhl gar nicht ankommen würde.

Aber auch das häufige Umsetzen vom Rollstuhl auf den Bordrollstuhl und von dort auf den Flugzeugsitz ist für viele behinderte Reisende ein Problem. Es wird wohl in absehbarer Zeit nicht möglich sein, in seinem eigenen Rollstuhl zu fliegen, was die Ideallösung wäre, aber dennoch wird an Alternativen zum jetzigen System gearbeitet. Das hier ist eine Idee:

Fliegen für behinderte Passagiere barrierefreier zu machen, ist definitiv eine Herausforderung, der sich vor allem die Fluggesellschaften stellen müssen. Dazu gehört natürlich nicht zuletzt, die EU-Verordnung einzuhalten. Aber am Ende werden auch Ingenieure gefragt sein, um intelligentere Lösungen zu schaffen als die derzeit vorhandenen.

 

Aus dem Kino geworfen

Richard Bridger ist aus einem Kino geworfen geworden. Der 31-Jährige hat Duchenne-Muskeldystrophie, eine Muskelerkrankung, die ausschließlich Männer betrifft. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen mit Duchenne beträgt 25 Jahre. Bei vielen lässt irgendwann auch die Lungenfunktion nach. Sie brauchen ein Beatmungsgerät. Und genau an diesem Gerät störten sich Kinogäste eines Kinos im englischen Epsom. Sie beschwerten sich über den jungen Mann, der den Actionfilm Taken 3 sehen wollte. Sie mochten das Geräusch des Beatmungsgerätes nicht. Statt die anderen Gäste umzusetzen oder sie darauf hinzuweisen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, ein Kino zu besuchen, forderten Kinomitarbeiter Richard Bridgers Assistenten auf, zu gehen. Mit ihm selber sprach man erst gar nicht. Erst nach einer Diskussion mit dem Manager des Kinos bekam Richard Bridger sein Eintrittsgeld zurück, nachdem er das Kino verlassen hatte.

Nicht lauter als Popcorn

Bis vor ein paar Jahren sah man Menschen mit einem Beatmungsgerät nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Viele Geräte waren nicht transportabel. Das bedeutete, die Menschen konnten das Haus deshalb gar nicht verlassen. Das ist heute anders. Auch Menschen, die beatmet werden, können unter Umständen heute am normalen Leben teilnehmen, ins Kino gehen zum Beispiel. Ich kenne viele Menschen mit Beatmungsgerät, ich sitze oft in Meetings, in denen jemand mit Beatmungsgerät neben mir sitzt.

Ich habe mir sogar mal mit dem Hollywoodschauspieler Christopher Reeve einen Rollstuhlplatz geteilt in einem Theater, in dem es nur einen Rollstuhlplatz gab – er sollte einen Preis bekommen, ich sollte darüber berichten. Der Superman-Darsteller war seit einem Reitunfall hoch querschnittgelähmt und wurde mit einem Beatmungsgerät beatmet. Und dann kam es zu der etwas bizarren Situation, dass es für uns beide eigentlich nicht genug Platz in dem Theater gab. Aber natürlich wollte man keinen von uns wieder wegschicken und so saßen wir notgedrungen recht eng nebeneinander. Ich weiß also, wie sich Beatmungsgeräte anhören. Sie machen keine Geräusche, die bei einem Actionthriller wirklich störend wären. Nicht einmal bei einem Stummfilm, schätze ich. Man kann gut darüber hinweghören, wenn man das Gerät bei den Umgebungsgeräuschen überhaupt hört. Das sieht auch der Vater des Rollstuhlfahrers in Epsom so: „Das Gerät macht nicht mehr Lärm als wenn neben einem jemand Popcorn isst“, sagte er dem britischen Fernsehsender ITV. Daran stört sich im Kino sonst auch niemand.

Es geht nicht nur um Rampen

Der Fall zeigt ganz deutlich: Inklusion bedeutet nicht nur Rampen und Fahrstühle zu bauen. Es geht auch bis zu einem gewissen Maße darum, behinderungsbedingte Dinge, die man nicht ändern kann, hinzunehmen. Dazu gehört meines Erachtens auch, das Beatmungsgerät eines Gastes im Kino zu ertragen oder sich im Zweifelsfall umzusetzen. Die Lösung ist sicher nicht, einen Kinogast mit Beatmungsgerät des Kinos zu verweisen und zu sagen, er darf nur zu Vorstellungen kommen, die schlecht besucht sind, so wie es das Kino getan hat.

Die Kinokette, zu der das Kino gehört, hat sich unterdessen für das Verhalten ihrer Mitarbeiter entschuldigt. Richard Bridger sei jederzeit willkommen und könne den Film jetzt als Wiedergutmachung kostenlos sehen. Damit kommt das Kino übrigens recht preiswert davon. In ähnlichen Fällen werden in Großbritannien auch schon mal hohe vierstellige Schadenersatzzahlungen fällig, wenn dem Unternehmen Diskriminierung eines Kunden wegen seiner Behinderung nachgewiesen werden kann.

 

Die Sache mit der Fragerei

Es gibt wohl kaum eine Frage in meinem Leben, die ich so häufig beantwortet habe, wie die Frage „Warum sitzen Sie denn im Rollstuhl?“. Diese Frage kommt auch manchmal in Form von „Hatten Sie einen Unfall?“, „Sitzen Sie schon immer im Rollstuhl?“ oder auch „Was ist denn mit Ihnen?“ daher. Ich werde das in allen möglichen und unmöglichen Lebenssituationen gefragt: In der Fußgängerzone, beim Bäcker, im Wartezimmer, im Bewerbungsgespräch, beim Essen in der Kantine, vor Flughafentoiletten.

Die Antwort auf die Frage ist eigentlich schnell erklärt und geht laienhaft so (die Mediziner mögen mir das verzeihen): „Ich bin querschnittgelähmt. Ich habe eine Spritze bekommen, die ich nicht gebraucht hätte und der Arzt hat Arterie und Vene verwechselt. Das Medikament hat deshalb die Nerven im Rückenmark zersetzt.“ In der Mehrheit der Fälle beantworte ich die Frage ohne mit der Wimper zu zucken. Aber es gibt Ausnahmen.

Auf das „Wie“ kommt es an

Es war der erste kulturelle Unterschied, der mir auffiel, als ich nach Großbritannien zog. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, fragen die Briten diese Frage so gut wie nie. Nicht einmal Freunde. Die warten ab, bis ich von mir aus erzähle, warum ich Rollstuhlfahrerin bin. Ich will nicht sagen, dass ich die Fragerei vermisse, aber spätestens wenn in der U-Bahn wieder jemand fragt, weiß ich, ich bin wieder in Deutschland. Die Briten empfinden die Frage als distanz- und respektlos.

Ich habe keine Probleme damit, die Frage zu beantworten. Für mich ist die Antwort darauf weit weniger spektakulär als für die Menschen, die sie mir stellen. Aber manchmal beantworte ich sie dennoch nicht. Dann nämlich, wenn ich das Gefühl habe, jemand fragt respektlos. Mit respektlos meine ich zum Beispiel das Hinterherplärren in Fußgängerzonen oder das Rufen durch den ganzen Linienbus.

Gerne ist der Frage in diesen Fällen dann die Silbe „Ey“ vorangestellt und man duzt mich. Alles schon erlebt. Und auch beantworte ich die Frage nur noch ungerne, wenn sich die fragende Person nicht wenigstens zwei Minuten lang mit mir über das Wetter unterhalten oder sonst irgendeinen Bezug zu mir hergestellt hat.

Ich finde, das hat einfach mit Respekt zu tun. Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch. Das ist einer der Gründe, warum ich Journalistin geworden bin. Aber selbst ich kann meine Neugierde zügeln, wenn ich auf der Straße jemanden sehe, dessen körperliches Merkmal ich mir nicht erklären kann. Ich muss nicht unbedingt wissen, wie alt der Mann ist, der so viele Falten im Gesicht hat und ich muss auch nicht jede Hauterkrankung kennen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Gefahr besteht, dass ich dem Menschen zu nahe trete, wenn ich ihn darauf anspreche, und das möchte ich nicht.

Man muss die Wahrheit schon vertragen können

Manchmal verläuft die Konversation über die Ursache meiner Querschnittlähmung aber auch völlig schräg. Dann nämlich, wenn ich an Leute gerate, die sich erhoffen, ich erzähle ihnen eine Geschichte, nach der sie anschließend nach Hause gehen können mit dem guten Gefühl, dass ihnen das ja nicht passieren könne. Dafür eignet sich meine Antwort ja nun gar nicht. Schon wenn sie die Worte „Querschnittlähmung, Arzt und Spritze“ gehört haben, sagen sie mir, ich solle aufhören. Das wollten sie dann doch nicht hören. Das sind dann wohl die Leute, die hoffen, ich erzähle ihnen, ich hätte mich mit 3 Promille Alkohol im Blut mit dem Auto um einen Baum gewickelt oder ich hätte beim Bungeespringen mein Seil vergessen.

Erst zu fragen, dann aber die Antwort nicht auszuhalten, finde ich allerdings auch nicht gerade respektvoll, passt aber zu der nicht wenig verbreiteten Annahme, dass man von Behinderung in jedem Fall ein Leben lang verschont bleibt. In dem Moment realisieren die Menschen dann, dass ich unbewusst an diesem Weltbild rüttele. Wer also neugierig genug ist zu fragen, muss am Ende die Wahrheit schon vertragen können.

Im Geschäftsleben

Ja, vielleicht bin ich da eigen, aber ich möchte nicht gerne an der Hotelrezeption oder beim Check-In am Flughafen die Ursache meiner Behinderung diskutieren. Andere Kunden werden auch nicht nach ihrem Privatleben oder ihrem Gesundheitszustand befragt. Etwas anderes ist es, wenn ich nach meinem Hilfebedarf gefragt werde. Kein Problem. Das empfinde ich sogar als zuvorkommend, wenn jemand fragt, wie er mir am besten helfen kann. Dafür muss er aber nicht wissen, warum ich im Rollstuhl sitze. Servicemitarbeiter, die solche privaten Fragen stellen, empfinde ich zumindest als nicht sehr professionell.

Kinder dürfen alles

Ganz anders sieht die Sache bei Kindern aus. Die fragen oft sehr direkt und das finde ich gut. Denn sie fragen nie respektlos, sondern wirklich aus Interesse. Die halten auch die Wahrheit aus. Und wenn die Fragen nach der Ursache und warum meine Beine nicht so wie ihre funktionieren abgehakt sind, interessieren sie sich sowieso mehr für die technischen Möglichkeiten des Rollstuhls. Man braucht Kindern deshalb auch nicht den Mund zu verbieten, wie das manche Eltern immer noch tun. Denn vielleicht werden sie so zu den respektlosen Erwachsenen, die dann völlig übergriffig fragen, was sie als Kinder nie fragen durften.

 

Auf dem Weg zur Inklusion – die wichtigsten Themen 2015

Das Jahr hat gerade erst angefangen, aber dennoch ist abzusehen, dass es gerade was Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen angeht, ein wichtiges Jahr werden könnte. Das sind die Themen, die für 2015 auf der Agenda stehen:

Schulische Inklusion

Es war schon 2014 ein Dauerbrenner und wird auch 2015 weiter für Diskussion sorgen: Die schulische Inklusion. Zwar gibt es mit der UN-Behindertenrechtskonvention einen Rechtsanspruch auch für behinderte Kinder eine Regelschule zu besuchen, aber wie dieser Anspruch in die Praxis umgesetzt werden soll, darüber gibt es sehr viel Diskussionsbedarf.

Es fehlt an Konzepten, barrierefreien Schulen, Rückzugsmöglichkeiten, geschulten Lehrkräften, Assistenz und vor alle am Geld. Inklusion ist sicher keine Sparmaßnahme, sondern eine Investition in die Zukunft der Kinder. Wer glaubt, mit schulischer Inklusion sparen zu können, hat nicht verstanden was Inklusion bedeutet: Individuelle Förderung und die kostet Geld.

Staatenprüfung

Die Bundesrepublik Deutschland hat als einer der ersten Staaten die UN-Behindertenrechtskonvention 2007 unterzeichnet und 2009 ratifiziert. Damit ist sie in Deutschland verbindlich und ihre Einhaltung wird regelmäßig von der UNO kontrolliert.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht eine regelmäßige Überprüfung der Vertragsstaaten vor. Bei dieser Kontrolle wird überprüft, ob ein Land die garantierten Rechte für behinderte Menschen auch einhält. Die Staatenprüfung Deutschlands wird in der 13. Sitzung des UN-Fachausschusses in Genf erfolgen, die vom 25. März bis zum 17. April 2015 anberaumt ist. Im Vorfeld musste die Bundesregierung bereits einen Fragenkatalog beantworten. Er enthält 25 Fragen. Es geht bei den Fragen beispielsweise um den Schutz vor Diskriminierung behinderter Menschen oder auch um die Verpflichtung zur Barrierefreiheit von privaten Trägern. Natürlich steht auch das Thema schulische Inklusion auf der Fragenliste.

Nach Abschluss der Staatenprüfung wird der Fachausschuss seine „Abschließenden Bemerkungen“ („Concluding Observations“) veröffentlichen. Das sind konkrete Handlungsempfehlungen, um die Teilhabe behinderter Menschen in Deutschland zu verbessern.

Bundesteilhabegesetz

Dass das Gesetz kommt, steht wohl fest. Die Frage ist, was wird im neuen Teilhabegesetz stehen? Bis Mitte 2015 soll das Bundesteilhabegesetz entwickelt und bis Mitte 2016 im Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Eine der wichtigsten Forderungen ist, Menschen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, nicht länger arm zu halten, sondern die Finanzierung der Assistenz einkommensunabhängig zu regeln, damit auch Menschen wie Raul Krauthausen mehr als 700 Euro mit nach Hause nehmen können, wenn sie arbeiten.

Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen hat einen Gesetzentwurf und ein Eckpunktepapier erarbeitet.

Antidiskriminierungsrichtlinie der EU

Vielleicht wird 2015 das Jahr, in dem Deutschland endlich seine Blockade gegen eine weitere Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union aufgibt, durch die der diskriminierungsfreie Zugang für alle Menschen zu Dienstleistungen und Gütern verankert werden soll.

Was in Großbritannien bereits seit 20 Jahren für behinderte Menschen zum Alltag gehört, könnte bald in der ganzen EU Wirklichkeit werden, wenn Deutschland sich nicht querstellt.

Seit 1995 gibt es im Königreich ein Gesetz, das es Unternehmen und Dienstleistern verbietet, behinderte Menschen zu diskriminieren, ihnen beispielsweise einen schlechteren Service als nichtbehinderten Kunden anzubieten. Außerdem verpflichtet das Gesetz Geschäftsinhaber angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Angebote barrierefrei zu machen.

Ein ähnliches Gesetz europaweit einzuführen, wäre ein Meilenstein auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe behinderter EU-Bürger und anderer Gruppen. Deutsche Behindertenverbände hatten die zuständige Ministerin Manuela Schwesig (SPD) bereits Ende 2014 aufgefordert, ihre Blockadehaltung bei der EU aufzugeben.

Spannendes Jahr

2015 könnte also was diese und andere Themen angeht eine wirklich spannendes Jahr werden. Ich hoffe, ich schaue in 12 Monaten nicht enttäuscht zurück.

 

Mit Punk­ten zu mehr Chancengleichheit

„Mit Punk­ten zu mehr Chan­cen­gleich­heit“ überschrieb die Christoffel-Blindenmission (CBM) ihre Pressemitteilung zum Welt-Braille-Tags am 4. Januar, der auf die Bedeutung der Punktschrift Braille für blinde Menschen aufmerksam macht. Und in der Tat hat wohl kaum eine andere Entwicklung die Chancen und vor allem Bildungsmöglichkeiten blinder Menschen so nachhaltig verbessert wie die Erfindung der Blindenschrift Braille.

Louis Braille

Erfunden wurde sie 1825 von einem jungen blinden Franzosen namens Louis Braille. Die Punktschrift ermöglicht es bis heute blinden Menschen auf der ganzen Welt mit tastbaren Punkten zu lesen und zu schreiben, vor allem in Ländern, in denen nicht jeder einen Computer hat, auf dem man eine Sprachausgabe installieren kann, die den Bildschirminhalt vorliest.

Louis Braille war seit seinem dritten Lebensjahr erblindet. Er hatte sich mit einer Ahle, einem Gerät, mit dem man Löcher stechen kann, am Auge verletzt. Beide Augen entzündeten sich, worauf Louis Braille erblindete. Dennoch wollte der Junge später unbedingt lesen lernen.

Er wurde 1809 in der Nähe von Paris geboren. Er ging erst auf eine Regelschule, aber hörte irgendwann von einer Blindenschule in Paris und hoffte, dort lesen lernen zu können. Aber auch diese Schule hatte nur sehr wenige, mit tastbaren Buchstaben ausgestattete Bücher. Die Buchstaben nahmen viel Platz weg und die Bücher waren teuer in der Anschaffung. Außerdem dauerte es sehr lange, die Bücher zu lesen, weil man jeden Buchstaben abtasten musste.

Louis Braille wollte, dass blinde Menschen so schnell lesen konnten wie Sehende. Irgendwann hörte er von einem Punkt-Strich-Codesystem, das in der französischen Armee verwendet wurde, um nachts Botschaften zu übermitteln. Die Soldaten konnten die Botschaften ertasten. Louis Braille besorgte sich diesen Code, aber dieser war immer noch sehr mühsam zu lesen. Auf jede Seite passten nur ein oder zwei Sätze.

Louis Braille entwickelte auf Grundlage des Armee-Systems ein System mit erhabenen Punkten und verzichtete auf die Striche. Für das Erstellen der erhabenen Punkte nutzte er das gleiche Werkzeug, die Ahle, mit der er sich als Kleinkind am Auge verletzt hatte. Er entwickelte ein ganzes Alphabet, bestehend aus maximal sechs Punkten pro Buchstabe.

Pädagogen waren gegen die Punktschrift

Obwohl das Punktschriftalphabet einfach zu lernen und zu verstehen war, setzte es sich lange nicht durch. Selbst als Louis Braille mit einem öffentlichen Vortrag beweisen wollte, wie schnell man Braille lesen kann, glaubten die Zuhörer, er habe den Vortrag auswendig gelernt und lese gar nicht vom Punktschriftdokument ab.

Auch von den Lehrern der Blindenschule in Paris bekam er keine Unterstützung. Der Direktor lehnte die Punktschrift sogar ab und verbot sie an der Schule, denn er war der Auffassung, dass eine Schrift, die Sehende nicht nutzen, die blinden Schüler isolieren würde. Dabei war das Gegenteil der Fall. Die Schrift verhalf und verhilft blinden Menschen bis heute sich selbstständig zu bilden und zu informieren.

Die Anerkennung der Schrift erfolgte erst 1850 als sie an französischen Blindenschulen eingeführt wurde. Deutschland brauchte weitere 30 Jahre, um die Punktschrift einzuführen bis es 1879 endlich soweit war.

Nichts über uns ohne uns

Weltweit gibt es 39 Millionen blinde Menschen, rund 90 Prozent leben laut CBM davon leben in Entwicklungsländern. Dort fehlt es häufig an Hilfsmitteln wie Computer und Vorlesegeräte, die für die meisten blinden Menschen in Deutschland mittlerweile Standard sind. Aber auch in Deutschland nutzen blinde Menschen immer noch Braille, um beispielsweise Vorträge zu halten oder einfach weil sie gerne Punktschrift lesen. Außerdem bleibt Punktschrift wichtig, um blinden Menschen Informationen zu geben, in Fahrstühlen, auf Hinweisschildern etc.

Louis Braille ist bis heute ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, nicht etwas „für“ behinderte Menschen zu tun, sondern „mit“ ihnen. Wäre es nach den Sonderpädagogen der Blindenschule gegangen, könnten blinde Menschen bis heute nicht selbstständig lesen.

 

Was 2014 für behinderte Menschen gebracht hat

Kaum ein anderer Begriff war 2014 so in aller Munde wie das Wort „Inklusion“. Aber wie weit sind wir 2014 mit der Inklusion vorangekommen?

Bildung

Noch immer wird der Begriff „Inklusion“ in erster Linie dann benutzt, wenn es um den Bildungsbereich geht. Auch 2014 wurde mehr über schulische Inklusion diskutiert als über die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen.

Keine Frage, der schulische Bereich ist wichtig, denn er legt den Grundstein für die Bildung behinderter Kinder, die bislang stellenweise sehr zu Wünschen übrig ließ.

Wissenschaftler zweier seriöser Studien kamen zu dem Schluss, dass Kinder mit Förderbedarf mehr und besser lernen, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Eine Erkenntnis, die 2014 für viel Aufmerksamkeit sorgte. Zudem gibt es mit der UN-Behindertenrechtskonvention einen Anspruch auf inklusive Beschulung.

Politik

Politisch gab es schon zu Beginn des Jahres eine Überraschung. Die Bundesregierung ernannte Verena Bentele zu ihrer Behindertenbeauftragten. Hubert Hüppe musste den Hut nehmen. Bentele ist blind und ehemalige Paralympics-Sportlerin. Mit ihrer Ernennung kam die Bundesregierung der Jahrzehnte alten Forderung behinderter Menschen und deren Verbände nach, endlich eine Person mit Behinderung selbst in dieses Amt zu hieven. Insofern war es ein lange erwarteter Meilenstein in der deutschen Behindertenpolitik.

Dennoch waren die meisten überrascht, denn Verena Bentele ist weder in der politischen Behindertenbewegung sonderlich verwurzelt noch brachte sie ein großes politisches Profil mit. Bentele kam, setzte sich in viele Talkshows, erzählte viel vom Sport und über ihr Buch, nur über ihr Amt und wie sie es ausfüllen möchte erzählte sie 2014 viel zu wenig. Aber immerhin unterstützt sie die Forderung nach einem Teilhabegesetz, das behinderten Menschen ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen soll.

Recht

Inklusion und die Teilhabe von behinderten Menschen hängt nicht zuletzt von rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Am 30. Juni 1994 beschloss der Deutsche Bundestag den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Für viele, die damals am politischen Prozess beteiligt waren, war 2014 ein Grund, das Jubiläum zu feiern. Es war aber auch ein guter Anlass, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, dass endlich jetzt ein gutes Bundesteilhabegesetz folgen muss.

Dass rechtliche Rahmenbedingungen sogar das nächste Lebensumfeld betreffen können, machte in diesem Jahr ein Urteil eines Gerichts in Bonn deutlich. Die Mutter einer behinderten Tochter wurde im März verurteilt, ihre Tochter ruhig zu stellen. Nachbarn hatten sich über die Schreie und Klopfen beschwert und sind vor Gericht gezogen. Wenn die Mutter ihre Tochter nicht zur Ruhe bringt, drohen ihr Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Wie genau sie das machen soll, ließ das Gericht offen.

Und sonst so?

Wer erinnert sich nicht an den Ice Bucket Challenge? Er sollte für die Krankheit ALS Aufmerksamkeit sorgen und Spendengelder eintreiben. Das Geld sammeln hat wohl gut geklappt. Bei Ersterem habe ich so meine Zweifel. Nicht repräsentative Stichproben in meinem persönlichen Umfeld zum Jahresende haben ergeben, kaum einer kann sich erinnern, um was es eigentlich noch einmal genau ging.

Und erst heute morgen las ich auf Twitter von einer Frau, die sich bei ihrer Bank beschwerte, weil diese sich weigerte mit der Frau zu telefonieren, da sie aufgrund von ALS einen Sprachcomputer nutzt.

Ich bleibe dabei, Wasser über den Kopf kippen ist lustig, spenden ist gut, aber am Ende kommt es darauf an, wie man mit den Menschen im Alltag umgeht. Da habe ich weiterhin so meine Zweifel, ob der Ice Bucket Challenge ein großer Erfolg war.

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass 2015, was die Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen angeht, etwas größere Schritte folgen als 2014.

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr und alles Gute für 2015!

 

Prothese als Kunst

Ihre Prothese ist mal ein Metallstachel, mal ist sie mit vielen Glitzersteinen verziert, mal leuchtet sie und Motten schwirren um das künstliche Bein herum. Dann sitzt Viktoria Modesta ganz ohne Prothese nackt auf dem Bett und man sieht ihr amputiertes Bein. Fast könnte man meinen, ein Video von Lady Gaga zu sehen. Der Stil von Viktoria Modesta ist ähnlich und doch unterscheidet sie vor allem eines: Sie hat eine Prothese und feiert diese als Kunstobjekt in ihrem Video.

Viktoria Modesta macht gerade als Sängerin und Modell eine steile Karriere. Sie war bei der Abschlusszeremonie der Paralympics in London zu sehen und jetzt ist ist sie mit ihrem neuen Musik-Video für den Song Prototype in den Medien, das auch in der Pause zur britischen Castingshow X-Factor zu sehen war. Die Zugriffszahlen auf das Video liegen im zweistelligen Millionenbereich beim Fernsehsender Channel4, der das Video produziert hat. Auch bei YouTube haben unterdessen fast vier Millionen Menschen das Video gesehen.

Amputation als Befreiungsschlag

Vor sechs Jahren ließ sich die Künstlerin ihr Bein abnehmen, nachdem sie durch einen Geburtsfehler immer wieder Probleme mit dem Bein hatte und viele Operationen über sich ergehen lassen musste sowie große Teile ihrer Kindheit in Krankenhäusern verbrachte. Es hat lange gedauert, bis sie einen Arzt fand, der bereit war, ihr das Bein abzunehmen, aber seitdem hat sich ihr Leben schlagartig verändert.

Der Fernsehsender Channel4 startet jetzt mit ihr die Kampagne „Born Risky“, eine Kampagne, die körperliche Unterschiede als etwas Positives feiert. Seit den Paralympics 2012 ist der britische Sender Channel4 zu einem der innovativsten Sender weltweit geworden, wenn es um das Thema Behinderung geht.

Die Sendung The Last Leg ist beispielsweise seit den Paralympics eine der beliebtesten Sendungen des Senders. Gesendet zur besten Sendezeit am Freitagabend und moderiert von Adam Hills, einem australischen Comedian, der eine Beinprothese trägt. Auch einer seiner beiden Co-Moderatoren, Alex Brooker, hat eine Behinderung und trägt eine Prothese.

Das Bild von Behinderung verändern

Viktoria Modesta will mit ihren Auftritten und ihrem Video vor allem das Bild behinderter Menschen in den Medien und im Alltag verändern.

Forget what you know about disability (Vergiss, was Du über Behinderung weißt) steht am Anfang ihres Videos und das ist wohl auch ihr Anliegen. Sie will, den Blick auf das Thema verändern und Vorurteile aufbrechen.

Deutsche Fernsehmacher schauen sich viel bei britischen Sendern ab. Es wäre zu wünschen, dass das auch bei solchen Projekten der Fall wäre. Channel4 will das Bild behinderter Menschen in den Medien aktiv verändern. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich das andere Sender weltweit abschauen würden. Es wird gerade sehr in, Behinderung nicht mehr defizitbetont zu betrachten und das ist wirklich begrüßenswert, denn das verändert langfristig auch die Art, wie Fernsehmacher mit dem Thema umgehen. Wer modernes Fernsehen machen will, muss weg von defizitorientierten Tränendrüsensendungen und hin zu Modesta und anderen Stars, die ein positives Bild behinderter Menschen vermitteln.