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Die Angst vor dem Druck

Leere Rollstuehle mit Plakaten

„Wenn ich deine Behinderung hätte, hätte ich mich schon umgebracht“, „Ich könnte nicht so leben wie du“ – ganz egal, wie es formuliert wird, aber die Erfahrung, dass der Wert des eigenen Lebens von anderen infrage gestellt wird, machen viele behinderte Menschen. Oft lassen sich solche Reaktionen mit Unwissenheit darüber erklären, was auch mit einer Behinderung möglich ist. Manchmal liegt es auch einfach an einem sehr oberflächlichen Weltbild oder es schwingt die Angst mit, im Falle eines Falles alleine dazustehen und nicht genug Hilfe zu bekommen.

Lebenswert verteidigen

Was immer die Motive für diese Aussagen sind, wohl kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe muss so oft erklären, dass ihr Leben doch lebenswert ist, wie behinderte Menschen. Auch wenn die Aussagen manchmal bewundernd gemeint sind oder eigentlich Empathie ausdrücken sollen, in der Mehrheit der Fälle wirken solche Aussagen eher bedrohlich als positiv.

Demonstration

Gerade gab es vor dem britischen Parlament eine Demonstration von Menschen mit Behinderungen, die sich gegen eine Änderung des Gesetzes zur Sterbehilfe einsetzen. Auch behinderte Mitglieder des Oberhauses setzen sich gegen die Gesetzesinitiative ein. In Österreich kämpft der behinderte Parlamentsabgeordnete Franz-Joseph Huainigg dafür, dass aktive Sterbehilfe dauerhaft verboten bleibt. Er ist Rollstuhlfahrer, auf Assistenz angewiesen und braucht ein Beatmungsgerät. Auch viele österreichische Behindertenverbände lehnen die aktive Sterbehilfe ab. In Deutschland hat der Tod Udo Reiters die Debatte um aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid weiter angeheizt.

Auch in den USA gibt es eine Bewegung von behinderten Menschen, die gegen die aktive Sterbehilfe, wie sie im Staat Oregon praktiziert wird und die jetzt Vorbild für europäische Länder werden soll, eintritt. Not Dead Yet („Noch nicht tot“) ist ein Zusammenschluss von behinderten Menschen, die dagegen kämpfen, dass ihr Leben als lebensunwert betrachtet und Sterbehilfe als Ausweg angeboten wird.

Der Tod als Sparmaßnahme?

Während in Deutschland die Kritiker gegen die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe in erster Linie von kirchlicher Seite und der Hospizbewegung kommen, wird in Großbritannien der Kampf gegen das Gesetz vor allem von behinderten Menschen angeführt – und das sehr lautstark. Sie haben Angst, dass alte und behinderte Menschen künftig gezwungen oder zumindest stark unter Druck gesetzt werden könnten, sich für den schnellen Tod statt für teure Assistenz- und Medizinleistungen zu entscheiden. Assistierter Suizid als Sparmaßnahme.

Nicht wenige behinderte Menschen haben irgendwann in ihrem Leben selber einmal die Prognose bekommen, dass sie den Unfall oder die Erkrankung nicht überleben werden und sicher bald sterben werden, leben aber entgegen der Prognose weiterhin.

Deshalb misstrauen sie den Prognosen der Medizin und sehen sie nicht als verlässlichen Partner beim Umgang mit dem Sterben an. Zudem befürchten sie, dass Angehörige Druck machen könnten, wenn durch die hohen Pflegekosten das Erbe in Gefahr ist oder die Familie anderweitig belastet wird. Viele haben Angst vor einem Dammbruch.

Viele haben Angst vor dem Druck

Die britische Behindertenorganisation Scope hat mehr als tausend behinderte Menschen zu ihrer Meinung zur aktiven Sterbehilfe befragen lassen. 64 Prozent gaben an, sie seien besorgt über den Schritt, assistierte Selbsttötung zu legalisieren. Bei jungen Befragten lag die Quote sogar noch höher. 62 Prozent befürchten, es könnte Druck auf behinderte Menschen ausgeübt werden, ihr Leben frühzeitig zu beenden.

Sehr interessant sind auch die Ergebnisse zur gesellschaftlichen Akzeptanz von behinderten Menschen. Zwei Drittel der Befragten gab an, dass sie glauben, dass behinderte Menschen oft als Belastung für die Gesellschaft angesehen werden. Drei von fünf Befragten hatten den Eindruck, dass das Leben behinderter Menschen oft nicht so wertgeschätzt wird wie das nicht behinderter Menschen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen werde infrage gestellt, sagten 66 Prozent der Befragten.

So ist es nicht verwunderlich, dass viele behinderte Menschen die aktive Sterbehilfe nicht als Wahlmöglichkeit ansehen, sondern als Damoklesschwert, das über ihnen hängt oder wie der österreichische Abgeordnete Franz-Joseph Huainigg es zusammenfasste: „Jede Euthanasie-Gesetzgebung baut Druck auf behinderte Menschen auf.“

 

Gold für Inklusion

Behinderte Leichtathleten können künftig an Wettkämpfen von nicht behinderten Sportlern teilnehmen. Prima, wurde auch Zeit. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat das jetzt beschlossen, allerdings wird es keine gemeinsame Wertung von behinderten und nicht behinderten Sportlern mehr geben. Auslöser war die Diskussion um den Leichtathleten Markus Rehm, der mit einer Prothese beim Weitsprung bei den Deutschen Meisterschaften startete – und gewann. Der Verband hat jetzt entschieden, Rehm darf seinen Titel behalten, weil es derzeit nicht nachweisbar sei, dass er durch die Prothese einen Vorteil habe. So lange das wissenschaftlich aber nicht geklärt sei, würden behinderte und nicht behinderte Sportler in Deutschland nicht mehr gemeinsam gewertet.

Seit sich Oscar Pistorius einen Platz bei den Olympischen Spielen in London erkämpft hatte und wenige Wochen später bei den Paralympics startete, muss man sich die grundsätzliche Frage stellen, warum der Sport von nicht behinderten Menschen und der Behindertensport so stark von einander getrennt sind. Insofern ist es ein gutes Zeichen, dass der DLV nun einen Schritt hin zu Inklusion macht.

Ich halte das für einen guten Kompromiss, so lange die Wissenschaft nicht mehr Erkenntnisse darüber hat, ob Prothesen beim Laufen oder beim Weitsprung einen Vorteil darstellen. Wenn die Ergebnisse allerdings vorliegen, spricht nichts dagegen, wieder gemeinsam werten zu lassen. Denn ein bisschen schwingt bei der Debatte schon mit, dass man einfach nicht glauben kann, dass jemand mit einer Behinderung die gleichen Leistungen erbringen kann wie jemand ohne Behinderung – ein beliebtes Vorurteil übrigens, nicht nur im Sport.

Zwei Spiele statt Inklusion

Schon bei Olympia in London konnte mir niemand wirklich schlüssig erklären, warum es  Olympische Spiele und Paralympics geben muss:. Warum kann man nicht ein Rollstuhlbaskettballspiel ansetzen, gefolgt von einem Basketballspiel von nicht behinderten Spielern? Warum lässt man nicht nur auf nationaler sondern künftig auch auf internationaler Ebene behinderte und nicht behinderte Leichtathleten miteinander starten, die dann aber getrennt gewertet werden? Das würde es behinderten Sportlern leichter machen, Sponsoren zu finden, denn plötzlich gibt es nur noch „die Spiele“ oder „die Weltmeisterschaft“ und keine getrennten Veranstaltungen mehr.

Bevor ich die Paralympics 2012 in London selbst erlebt hatte, empfand ich sie als eine ziemlich klischeemässige Behindertenveranstaltung. Dann habe ich aber Tage in Stadien und anderen Sportstätten verbracht. Das hat meine Sicht zwar verändert. Aber warum sollen es zwei Spiele sein? Nach ausverkauften Spielstätten in London vor begeistertem Publikum ist klar, dass die Zuschauer bei einem Rollstuhlbasketballspiel genauso mitgehen können, als wenn Leute auf zwei Beinen übers Spielfeld rennen.

Aufmerksamkeitsgewinn oder Verlust?

Oft sind es vor allem die behinderten Sportler, die Angst haben, dass sie untergehen, wenn ihre Wettkämpfe nicht mehr in getrennten Meisterschaften oder bei den Paralympics ausgetragen werden. Sie haben Angst, dass sich niemand mehr für sie interessiert, wenn sie um die Aufmerksamkeit und Popularität mit nicht behinderten Sportlern kämpfen müssen.

Meines Erachtens tun sie das aber jetzt schon und verlieren im Kampf um die Aufmerksamkeit, weil sie mit den getrennten Veranstaltungen schlechtere Chancen haben. Nicht alle Fernsehanstalten räumen den Paralympics die Aufmerksamkeit ein, die sie eigentlich verdient hätten.

Gerade der Sport hat große Möglichkeiten, Vorbild für andere Gesellschaftsbereiche zu sein, wenn es um Inklusion geht. Deshalb: Die Debatte in der Leichtathletik kann nur der Anfang sein. Es ist Zeit, sie auch in anderen Sportarten zu führen und die Paralympics in die Olympischen Spiele zu integrieren.

 

Rollstuhl reparieren beim Friseur

Ich war heute beim Friseur. Mein Rollstuhl wurde dort repariert. Ja, ernsthaft. Als ich vor der Tür aus dem Auto stieg, fiel der Kopf einer Schraube an meinem Rollstuhl einfach ab. Der Rest der Schraube steckte noch im Rollstuhl. Es ist eine Schraube, die mein Rückenteil des Rollstuhls festhält. Ohne die fährt es sich schlecht bis gar nicht.

Die modernen Rollstühle wiegen kaum noch etwas, es gibt kaum noch Teile daran, alles ist festverschweißt oder in einem Stück gegossen. Das macht sie leicht und wendig. Mein Rollstuhl hat vielleicht alles in allem nicht einmal zehn Schrauben und Nieten. Geht eine davon kaputt, meist durch Materialermüdung, dann strande ich auch schon mal irgendwo. So wie heute. Ich hatte aber Glück, der Mann meiner Friseurin war da und hat mir den Rest der Schraube rausgeholt und eine neue eingesetzt. Während ich die Haare geschnitten bekam, wurde also mein Rollstuhl repariert.

Mit gebrochenen Schrauben fängt es an

So etwas passiert mir nicht zum ersten Mal. Nach mehr als 30 Jahren als Rollstuhlfahrerin weiß ich, gebrochene Schrauben sind ein ernstes Anzeichen dafür, dass ein neuer Rollstuhl bald fällig ist. Stichwort: Materialermüdung. Meinen vorletzten Rollstuhl fuhr ich sieben Jahre lang bis ich am Ende einen doppelten Achsenbruch hatte, der notdürftig geschweißt werden musste. Ich hing irgendwie an ihm, deshalb wollte ich ihn nicht weggeben, stand aber am Ende fast ohne funktionstüchtigen Rollstuhl da.

Ja, ich gebe zu, ich behandele meinen Rollstuhl nicht sehr pfleglich. Ich springe Stufen hoch und runter (aber nie mehr als eine), er wird in Flugzeuge verladen und das sicher nicht immer mit Samthandschuhen, und ich bin ständig „auf Achse“ und nicht zu Hause, wo mir nur sehr selten eine Schraube bricht.

Gelbe Engel auch für Rollstühle

Mein Highlight bislang war eine gebrochene Schraube auf dem Bürgersteig vor dem Jüdischen Museum in Berlin. Ich konnte keinen Meter mehr fahren, einfach gar nicht mehr und habe in meiner Not dann irgendwann den ADAC angerufen und der nette ADAC-Mann hat mir tatsächlich die Schraube entfernt und eine neue eingesetzt. Das Hauptproblem ist dabei nicht, eine neue Schraube einzusetzen, sondern die Überreste der Alten wieder rauszukriegen. Wieder hinein drehen kann ich selber, aber ausbohren eher nicht so. Man hat ja nicht immer einen Bohrer oder eine Zange dabei. Einen Schraubenschlüssel habe ich unterdessen so gut wie immer dabei.

Ich saß schon an den komischsten Orten und habe zugesehen, wie ein netter Mensch mir den Rollstuhl reparierte. Auf Bürgersteigen, in Hotellobbys oder jetzt eben beim Friseur. Wichtigste Regel: Seufzen, cool bleiben und dann nach einer Lösung suchen. Es wird sich schon eine finden. War bislang immer so und die Rate handwerklich begabter und hilfsbereiter Menschen ist definitiv höher als man so denkt.

So lernt man auch schon mal den Hausmeisterdienst von Hotels, Bahnhöfen oder Restaurants kennen. Und ich kann eines sagen: Guter Service und Hilfsbereitschaft zeigt sich in solchen Situationen mehr als irgendwann anders und derjenige kann sich meiner Dankbarkeit auf ewig sicher sein.

Dies ist schon das zweite Schraubenproblem diese Woche. Erst gestern verweigerten die Schrauben meines Fußbretts ihren Dienst und dieses fiel einfach in der U-Bahn nach unten. Ich konnte sie gestern festziehen, aber sie sind definitiv ausgeleiert. Ich glaube die Tage dieses Rollstuhls sind echt gezählt, wenn ich nicht wieder einen Achsenbruch haben möchte.

 

Inklusion nicht nach 21 Uhr

Am Sonntag kam ich an einem Schild vorbei, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass man zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts die Treppe nehmen solle. Der Fahrstuhl würde in dieser Zeit abgestellt. Es war bei Weitem noch nicht ein Uhr, sodass ich noch aus dem Gebäude herauskam. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wer sich so etwas ausdenkt.

Eine Ausnahme? Von wegen. Fahrstühle, die nachts abgestellt werden, kommen immer mal wieder vor. Auch in Bereichen, die auch nachts genutzt werden. Was mich daran fast noch mehr ärgert als der Umstand, dass ich dann dort nicht mehr hinein- oder herauskomme, ist die Einstellung, die sich dahinter verbirgt: Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben spät nachts zu Hause zu bleiben, deshalb kann man den Fahrstuhl ja abschalten.

Vor Jahren bin ich mal in einer Stuttgarter U-Bahn-Station gestrandet, weil jemand noch vor Abfahrt des letzten Zuges den Fahrstuhl der Station ausgeschaltet hatte. Der herbeigerufene Sicherheitsdienst erklärte mir dann auch gleich im entrüsteten, fast schon tadelnden Tonfall, dass Rollstuhlfahrer so spät normalerweise nicht unterwegs seien. Inklusion bitte nicht nach 21 Uhr.

Noch nie auf einem Konzert

Die Organisation Mencap hat jetzt in London ein Konzert veranstaltet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, nach 21 Uhr am sozialen Leben teilzunehmen. Oft sind es nicht nur bauliche Probleme, die das verhindern, sondern auch organisatorische. Ist noch jemand da, um jemanden, der auf Assistenz angewiesen ist, mitten in der Nacht ins Bett zu bringen? Wer hilft einem Menschen mit Lernschwierigkeiten, mitten in der Nacht nach Hause zu kommen? Eine der beiden Moderatorinnen des Konzerts – eine junge Frau, die selbst eine Lernbehinderung hat – war zuvor noch nie auf einem Konzert. Was für nicht behinderte 18-Jährige normal ist, war für die Moderatorin eine einmalige Ausnahme.

Gerade wenn Menschen in Einrichtungen leben und nicht selbstbestimmt in der eigenen Wohnung wohnen, müssen sie sich oft an den Ablauf der Einrichtung anpassen. Konzert- und Kinobesuche nur nach Anmeldung, wenn überhaupt. Inklusion sieht anders aus.

Die späte Buchung verrät die Identität

Wer als behinderter Mensch nach 21 Uhr unterwegs ist, bekommt auch schon mal gesagt, wie ungewöhnlich das sei. Ich bin ständig nach 21 Uhr unterwegs. Wenn ich mir spät ein Taxi bestelle, um nach Hause zu fahren, ist es mir mehrfach passiert, dass ein Fahrer kam, den ich schon kannte. Das ist in einer Millionenstadt wie London mit 20.000 Taxis wirklich sehr ungewöhnlich. „Ich habe gleich gewusst, dass Sie es sind, als ich die Buchung sah. Ist ja schon spät, da fahren nur noch Sie mit der Taxicard. Ich wollte eigentlich nach Hause fahren, aber ihr Zuhause liegt ja auf meinem Weg“, kriege ich dann manchmal zu hören. Eine Taxicard ist ein System, das in London die Fahrdienste ersetzt und mit dem Rollstuhlfahrer und blinde Menschen preiswert Taxi fahren können. Natürlich wissen die Fahrer eigentlich nicht, wer die Fahrt gebucht hat, bevor sie sie annehmen. Aber sie sehen, dass es eine Taxicard-Buchung ist.

Es ist spät, da bucht eine Rollstuhlfahrerin im Südosten Londons: Allein über diese Angaben wissen die Fahrer also schon, dass ich das sein muss. Und weil sie mich kennen und wissen, wo ich wohne und das auf ihrem Weg liegt, nehmen sie die Fahrt an. Nun könnte ich mich über meinen Taxi-VIP-Status in London freuen. Tue ich aber nicht, denn es zeigt nur, dass der Weg zur Inklusion noch weit ist.

Nicht zum Nulltarif

Es muss triftige Gründe dafür geben, warum so wenige behinderte Menschen spät abends unterwegs sind. Genau diese Gründe sind es, die die Inklusion behindern, und ich ahne, welches der wichtigste ist: fehlende Assistenz. Ist diese nicht gegeben, kann man sein Leben nicht selbst bestimmen. Ein weiteres Problem sind Strukturen, die einem sagen, wann man zu Hause zu sein hat, sowie die Einstellung, behinderte Menschen hätten abends und nachts zu Hause zu sein, und dass es auch keinen Grund gebe, das zu ändern.

Die Lösung für dieses Problem lautet in vielen Fällen persönliche Assistenz statt Heim oder Pflegedienst. Wenn mehr behinderte Menschen selbst bestimmen könnten, was sie mit ihrem Leben machen und wann sie es tun, würde das Fahrstuhl-Ausschalten aufhören und auch nach 21 Uhr könnte man auf viel mehr Menschen mit Behinderungen treffen. Ja, das alles kostet Geld, aber Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht einmal vor 21 Uhr.

 

Kein Organ für Muhammet

Das Landgericht Gießen hatte heute über Leben und Tod eines zweijährigen Jungen zu entscheiden. Der türkische Junge Muhammet war im März nach Deutschland gekommen, um an der Uniklinik Gießen ein Spenderherz zu bekommen. Doch kurz vor der Abreise erlitt der Junge einen Herzstillstand und hat seitdem eine Hirnschädigung. Kann ein Kind mit dieser Schädigung ein Transplantationsorgan bekommen? Die Ärzte der Uniklinik sagen Nein und dieser Auffassung schloss sich heute auch das Landgericht an.

Diskriminierung?

Der Anwalt der Familie, Oliver Tolmein, spricht von Diskriminierung aufgrund der Behinderung des Jungen. Die Begründung, ein Kind mit einer Hirnschädigung, könne allein wegen dieser Hirnschädigung kein Herztransplantat erhalten, stellt seiner Meinung nach eine Benachteiligung wegen der Behinderung dar. Diese ist durch Artikel 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz und durch Artikel 25 UN-Behindertenrechtskonvention untersagt.

Unter Umstände müsse dabei auch geprüft werden, ob die Allgemeinen Grundsätze für die Aufnahme in die Warteliste in der vorliegenden Form gegen das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen verstoßen und ob sie auf einer rechtlich tragfähigen Grundlage stehen, so Anwalt Tolmein – in der Vergangenheit ist das von Experten und Organisationen mit guten Gründen bezweifelt worden.

Misstrauen

Unter vielen behinderten Menschen gibt es schon lange ein gewisses Misstrauen gegenüber der Medizin und wie sie mit Menschen mit Behinderungen im Ernstfall umgeht. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir Freunde, die eine Behinderung haben, hinter vorgehaltener Hand gesagt haben, dass sie ihren Organspendeausweis vernichtet haben oder sich gar keinen angeschafft haben, weil sie Angst haben, dass bei ihnen die Maschinen schneller abgeschaltet werden als bei einem anderen Menschen, weil ihr Leben als weniger lebenswert eingestuft werden könnte.

Ich kenne zudem zwei Fälle in meinem Umfeld, bei denen der behinderte Patient selbst sowie Eltern eines behinderten Kindes einen Vermerk in der Krankenakte fanden, dass der Patient im Ernstfall nicht zu reanimieren sei – und das obwohl niemals jemand mit ihnen darüber gesprochen hatte, wie sie bzw. das Kind denn in solch einem Fall behandelt werden soll.

Umgekehrt befürchten einige, dass es für sie viel schwieriger sein könnte, auf die Transplantationsliste zu kommen. Vor allem Menschen mit schweren Behinderungen, die auf Rund-um-die-Uhr-Assistenz angewiesen sind, befürchten, im Falle eines Falles leer auszugehen. Dass das nicht ganz unbegründet sein könnte, zeigt jetzt der Fall des kleinen Muhammet.

Gesetzgeber gefragt

Anwalt Oliver Tolmein ist, anders als das Gericht, nicht davon überzeugt, dass keine Diskriminierung vorliegt. Er will notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um durchzusetzen, dass auch ein so schwer behindertes Kind wie Muhammet ein Spenderorgan erhalten kann.

Bei solchen Fällen ist auch der Gesetzgeber gefragt, der es seiner Meinung nach versäumt hat, eine Vielzahl von wichtigen Fragen des Transplantationsrechts zu regeln, darunter auch, ob auch sehr eingeschränkte behinderte Menschen ein Anrecht auf ein Spenderorgan haben. Der Organspendebereitschaft von Menschen mit Behinderungen hat der Fall schon jetzt sicherlich geschadet.

 

Oscar Pistorius – Behinderung als Verteidigungsstrategie

Fünf Jahre Gefängnis lautet nun also das Urteil gegen Oscar Pistorius. Der Paralympics-Sprinter muss wegen fahrlässiger Tötung seiner Freundin ins Gefängnis. Voraussichtlich muss er davon knapp ein Jahr im Gefängnis verbringen, den Rest der Strafe könnte in Hausarrest umgewandelt und später ein Teil erlassen werden.

Ich habe den Prozess gegen Pistorius mit Interesse verfolgt. Er war eines der Gesichter der Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012, ich habe ihn dort im Stadion laufen sehen und auch im Vorfeld der Spiele war Pistorius sehr präsent. „Don’t look at the legs, look at the records“ (Schau nicht auf die Beine, schau auf die Rekorde) – mit diesem Werbespruch warben die Paralympics auf Großplakaten und Anzeigen für den Ticketverkauf in Großbritannien. Darauf war der sprintende Oscar Pistorius zu sehen.

Bitte jetzt doch beachten

Daran musste ich denken als ich die letzte Verteidigungsstrategie von Pistorius’ Verteidiger hörte. Zwei Jahre später wollte Pistorius genau das Gegenteil von dem, was er sonst immer in Interviews gesagt hat. Man sollte seine amputierten Beine nun doch beachten. Plötzlich sollten sie der Grund sein, warum er seine Freundin getötet hat, warum er überhaupt in diese Lage kam, warum er glaubte, sich bewaffnen zu müssen, warum es ihm nicht zumutbar sei, eine Gefängnisstrafe abzusitzen.

Pistorius wollte immer als nicht behindert wahrgenommen werden. „Ich bin nicht behindert, ich bin nur anders“, sagte Pistorius mal. Der gleiche Oscar Pistorius, der immer so viel Wert darauf legte, normal und angeblich nicht behindert zu sein, der sich mit nicht behinderten Sportlern gemessen hat, führte dann plötzlich seine Behinderung an, um ein milderes Urteil zu bekommen.

Es gibt sicher Situationen, in denen man vor Gericht die Behinderung eines Angeklagten berücksichtigen muss, beispielsweise wenn der Angeklagte behinderungsbedingt nicht verstanden hat, was er anrichtet. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass eine Behinderung automatisch mildernde Umstände bringen sollte. Es ist gut, dass die Richterin bei Pistorius das auch so gesehen hat. Solange gewährleistet ist, dass Pistorius im Gefängnis beispielsweise seine Prothesen nutzen kann und die Unterstützung bekommt, die er benötigt, sollte er die gleiche Strafe bekommen wie jeder nicht behinderte Angeklagte auch.

Behinderte Menschen als Opfer

Umgekehrt muss ich aber sagen, dass mich die Zahl von Tötungsdelikten und anderen Straftaten in den vergangenen Jahren beunruhigt, bei denen Menschen mit Behinderungen die Opfer sind, aber die Täter genau deshalb mildernde Umstände geltend machen und oft auch gewährt bekommen.

Das betrifft vor allem Verwandte, die ihre behinderten Angehörigen umbringen. Gerade wurde in London die Mordanklage gegen eine Mutter fallen gelassen, die ihre drei kleinen Kinder umgebracht hat. Die Kinder hatten alle eine Muskelerkrankung. Die Mutter hätte das Leiden der Kinder beenden wollen, hieß es.

Leid als Motiv

Nun habe ich zufällig einige Freunde mit genau der Form der Muskelerkrankung, die auch die drei Kinder hatten – spinale Muskelathrophie (SMA) Typ 2. Es wird sehr schnell von Leid gesprochen, wenn es um Behinderungen geht. In diesem Fall sah sich die Mutter dazu berufen, dieses vermeintliche Leiden ihrer Kinder zu beenden. Keinem meiner Freunde, die SMA haben, würde ich ein leidvolles Leben bescheinigen. Sie leben alle mit Assistenz ein selbstbestimmtes Leben im Rollstuhl. Es ist für mich ein unfassbarer Gedanke, dass jemand ihr Leben beenden könnte, weil er oder sie sich berufen fühlt, ein Leiden zu beenden.

Ich verstehe, wenn Menschen mit der Pflege ihrer Angehörigen oder Kinder teilweise überfordert sind. Aber das kann niemals ein Grund sein, jemanden gegen seinen Willen zu töten, zumal die Familie wohl auch noch sehr wohlhabend war und Geld in dem Fall nicht das Problem war. Mir macht Angst, dass immer wieder Gerichte und Anklagebehörden Argumenten Berücksichtigung schenken, die mit der Behinderung des Opfers zu tun haben, um dann ein milderes Urteil zu sprechen oder die Anklage fallen zu lassen.

Ich bin dafür, behinderte Menschen als Angeklagte vor Gericht gleich zu behandeln, wenn die Behinderung mit der Tat nichts zu tun hat. „Ich bin behindert, ich kann nicht ins Gefängnis“ hat bei Pistorius nicht funktioniert und das ist auch gut so.

Dass aber immer mal wieder die Behinderung eines Opfers zu niedrigeren oder keinen Strafen für die Täter führt, empfinde ich als behinderter Mensch als ungerecht, wenn nicht sogar als bedrohlich.

 

Inklusion heißt Erwartungen hochschrauben

Wenn über Inklusion diskutiert wird – und ich meine jetzt die gesamtgesellschaftliche Teilhabe, nicht nur die schulische Inklusion – wird viel über Bedingungen geredet. Mehr Barrierefreiheit, mehr Assistenz, mehr Möglichkeiten. Aber Inklusion ist keine Einbahnstraße. Was sich auch ändern muss, ist die Einstellung behinderter Menschen selber.

Wenn es keine Erwartungen gibt oder die Erwartungen derart niedrig sind, dass sie weiter de facto Ausgrenzung bedeuten, wird sich wenig ändern. Menschen mit Behinderungen (und ihre Angehörigen) sind aber unterdessen so daran gewöhnt, dass die Zustände so sind, wie sie sind, das sich viele damit abgefunden haben.

Ausgeschalteter Parkautomat

Nun ist es natürlich in der Tat so, dass man, wenn man als behinderter Mensch am normalen Leben teilnimmt, des öfteren auf Barrieren stößt – beispielsweise baulicher, organisatorischer oder menschlicher Art.

Ich parke öfter auf einem sehr großen Park&Ride-Parkplatz, der tagsüber und spät abends wenig frequentiert ist. Ich schätze, der Parkplatz ist mindestens zwei Fußballfelder groß. Da es sich um einen Privatparkplatz handelt, muss ich trotz Behindertenparkausweis zahlen.

Es gibt etwa 20 Behindertenparkplätze dort, aber leider nur sehr wenige Parkautomaten. Schlauerweise hat man aber einen der Parkautomaten direkt neben die Behindertenparkplätze gestellt. Aber ausgerechnet dieser Automat ist oft ausgeschaltet, obwohl er nagelneu ist. Der andere Automat ist am anderen Ende des riesengroßen Parkplatzes und nur über eine hohe Stufe zu erreichen, die ich alleine nicht hoch komme. Das Büro der Parkplatzverwaltung liegt gegenüber, ist aber ebenfalls für mich nicht erreichbar.

Immer wieder spielt sich dann, wenn das Gerät mal wieder ausgeschaltet ist, eine ähnliche Diskussion ab. Ich rufe über die Gegensprechanlage des Automaten die Parkplatzbesitzer an, die immer erstmal erklären, dass man da gar nichts machen könne und ich jetzt wohl oder übel selbst nach einer Lösung des Problems suchen müsse. Die finde ich auch immer sofort, sie sieht aber nicht so aus, wie sie sich das gedacht haben, denn sie lautet: Ein Parkplatzwächter kommt zu mir und ich bezahle bei ihm. Aber noch nie hat sich einer der Mitarbeiter zu mir bemüht. Die haben einfach keine Lust, ihr Büro zu verlassen. Immer heißt es dann, man lasse mich dann eben so raus fahren ohne zu bezahlen.

Probleme an die Verursacher zur Lösung zurückgeben

Ich will dort nicht kostenlos parken, darum geht es mir nicht. Aber ich habe mir unterdessen angewöhnt, die Lösungen für Probleme, die ich nicht verursacht habe, dem Verursacher zu überlassen und nicht mir aufdrücken zu lassen. Wer seinen Parkautomat an den Behindertenparkplätzen nicht in Schuss hält, muss entweder zu mir kommen oder hat Pech gehabt, was seine Einnahmen angeht. Nur das wird hoffentlich irgendwann dazu führen, dass dieser Automat funktioniert.

Vor zehn Jahren wäre ich vielleicht wirklich noch die zwei Fußballfelder entlang gerollt, hätte so lange gewartet bis irgendjemand auch zahlen möchte, ihn entweder gebeten, mir die Stufe hoch zu helfen oder wenn das nicht geht, ihm mein Geld in die Hand gedrückt und ihn gebeten, für mich zu bezahlen – auch auf die Gefahr hin, dass er mit dem Geld abhaut.

Erwartungen müssen sich ändern

Aber meine Erwartungen, auch an private Unternehmen haben sich geändert, nicht zuletzt deshalb, weil ich in Großbritannien ein starkes Recht in meinem Rücken habe, die solche Behandlung von behinderten Menschen untersagt. Unternehmen sind verpflichtet „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um Diskriminierung vorzubeugen. Dazu gehört eben auch den zugänglichen Parkautomaten zu warten und wenn er nicht geht, sich aus dem Büro zu bewegen und mir zu helfen. Und wenn sie das nicht wollen, müssen sie mich in der Tat dort kostenfrei wieder rausfahren lassen.

Mit meiner Bereitschaft, zum anderen Automaten zu rollen und auf Hilfe von Fremden zu hoffen, hätte ich nichts verändert. Mit jedem Mal hätte der Parkplatzinhaber weiter sein Geld bekommen und ich eine Menge Zeit und Kraft verloren. Immer wenn ich das Gefühl habe, jemand verursacht Ausgrenzung, Schwierigkeiten und stellt mir Barrieren in den Weg, bitte ich freundlich um Beseitigung und verändertes Verhalten. Nur so ändert sich etwas. Die Teilhabe behinderter Menschen wird sich nur dann verbessern, wenn sie eingefordert wird – nämlich von den behinderten Menschen selber.

 

Handgas und Schiebetüren

Handgas

So, ich habe ein neues Auto. Vor zwei Jahren habe ich beschlossen, dass ich meinen Rollstuhl, so wie ich ihn zuvor ins Auto verladen habe, nicht mehr verladen will und kann. Man wird ja schließlich nicht jünger. Zuvor nahm ich die Hinterräder am Rollstuhl ab, klappte die Rückenlehne des Rollstuhls nach vorne und hob die Räder und den Rest des Rollstuhls über mich hinweg. Aus sitzender Position wohlgemerkt und von Fahrersitz aus, den Rücken um etwa 90 Grad gedreht. Ich fuhr ein ganz normales Mittelklasseauto, einen 3-Türer. Denn damit war die Vordertür breit genug, um den Rollstuhl über mich hinweg zu heben.

Das war für mich okay seit ich meinen Führerschein hatte. Aber fast 20 Jahre später mag mein Rücken das ständige Heben mit gedrehtem Rücken nicht mehr so sehr. Zudem machen die Räder im Winter ständig dreckige Klamotten.

Suche nach Verlade-Alternativen

Dann hatte ich die Idee, einen Van mit Rampe zu kaufen. Diese Idee fand ich so lange gut, bis ich mir die Autos ansah und merkte, wie lang die sind. Damit hätte ich in der Innenstadt Londons niemals einen Parkplatz bekommen, schon gar nicht einen, wo hinten noch Platz für die Rampe wäre. Dann hatte ich die Idee, eine Hebebühne an der Seite anbringen zu lassen, aber das fand ich auch zu viel. Und was, wenn die Hebebühne kaputt ist oder sie mir beim Aussteigen auf die Straße jemand abfährt? Noch mehr Technik im Auto? Ich war also nicht mehr so überzeugt von meiner Idee.

Dann fing ich an, nach Autos mit Schiebetüren hinten zu suchen. Schiebetüren deswegen, weil ich sie vom Fahrersitz aus schließen und öffnen kann und sie genug Platz geben, um den Rollstuhl hinter mir zu verstauen. Ein Kompaktvan sollte es werden. Und tatsächlich, ich fand einen, bei dem ich den Rollstuhl problemlos reinheben konnte ohne ihn über mich drüber heben zu müssen. Leider hatte dieses Auto eine defekte Automatik. Auch die zweite Automatik wollte nicht dann schalten, wenn es angebracht gewesen wäre. Und so stotterte ich über Englands Straßen. Der Hersteller machte mir auch wenig Hoffnung, das man das Problem mit einer dritten Automatik lösen könne.

Handarbeit

Also musste wieder ein neues Auto her. Mit Schiebetür, aber von einem anderen Hersteller, der keine Probleme mit der Ansteuerung der Automatik hat. Heute habe ich es abgeholt. Zuvor war der Umbauer da und hat in das Auto Handgas und Handbedienbremse eingebaut, da ich ja nicht mit den Füßen fahren kann.

Es gibt heutzutage die tollsten Umbauten. Mein Umbau ist eher von der einfachen Sorte. Bei mir ist das Handgas und die Bremse de facto eine simple Verlängerung der Pedale nach oben zum Lenkrad. Wenn ich den Hebel am Lenkrad drücke, bremst das Auto. Wenn ich daran ziehe, gibt es Gas. Gleichzeitig gehen die entsprechenden Pedale nach unten. Man kann das Auto auch weiterhin mit den Füßen fahren.

Man kann aber zum Beispiel auch Pedale verlängern, damit auch kleinwüchsige Menschen Gas geben können, das Lenkrad versetzen, so dass auch Menschen ohne Arme fahren können. Auch Menschen mit eingeschränkter Armkraft können unter Umständen heute Auto fahren. Man kann Autos zum Beispiel mit einer Art Joystick ausstatten und vielen Zusatzknöpfen, über die man leichter blinken oder das Licht anmachen kann.

Auch bei der Rollstuhlverladetechnik gibt es viele Möglichkeiten. Man kann sich unterdessen auch den Rollstuhl von einer Art Roboterarm ins Auto heben lassen. Aber nach vielem Abwägen habe ich mich dagegen entschieden, weil ich öfter an viel befahrenen Straßen aussteige und ohne Roboter einfach schneller bin. Und ich habe keine Lust, dass mir jemand diesen Kofferraumroboterarm mal abfährt, wenn es dunkel ist oder dämmert, wenn der gerade den Rollstuhl am Auto entlang trägt.

Also verlade ich jetzt meinen Rollstuhl immer noch selber, aber eben anders als zuvor. Vermutlich ist auch das nur eine Lösung auf Zeit. Irgendwann wird mir das vielleicht auch zu anstrengend, aber dann kann ich immer noch auf Rampe oder Hebebühne oder doch Roboterarm zurückgreifen.

 

Udo Reiter

Der ehemalige Intendant des MDR, Udo Reiter, ist heute morgen tot aufgefunden worden. Auch wenn ich ihn nicht persönlich kannte, Udo Reiter war für mich als Teenager ein großes Vorbild. Einfach weil es ihn gab – als Medienmensch im Rollstuhl.

Ich wollte immer Journalistin werden. Ich bin in der ZDF-Stadt Mainz geboren, ich liebte schon immer die Mainzelmännchen und war von Kindesbeinen an ein Nachrichtenjunkie. Aber die Anzahl (sichtbar) behinderter Journalisten in der deutschen Medienlandschaft ist bis heute bedauerlich klein.

Wenn ich als Kind und Teenager gefragt wurde, was ich gerne werden möchte und sagte „Journalistin“, kam oft als Antwort von besserwisserischen Erwachsenen „Meinst du, du kannst das denn?“ oder „Du weißt, dass man als Journalistin schnell sein muss?“ und ähnlich dämliche Kommentare, die mir mehr oder weniger zu verstehen gaben, dass man als Rollstuhlfahrerin nicht Journalistin werden könne.

Selbst der Berufsberater des Arbeitsamts, der in unsere Schule kam, um uns alle zwangsweise zu beraten, lachte mich aus als ich ihm sagte, ich wolle Abitur machen, studieren und Journalistin werden – da hatte ich bereits diverse Schülerpraktika beim Fernsehen absolviert – aber mein Berufswunsch passte nicht in sein Weltbild. Er schlug mir stattdessen vor, Telefonistin zu werden. Das würde er allen Rollstuhlfahrern raten.

Irgendwann als Teenager hörte ich von Udo Reiter. Ich war sehr erfreut zu erfahren, dass der Intendant des MDR im Rollstuhl sitzt. Allein seine Existenz war für mich irgendwie eine Erleichterung und der Beweis, dass man auch als Rollstuhlfahrer was mit Medien machen kann.

Ich konnte nun auf die dämlichen Fragen der Erwachsenen antworten: „Kennen Sie nicht Udo Reiter? Der ist sogar Intendant und sitzt im Rollstuhl. Ich will ja nur Journalistin werden. Das geht schon.“ Und nicht nur das. Es war auch für mich persönlich eine Bestätigung, dass mein Berufswunsch nicht völlig absurd ist, wie manche Leute meinten.

Wohl fast jeder Mensch hat Vorbilder. Ich habe während der Schülerpraktika und auch später tolle Journalisten getroffen, die mir Mut gemacht haben, Journalistin zu werden. Aber zu wissen, es hat auch schon jemand vor mir im Rollstuhl geschafft, eine Medienkarriere einzuschlagen, war wirklich ermutigend, vor allem weil Reiter seine Behinderung bereits hatte, als er seine Karriere startete, und nicht einen Unfall hatte, als er schon etablierter Medienmann war.

Udo Reiter hat seine Behinderung nie groß zum Thema gemacht als er noch Intendant war. Trotzdem war er eine Identifikationsfigur für mich, gerade weil er Rollstuhlfahrer war. Nur einmal habe ich mir gewünscht, er hätte schon als Intendant ein bisschen mehr dazu gesagt: Als ich als Volontärin zum MDR musste und mich in Leipzig über das Kopfsteinpflaster auf dem Hof vor dem Gebäude quälte, sagte der Pförtner zu mir: „Der Intendant fährt deshalb immer ganz bis zur Tür mit dem Auto. Der hat da auch zu kämpfen.“

Später habe ich ihn in einigen Talkshows gesehen und war ganz froh, dass ich als Teenager nicht bemerkt habe, dass wir wohl nicht viel gemeinsam haben, was die Einstellung zu verschiedenen Themen angeht. Aber dennoch brauchen junge Leute Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren können, um Mut zu fassen, einen ähnlichen Weg zu gehen, vor allem dann, wenn irgendwelche Außenstehenden glauben, diesen Weg infrage stellen zu dürfen. Dafür müssen diese Vorbilder gar nicht viel tun. Es muss sie einfach geben. Ich bin froh, dass es damals Udo Reiter gab, der für mich der Beweis war, es geht. Bleibt zu hoffen, dass alle behinderten Kinder und Jugendlichen solche Vorbilder finden.

 

Die Realität, die keine ist

Die britische Paralympics-Siegerin Hannah Cockcroft hat Londons Bürgermeister Boris Johnson herausgefordert. Sie wollte, dass er einen Tag im Rollstuhl verbringt, um ihn davon zu überzeugen, mehr Geld in die Barrierefreiheit der Londoner U-Bahn zu stecken. Boris Johnson hat abgelehnt mit der Begründung, er wisse durchaus, vor welchen Problemen mobilitätseingeschränkte Menschen stehen, wenn sie die 150 Jahre alte U-Bahn nutzen wollen.

Nicht behinderte Menschen für einen Tag oder sogar länger in den Rollstuhl zu setzen, ist gerade ziemlich in. Was früher schon Zivildienstleistende oft zu Beginn ihrer Zeit als Zivi machten, ist unterdessen auch zum Fernsehformat geworden. Gerade setzte SAT1 eine Redakteurin der Sendung akte in den Rollstuhl. Auch RTL ließ im Jenke-Experiment Jenke von Wilmsdorff im Rollstuhl durch die Gegend fahren. Auch wie es ist, blind oder gehörlos zu sein, wollte er ausprobieren. Und auch Eckard von Hirschhausen war im Rollstuhl unterwegs.

Was mich bei diesen Experimenten stört: Sie tun so, als würden die Moderatoren dasselbe erleben wie behinderte Menschen. Dabei bedeutet nicht gehen zu können nicht, ungelenk in einem Rollstuhl durch die Gegend zu eiern und blind zu sein, kann man nicht einfach damit gleichsetzen, eine Augenbinde aufzuhaben.

Rollstuhltraining und blind Kaffee einschenken

Kaum jemand, der einen Autounfall hatte und danach nicht mehr laufen kann, bekommt einfach so einen Rollstuhl vor’s Bett gestellt und wird aufgefordert, damit nach Hause zu fahren. Es gibt Rollstuhltraining in Rehaeinrichtungen und man lernt, mit dem Rollstuhl umzugehen. Dazu zählt zum Beispiel auch, kleine Stufen zu überwinden.

Auch für Menschen, die erblindet sind oder eine fortschreitende Augenerkrankung haben, gibt es Mobilitätstraining und ein Training in lebenspraktischen Fertigkeiten. Dort lernt man, mit dem Stock zu laufen, sich zu orientieren, ohne sehen zu können und zum Beispiel taktile Leitsysteme an Bahnhöfen zu nutzen. Außerdem lernt man alltägliche Dinge wie Kaffee einzuschenken oder kochen, ohne hinsehen zu müssen.

Eine nicht behinderte Person einfach in einen Rollstuhl zu setzen, ist, als würde man jemanden, der nicht Fahrrad fahren kann, auf ein Fahrrad setzen und darauf warten, dass er umkippt. Übung macht den Meister, auch was das Leben mit einer Behinderung angeht. Am Ende haben alle Fernsehexperimente immer das gleiche Ende: Die nicht behinderte Versuchsperson ist froh, wieder laufen, hören und sehen zu können und alle sind sich einig, wie furchtbar es ist, eine Behinderung zu haben. Na toll.

Probleme sind vielschichtig

Die eigentlichen Probleme, auf die behinderte Menschen tatsächlich stoßen, sind so vielschichtig, dass man Otto Normalzuschauer offensichtlich nicht damit belasten möchte. Zumal sie sehr oft gar nichts mit der Beeinträchtigung zu tun haben, sondern mit organisatorischen Problemen und nicht zuletzt mit der Politik. Genau diese organisatorischen Probleme hat aber ein fleißiger Producer bereits vor dem Dreh aus dem Weg geräumt.

Und noch etwas macht diese Tests völlig unrealistisch: Alle wissen: Am Ende des Tages stehen sie wieder aus ihrem Rollstuhl auf, nehmen die Augenbinde ab, und wenn sie nicht mehr weiterkommen, wird die Kamera schnell ausgemacht und der Redakteur findet ganz schnell eine Lösung.

Sie müssen sich nicht um barrierefreien Wohnraum kümmern, werden nicht von Arbeitgebern diskriminiert oder stehen nicht vor dem Problem, ihre Assistenz finanziert zu kriegen. Stattdessen scheitern nicht behinderte Kurzzeitrollstuhlfahrer an Barrieren, die für die richtigen Rollstuhlfahrer meistens gar keine sind. Wenn ich sehe, wie eine Redakteurin an einer 1 cm hohen Stufe scheitert und dann hinterher erzählt, wie gefährlich es sei, als Rollstuhlfahrerin eine Straße zu überqueren, hat das durchaus Unterhaltungswert, selbst für mich, denn es ist absolut lächerlich. Mit meinem Leben als Rollstuhlfahrerin hat das rein gar nichts zu tun. Ich kann 1 cm hohe Stufen fahren – wie die meisten anderen Rollstuhlfahrer auch.

Politiker in Rollstühlen

Was Politiker in Rollstühlen angeht, muss man sich wohl außerdem klarmachen, dass sie wirklich wissen, wie wichtig zum Beispiel Barrierefreiheit für behinderte Bürger wäre. Sie setzen aber ihre Prioritäten anders und damit fließt das Geld auch woanders hin. Auch wenn ich sehr viel Sympathie für Hannah Cockcrofts Idee habe, den Bürgermeister einen Tag in den Rollstuhl zu setzen, einfach nur aus Spaß, ich glaube ihm, dass er auch so weiß, welche Probleme die U-Bahn bereitet. Dafür muss man nicht selbst im Rollstuhl vor den Stufen gestanden haben.

Und die Reality-Programmentwickler muss man fragen, warum sie nicht einfach das Leben der „richtigen“ behinderten Menschen darstellen. So wie es ist und nicht so, wie sie sich das ausgedacht haben. Eine Rollstuhlfahrerin auf Wohnungssuche zu begleiten, sagt mehr über das Leben im Rollstuhl aus und was man in Deutschland tun könnte, um Dinge zu verbessern, als eine Redakteurin an einer winzigen Kante scheitern zu lassen.