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Kein Wahlrecht

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

So lautet Artikel 38 des Grundgesetzes.

Weiter heißt es:

„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“

Und trotzdem gibt es in Deutschland Menschen, die über 18 sind und denen der Staat dennoch kein Wahlrecht gegeben hat.

Bundesverfassungsgericht soll es richten

Acht behinderte Menschen haben deshalb jetzt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, weil sie bei der Bundestagswahl 2013 nicht wählen durften. Zuvor war ihr Einspruch gegen die Wahl durch den Bundestag abgelehnt worden.

Die Beschwerdeführer wollen, dass die Verfassungshüter die Gründe, warum sie nicht wählen dürfen, für nichtig erklären. Unterstützt werden sie dabei von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).

Wählen darf nach einer Regelung des Bundeswahlgesetzes nicht, für wen eine Betreuung in allen Angelegenheiten besteht. Außerdem ist von der Wahl ausgeschlossen, wer sich im psychiatrischen Maßregelvollzug befindet, weil er oder sie aufgrund einer Krankheit oder Behinderung schuldunfähig ist und krankheitsbedingt weitere Taten drohen.

Die acht von der Wahl Ausgeschlossenen sind damit nicht alleine. Die Lebenshilfe schätzt, dass deutschlandweit rund 10.000 Menschen von diesen Regelungen betroffen sind und man ihnen kein Recht einräumt, zur Wahl zu gehen.

Leichte Sprache gibt Zugang zu Information

Lebenshilfe und Caritas halten das für verfassungswidrig. „Natürlich können auch Menschen, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben, eine überlegte Wahlentscheidung treffen“, so die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Ulla Schmidt. Wichtig sei, dass Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Informationen zur Wahl in leichter Sprache erhalten und so bei der Ausübung ihres Wahlrechts unterstützt werden.

Diese Angebote in leichter Sprache gibt es immer mehr. So bietet beispielsweise die Zeitung Das Parlament, öffentlich-rechtliche Sender, aber auch politische Parteien und der Bundestag selbst politische Informationen in leichter Sprache an.

Was bei der Problematik deutlich wird: Den Gründen für den Ausschluss zur Wahl liegt ein veraltetes Bild von dieser Gruppe behinderter Menschen zugrunde. Das sieht man auch bei der Caritas so: „Sie stammen aus einer Zeit, als Gesellschaft und Recht Menschen mit Behinderung nicht zutrauten, in allen gesellschaftlichen Bereichen teilhaben zu können“, sagte Johannes Magin, Vorsitzender des CBP.

Willkür

Das Wahlrecht wird obendrein willkürlich entzogen: Dass jemand betreut wird oder in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wird, heißt nicht automatisch, dass er oder sie nicht wählen und sich vor der Wahl informieren kann.

In Artikel 3 Satz 2 verbietet das Grundgesetz zudem, dass Menschen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Auch Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention garantiert behinderten Menschen das Wahlrecht. Deutschland hat sich verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Das bedeutet auch, behinderten Menschen das gleiche Wahlrecht einzuräumen wie nicht behinderten Menschen.

Das alles ist leider ein unschönes Beispiel dafür, dass Inklusion oft nicht am Geld scheitert, sondern an Vorurteilen. Bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das auch so sieht.

 

Zum Fremdschämen

Am Samstagabend war ich auf einer Geburtstagsparty. In der Kneipe, in der wir feierten, hatte ich keinen Handyempfang und so war ich, was bei mir selten genug vorkommt, fast vier Stunden offline. Als ich draußen wieder Empfang hatte, hatte ich über unterschiedliche Messenger viele neue Nachrichten: Diverse Leute wollen mit mir reden, aus Deutschland, Österreich und Großbritannien. Erst dachte ich, es sei irgendetwas Weltbewegendes passiert. Dann aber ging es doch nur um den Untergang eines Flaggschiffs der deutschen Fernsehunterhaltung.

Körpersprache und Gesichtsausdruck

Alle wollten wissen, ob ich Wetten, dass…? schaue und es auch so furchtbar finde, wie dort Markus Lanz mit Samuel Koch umgeht. Ich schaute mir auf der Heimfahrt Reaktionen auf Twitter an und es war schnell klar, dass das Interview mit Samuel Koch mehr als fragwürdig war.

Samuel Koch hat sich vor einem Millionenpublikum eine Querschnittlähmung zugezogen – in der gleichen Sendung, in der er nun wieder zu Gast war. Dass das keine einfache Situation werden würde, hätten sich Moderator und Redaktion denken können. Aber sie haben das Interview wie einen zweiten Unfall inszeniert. Die Fragen von Markus Lanz waren peinlich, zum Fremdschämen. Sie waren übergriffig und eines Moderators einer Samstagabendsendung unwürdig. Selbst wenn man den Ton ausschaltet und nur die Körpersprache des Moderators und den Gesichtsausdruck von Samuel Koch ansieht, sieht man: da läuft irgendwas gehörig schief.

Samuel Koch wollte über seine Schauspielprojekte reden. Markus Lanz fragte ihn lieber mehrmals, wie es ihm geht, um am Ende nach der Sinnhaftigkeit des Unfalls zu fragen. Solche Fragen bin ich auch gewohnt, normalerweise von irgendwelchen sektenartigen Predigern auf der Straße, die meinen, mich zu irgendetwas bekehren zu wollen, weil ich im Rollstuhl sitze. Die fragen auch immer, welchen Sinn es habe, dass ich nicht laufen kann. Manchmal sage ich solche Leuten auch, wie sehr sie mich nerven. Samuel Koch hatte da mehr Geduld als ich, aber sein Gesicht und die zögerliche Antworten sprachen Bände.

Das schlechte Gewissen der Nation

Man tut Samuel Koch keinen Gefallen damit, ihn zum personalisierten schlechten Gewissen der Nation zu machen. Von einem Moderator wie Markus Lanz kann man erwarten, Samuel Koch und alle behinderten Menschen in seinen Sendungen auf Augenhöhe zu begegnen. Dazu gehört, jemanden wie Samuel Koch nicht ungefragt ständig anzufassen, zu tätscheln und zu umarmen. Es war Samuel Koch sichtlich unangenehm.

Diese von Mitleid getriebene Behandlung von oben herab ist ungefähr das Gegenteil von dem, was jemand wie Samuel Koch verdient hätte: Respekt, so wie jeder andere Schauspieler, der bei Wetten, dass…? seinen Film bewirbt. Mitleid ist so gut wie immer das Gegenteil von Respekt, Mitleid findet nie auf Augenhöhe statt. Es ist zutiefst demütigend, wenn man merkt, der andere bemitleidet einen – vor allem in einer Situation, in der man voller stolz ein Projekt präsentieren möchte.

Erfolge statt Mitleid

Samuel Koch hat sein Studium erfolgreich beendet, spielt Theater, hat mit Til Schweiger gedreht und hat, wenn man der Klatschpresse glauben darf, gerade eine neue Freundin. Es hätte der Sendung gut zu Gesicht gestanden, über solche Dinge und Erfolge zu reden, anstatt eine Mitleidsshow abzuziehen. Das passt in die 1980er Jahre, als die Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind hieß. Markus Lanz hat versucht, aus Samuel Koch ein Sorgenkind zu machen. Es ist ihm nicht gelungen.

 

Liliput in Cloppenburg

Wir befinden uns im Jahre 2014. Ganz Deutschland redet von Inklusion, von gleichberechtigter Teilhabe und Rechten von behinderten Menschen. Ganz Deutschland? Nein! In Cloppenburg findet man es offensichtlich immer noch in Ordnung, kleinwüchsige Menschen als Attraktion vorzuführen. Die örtliche Disko kündigte für den 6. Dezember „7 echte Liliputaner“ als Attraktion auf ihrer Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ an.

Nun könnte man sich ohnehin darüber wundern, wieso die Veranstalter glaubten, mit Fabel- und Märchenfiguren und der Zurschaustellung von Menschen mit einer Körpergröße von unter 1,50 Meter mehr Besucher anzulocken. Aber vielleicht ist das ein ernstzunehmendes Signal dafür, dass die Inklusion doch nicht so weit ist, wie man das von einer zivilisierten Gesellschaft annehmen könnte – zumindest nicht in Cloppenburg.

Kleinwüchsigen-Verband empört

Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft seit dem Buch Gullivers Reisen, aus dem der Begriff Liliputaner stammt, doch weiterentwickelt hat. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien zeigte sich empört und verurteilte die Zurschaustellungen von kleinwüchsigen Menschen in der Diskothek: „Die online lesbare Veranstaltungsbeschreibung kündigt an, dass am 06.12.2014 „(…) 7 echte Liliputaner (…)“ auf der Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ seien. Diese Darstellung ist verächtlich, ablehnend und stellt den kleinwüchsigen Menschen nicht als Mitglied unserer Gesellschaft dar. Vielmehr werden hier Menschen mit Fabelwesen aus dem Buch Gullivers Reisen gleichgestellt und zur reißerischen Akquise von Diskobesuchern missbraucht. Dies ist in jeder Hinsicht menschenverachtend. Menschen als Liliputaner zu bezeichnen, sie zur Belustigung zu missbrauchen und zum Gespött anderer zu machen, gehört untersagt. Wir sehen darin eine massive Missachtung der Menschenwürde.“

Das saß. Die Diskothek änderte ihre Veranstaltungsankündigung um. Aus den Liliputanern wurden Zwerge, womit die Veranstalter zweifelsohne bewiesen, dass sie rein gar nichts verstanden hatten. Als ob der Begriff Zwerge irgendwie besser als Liliputaner wäre. Menschen waren die kleinwüchsigen Darsteller damit ja immer noch nicht und zur Schau gestellt wurden sie dennoch. Und so verteilte sich die Veranstaltungsankündigung weiter im Internet. Allerdings nicht, weil alle unbedingt die „7 Zwerge von Cloppenburg“ sehen wollten, sondern weil man vereint die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

Peinlich

Und irgendwie war der Diskothek das Ganze dann hinterher doch ein bisschen peinlich. Ja, die 174 Partyfotos hat man natürlich dennoch auf Facebook veröffentlicht, aber dort konnte man auch lesen, man habe die Schneewittchen-Party über eine Veranstaltungsagentur gebucht, die dort in deren Programm angeboten wurde.

Weiter heißt es: „Diese Veranstaltung/Party wird unter anderem mit kleinwüchsigen Menschen durchgeführt, welche auch ebenfalls im Text der Veranstaltung beworben wurden. Dies rief bei einigen Gästen und Besuchern Unverständnis und Empörung auf, dies war von uns nicht beabsichtigt. Wir entschuldigen uns hiermit offiziell bei denjenigen, denen dies missfallen hat. Wir wollten nie jemanden diskriminieren oder „zur Show“ stellen!“

Und die Moral von der Geschicht: Menschenunwürdige Darstellungen gehen auch in Diskotheken nicht. Denn offensichtlich haben sich auch Gäste über das Programm beschwert. Die Zeiten, in denen kleinwüchsige Menschen und Menschen, die einfach anders aussehen als der Durchschnitt, ausgestellt wurden, sind Gott sei Dank vorbei. Und wer jetzt sagt, die kleinwüchsigen Darsteller machen doch mit, sollte sich mal fragen, warum das so ist.

 

Vom Helfen und Hilfe annehmen

„Ich weiß immer nicht, ob ich fragen soll, ob jemand Hilfe braucht“, ist einer der Sätze, die ich ziemlich oft höre, wenn mir andere von ihren Berührungsängsten erzählen, die sie im Umgang mit behinderten Menschen haben.

Einfach fragen

Ich finde, jemanden zu fragen, ob er Hilfe braucht, ist so gut wie nie verkehrt. Ich freue mich eigentlich über jedes Hilfsangebot, lehne die meisten aber ab, schlicht und einfach, weil ich es selber kann, auch wenn es vielleicht etwas länger dauert. Es hängt aber auch von meiner Tagesform ab und ehrlich gesagt auch, wer mir Hilfe anbietet. Sich helfen zu lassen ist nämlich auch Vertrauenssache. Von jemandem, der beispielsweise nicht mehr ganz nüchtern wirkt, werde ich mir sicher nicht eine Stufe hoch helfen lassen.

Was mich allerdings nervt ist, wenn ich drei Mal gefragt werde, ob ich wirklich keine Hilfe benötige, auch wenn ich das Hilfsangebot schon zwei Mal freundlich abgelehnt habe. Es ist nett, Hilfe anzubieten, aber man muss dann auch akzeptieren können, wenn dieses Angebot abgelehnt wird. Und was ich auch nicht mag: Wenn ich die Hilfe von jemandem annehme, dieser dann ein riesiges Trara darum macht, wie hilfebereit er doch sei im Gegensatz zu anderen Leuten. Wer nur hilft, um sich hinterher selber auf die Schulter zu klopfen, kann es auch gleich sein lassen.

Das Kofferproblem

In den vergangenen vier Wochen war ich in Wien. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die immer mit ihrem halben Hausstand verreisen, sondern nehme so wenig wie möglich mit – da ich zumindest geschäftlich fast immer alleine reise, muss ich ja schon schauen, dass ich das Gepäck irgendwie alleine vom Flughafen zum Hotel transportiert kriege. Das heißt, ich versuche entweder so wenig mitzunehmen, dass die Tasche hinten an den Rollstuhl passt, oder ich habe einen Koffer, den ich vor mir herschiebe. Das mit dem Schieben funktioniert auf ebener Strecke ganz gut, bei längeren Strecken weiß man allerdings am nächsten Tag dank des Muskelkaters, was die Oberarmmuskeln geleistet haben.

Für den Aufenthalt in Wien reichte die kleine Tasche nicht mehr, sondern der Koffer musste mit. Vom Flughafen bis zum Hotel nahm ich erst den Flughafenzug CAT und dann die U-Bahn. Beim Ein- und Aussteigen in die Züge fragte ich immer jemanden, ob er mir den Koffer über die Schwelle heben kann, denn zum Rollstuhlfahren über Schwellen brauche ich schon zwei Hände und eine dritte Hand zum Kofferschieben habe auch ich nicht. Ich finde eigentlich immer jemanden, der mir dann hilft.

Die meisten Menschen helfen gerne

Grundsätzlich habe ich mit der Hilfsbereitschaft der Menschen fast auf der ganzen Welt gute Erfahrungen gemacht. Nur in Schweden hatte ich ein paar Probleme. Immer wenn ich jemanden um etwas gebeten habe, wurde ich gefragt, warum ich denn keine persönliche Assistenz habe oder wo diese sei. In Schweden leben viel mehr Menschen mit persönlicher Assistenz als das in Deutschland oder anderen europäischen Ländern der Fall ist. Es ist dort einfach normal, dass behinderte Menschen sich ihre Assistenz selbst organisieren und ihre Assistenten selbst beschäftigen, finanziert durch Zahlungen des Staates. Dennoch fand ich die Reaktionen mancher Schweden etwas merkwürdig. Auch wenn behinderte Menschen dort öfter mit Assistenz leben, kann das ja nicht bedeuten, dass man diese grundsätzlich dabei haben muss. Es ist nun wirklich kein Problem, mir mal ein Joghurt aus dem Supermarktregal zu geben oder mir den Kaffee an den Tisch zu bringen.

In Wien ist mir dann bei der Abreise etwas sehr nettes passiert. Ich war um 6.30 Uhr morgens in der U-Bahn mit meinem Koffer und fragte eine Frau neben mir, ob sie mir den Koffer in die Bahn nehmen kann. Wie gesagt, ich brauche meine beiden Hände, um den Rollstuhl über die Schwelle der U-Bahn zu kriegen. Das war auch kein Problem, sie nahm den Koffer mit hinein. Drinnen fragte sie mich dann, wo ich denn hin unterwegs sei. Ich erklärte ihr, ich sei auf dem Weg zum Flughafen und würde in Wien-Landstraße in den Flughafenzug umsteigen. Sie bot mir an, mich zu begleiten und mir den Koffer bis zum Zug zu bringen, denn sie sei sowieso viel zu früh zu ihrem Termin und hätte noch Zeit zu überbrücken. Die nette Wienerin hat mir dann tatsächlich den Koffer durch die halbe Stadt bis zum Zug gezogen – ohne viel Aufhebens darum zu machen und hat mir so den Muskelkater erspart. Danke, liebe Wienerin!

 

Die Bildungsmisere gehörloser Menschen

Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Grund hat der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die prekäre Bildungssituation gehörloser Menschen aufmerksam gemacht. Schätzungsweise nur 3 Prozent der etwa 10.000 gehörlosen Österreicher haben Matura, also das österreichische Abitur, sagten die Vertreter des ÖGLB. Nur 1 Prozent hat einen Hochschulabschluss.

Es gibt also ein enormes Bildungsdefizit gehörloser Menschen, denn eigentlich müsste der Anteil gehörloser Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, genauso hoch sein, wie der hörender Menschen. Als Folge der schlechten Schulbildung hätten gehörlose Menschen in Österreich eher niedrig bezahlte Berufe wie Näherin oder Reinigungskraft, sagte die Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und Nationalratsabgeordnete, Helene Jarmer.

Und wer jetzt glaubt, das sei ein rein österreichisches Problem, der irrt. Auch in Deutschland kämpfen Eltern dafür, dass ihre gehörlosen Kinder mit Dolmetscherunterstützung Regelschulen besuchen können, damit sie den Weg zum Abitur oder zumindest den für sie angemessenen Bildungsabschluss schaffen. Sie ziehen vor Gerichte und müssen sich mit Ämtern Auseinandersetzungen liefern, weil diese die Kosten für die Dolmetscher nicht zahlen wollen und den Eltern stattdessen sagen, die Kinder sollten auf eine Gehörlosenschule gehen – eben auf die Schulen, die die Bildungsmisere gehörloser Menschen mit verursacht haben. Stattdessen möchten die Eltern die gleichen Bildungschancen für ihre Kinder haben.

Lippenlesen und raten

Ein Grund für die Bildungsmisere ist die negative Einstellung zur Gebärdensprache. Was viele nicht wissen: Selbst Lehrer an Gehörlosenschulen müssen nicht unbedingt Gebärdensprache können, wenn sie dort unterrichten. Man erwartet von den Kindern, dass sie Lippen lesen. Aber die Vorstellung, dass man alles von den Lippen ablesen kann, ist falsch. Die deutsche Sprache können auch geübte Lippenleser nur zu 30 Prozent ablesen. Der Rest muss kombiniert oder aus dem Zusammenhang geraten werden.

Bei der Bildungsvermittlung auf 70 Prozent Raterei zu setzen, ist ein sehr gewagtes Konzept. Viele Eltern gehörloser Kinder haben das erkannt und möchten deshalb, dass ihre Kinder bilingual aufwachsen – mit Gebärdensprache und Lautsprache. Für die gehörlosen Kinder ist Gebärdensprache so etwas wie ihre Muttersprache, die Basis, auf der sie aufbauen können, um Lautsprache zu lernen. Gebärdensprache ist die Sprache, in der man ihnen am besten Wissen vermitteln kann.

Mailänder Kongress

Das Konzept, ausschließlich auf Lautsprache an Gehörlosenschulen zu setzen, geht auf den Mailänder Kongress von 1880 zurück. Dort wurde beschlossen, dass die Gebärdensprache als Unterrichtssprache an Schulen nicht mehr benutzt werden sollte. Diese Ablehnung der Gebärdensprache hat die Bildung gehörloser Menschen massiv behindert und führte damals zu einem Berufsverbot für gehörlose Lehrer. Nach über einem Jahrhundert hat man nun endlich erkannt, dass der Weg falsch war, auch wenn es immer noch Lehrer und Eltern gibt, die Gebärdensprache als etwas hinderliches ansehen.

Die Statistik aus Österreich ist sicherlich ein Alarmsignal. Sie kann als Maßstab gelten, um zu überprüfen, ob sich wirklich etwas tut im Bereich der schulischen Inklusion und ob gleiche Bildungschancen vorhanden sind. Erst wenn sich die Zahlen normalisieren, also gehörlose Menschen genauso häufig Matura beziehungsweise Abitur machen wie hörende Menschen, kann man von gleichen Bildungschancen für gehörlose Menschen sprechen.

 

Programmdekade Akzeptanz statt Themenwoche Toleranz

Die ARD ruft zur Toleranz auf. Das hat sie auch bitter nötig, denn wer die Beiträge zur ARD-Themenwoche ansieht, braucht diese auch, zumindest wenn er zu einer der Gruppen gehört, für deren Toleranz die ARD werben möchte. Meine Toleranz stieß schon an Grenzen, da hatte die Themenwoche noch gar nicht angefangen. Auf Großplakaten fragte die ARD, ob ein Rollstuhlfahrer Außenseiter oder Freund ist? Woher soll ich das wissen? Ich kenne den Mann ja nicht. Aber darauf kommt es wohl nicht an, es geht ja um das Merkmal „Rollstuhlfahrer“. Die anderen Gruppen trifft es nicht weniger hart. Da wird gefragt, ob Homosexualität normal oder nicht normal ist, um mal nur ein Beispiel zu nennen.

Akzeptanz statt Toleranz

So eine Kampagne wäre vielleicht in den 50er Jahren willkommen gewesen, nachdem man gerade aufgehört hatte, diese Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit umzubringen, aber 2014 auf Großplakaten Fragen zu stellen, die eigentlich keine mehr sind, sendet ein merkwürdiges Signal und gibt den Ewiggestrigen das Gefühl, dass diese Fragen durchaus noch in Ordnung sind.

Dabei geht es bei dem Umgang mit behinderten Menschen nicht um Toleranz, sondern um Akzeptanz. Ich möchte nicht irgendwo geduldet werden, ich möchte willkommen sein. Es muss normal sein, dazuzugehören. Genau das bedeutet auch Inklusion. Die Gesellschaft ist längst weiter als die ARD sie darstellt. Es gibt ein – wenn auch im Vergleich zu anderen Ländern schwaches – Antidiskriminierungsgesetz. So etwas wie das Flensburger Urteil, bei dem Gäste auf Preisnachlass bei einer Reise klagten, weil sie mit behinderten Menschen im gleichen Speisesaal essen mussten, wurde damals schon scharf kritisiert und wäre heute wohl anders ausgefallen. Die Gesellschaft hat sich weiter entwickelt.

Dass die ARD auch mit dem Begriff Inklusion Probleme hat, zeigte sich in einem Tagesthemen-Beitrag zur Themenwoche. Er zeigte eine Sehbehindertenschule, die zwei sehende Mädchen in einer Klasse hat, und schon ist es Inklusion. Nein, ist es nicht. Es ist Toleranz. Die sehenden Mädchen werden dort geduldet, aber das ist nicht das Ziel. Das Ziel ist Inklusion. Gleiche Bildungschancen für alle – unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sehen können. Thema verfehlt.

Überschwemmung

Indem die ARD eine ganze Woche lang die Zuschauer mit Themen über Minderheiten überschwemmt, macht sie vor allem eines deutlich: Wie wenig die Themen sonst in ihren Programmen vorkommen. Warum braucht man eine Themenwoche, wenn man diese Themen doch das ganze Jahr über ins Programm nehmen könnte? Aber bitte nicht in der Tonlage der Themenwoche – von oben herab an der Oberfläche kratzend – sondern auf Augenhöhe. Mehr Akzeptanz statt Toleranz.

Warum muss ein Beitrag über die Abweisung einer Rollstuhlfahrerin durch Türsteher einer Diskothek in einer Themenwoche laufen? Gehört das nicht das ganze Jahr über, dann, wenn es passiert, in das Regionalprogramm? Und zwar nicht nur in einem empörenden Tonfall, sondern vernünftig journalistisch aufgearbeitet: Was sagt der Diskothekenbesitzer? Was sagt das örtliche Gewerbeaufsichtsamt? Wie schätzt ein Jurist die Lage ein? Warum ist die Disko nicht barrierefrei? Warum hat das Bauamt dann eine Genehmigung erteilt? Wo gibt es Gesetzeslücken?

Um solche und andere Beiträge machen zu können, braucht man aber Redakteure, die sich mit der Thematik auskennen, die nicht Toleranz mit Inklusion verwechseln, die kompetent Interviews zur UN-Behindertenrechtskonvention führen können. Die wissen, wo die Gesetzeslücken sind, wo es Regelungsbedarf gibt und wo die berichtenswerten Projekte zu finden sind.

Raus aus der Nische

Und die Themen gehören in die Mainstream-Programme und nicht in irgendwelche Sondersendungen, Nischenprogramme und Themenwochen. Sie gehören in Politiksendungen, in Verbraucherprogramme, Dokumentationen. Die ARD braucht keine Themenwoche Toleranz, sondern eine Programmdekade Akzeptanz.

 

Der lange Weg zur Inklusion

Der Weg zu Inklusion und voller gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen ist noch weit. Für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung ist der Weg aber wohl noch weiter als für die meisten anderen Gruppen. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Nur eingeschränkte Teilhabe möglich?

Die deutsche Bevölkerung ist überwiegend der Auffassung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bei der Freizeitgestaltung (Sport, kulturelle Aktivitäten) meinen immerhin 19 Prozent der Befragten, dass dies uneingeschränkt möglich sei. Die große Mehrheit (62 Prozent) glaubt jedoch, geistig Behinderte nur eingeschränkt teilnehmen können. 14 Prozent halten es für kaum oder gar nicht möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Freizeit selbstständig gestalten.

Ganz ähnlich sieht es bei der Frage nach selbstständigem Wohnen, dem Besuch einer regulären Schule, eigenständigen Urlaubsreisen oder der Teilnahme am regulären Arbeitsleben aus. In diesen Bereichen halten jeweils nur vier bis neun Prozent der Bevölkerung es für möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben uneingeschränkt dabei sein können. 61 bis 75 Prozent sehen eine eingeschränkte Partizipationsmöglichkeit. Dass Menschen mit geistiger Behinderung von vornherein ausgeschlossen sind, glauben je nach Bereich lediglich zwischen 18 und 28 Prozent.

Kaum Kontakt

Nur jeder fünfte Befragte (22 Prozent) gab an, überhaupt Kontakt mit Menschen mit geistiger Behinderung zu haben, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor fünf Jahren von Deutschland ratifiziert wurde, ist sie als Auslöser für die Inklusionsdebatte weitgehend unbekannt. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UN-Konvention überhaupt gehört.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Men­schen­recht­sübereinkom­men, das neben der Bekräf­ti­gung all­ge­meiner Men­schen­rechte auch für behin­derte Men­schen eine Vielzahl auf die Lebenssi­t­u­a­tion behin­derter Men­schen angepasste Bestimmungen enthält.

Das Bild in der Gesellschaft: Hilfsbedürftig

Auch das Bild von Menschen mit geistiger Behinderung scheint sich nur langsam zu wandeln. Aus Sicht der Befragten sind Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie „hilfsbedürftig“ (88 Prozent). An zweiter Stelle folgt mit 57 Prozent der Begriff „lebensfroh“, knapp dahinter liegen „ausgegrenzt“ und „Mitleid“ mit jeweils 56 Prozent. Jeder zweite Bürger hat Berührungsängste. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind. Personen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen, nennen diese positiven Begriffe allerdings häufiger.

Das Bild stimmt nicht (mehr)

Dass Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie hilfsbedürftig seien, decke sich nur noch sehr bedingt mit der Wirklichkeit, die die Lebenshilfe wahrnehme, sagte deren Vorsitzende Ulla Schmidt. Immer mehr Menschen mit Behinderungen nehmen ihre Interessen unterdessen selbstbewusst in die eigene Hand, sagte sie.

Was mir bei der Umfrage vor allem auffällt, ist der extrem defizitorientierte Blick. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Inklusion behinderter Menschen nicht oder nur eingeschränkt möglich sein wird, statt zu überlegen, wie es gehen könnte, wird der Weg noch länger werden. Wer von Anfang glaubt, es wird sowieso nicht funktionieren, wird natürlich scheitern. Und gegen das falsche Bild hilft vor allem eines: Kontakt mit den Menschen selber. Wenn nur jeder Fünfte überhaupt Kontakt mit Menschen mit einer geistigen Behinderung hat, dann ist auch klar, woher die Berührungsängste kommen. Was man nicht kennt, verunsichert. Wenn behinderte Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dann wird auch diese Angst weniger. Es ist noch ein langer Weg. Deshalb wäre es gut, wenn man mal ein bisschen an Geschwindigkeit zulegen würde.

 

Mit Knopflochkamera für die BBC durch London

Die BBC hat am Montag einen Film über die Barrieren gezeigt, auf die behinderte Menschen in ihrem Alltag stoßen. Ich habe an diesem Film maßgeblich mitgewirkt und fast zwei Wochen lang meinen Alltag gefilmt.

Ich hatte 2013 schon mal mit versteckter Kamera für die BBC gedreht, allerdings nur einen Tag lang. Dabei ging es vor allem um die Barrierefreiheit von öffentlichen Verkehrsmitteln und darum, wie nachhaltig sich die Paralympics in der Stadt bemerkbar machen (oder eben auch nicht). Entstanden ist dieser Film.

Diesmal war alles es etwas anders. Die Kamera war noch kleiner als die, die ich 2013 hatte. Sie war so groß wie ein kleiner Knopf und an einer Tasche befestigt. Man sagte mir gleich am Anfang, sie sei sehr teuer, aber nicht versichert. So war ich in den ersten Tagen völlig nervös, weil ich ständig Angst hatte, die Kamera zu verlieren. Die war zwar gut festgemacht, aber mit einem Wert von 25.000 Euro an der Tasche wird man einfach nervös. Nur nicht im Café die Tasche klauen lassen, nicht am „Knopf“ hängenbleiben, ist die Kamera jetzt an oder aus? Ein entspanntes Leben habe ich diese zwei Wochen lang nicht gehabt.

Gestrandet auf der Dachterrasse

Es war zudem wie verhext: Wann immer ich die Kamera eingeschaltet hatte, lief irgendwas völlig daneben. Noch nie stand ich binnen zwei Wochen vor so vielen defekten Fahrstühlen. Einmal blieb ich um 23 Uhr auf einer Dachterrasse über den Dächern Londons hängen, weil der Lift, mit dem ich hinaufgekommen war, einfach nicht mehr hinunterfahren wollte. Aber das Konzerthaus, auf dessen Dach ich mich befand, um den Geburtstag einer Freundin zu feiern, hatte Gott sei Dank einen Notfalldienst, der auch irgendwann kam und den Fahrstuhl wieder in Gang setzte.

Ich war nicht die einzige, die von der BBC mit einer Kamera ausgestattet wurde. Ein blinder Mann mit einem Blindenführhund bekam ebenfalls eine Kamera, um vor allem das Verhalten von Taxifahrern zu testen. Von 20 Fahrern verweigerten ihm fünf die Mitfahrt, weil sie den Hund nicht mitnehmen wollten. Das ist in Großbritannien illegal.

Bankgeschäfte auf der Straße

Sinn des Filmes ist, die ganz „normalen“ Barrieren zu zeigen, auf die Rollstuhlfahrer und blinde Menschen immer noch stoßen und die es eigentlich längst nicht mehr geben sollte: zum Beispiel Coffeeshops mit Stufen vor der Tür oder, wenn sie keine Stufen haben, mit Stehtischen, an denen ein Rollstuhlfahrer nicht sitzen kann; eine Postfiliale mit Stufe, aber ohne Rampe, deren Filialleiter freundlich anbietet, die Bankgeschäfte doch gleich auf der Straße abzuwickeln; eine Drogerie, die einen Fahrstuhl zur Apotheke hat, mir aber sagt, ich könne den Lift nicht nutzen, weil sie ihn nicht gewartet hätten; Mitarbeiter von Zugunternehmen, die „vergessen“, einen aus dem Zug zu holen, obwohl man sich vorher angemeldet hat. Man hätte einen zwei Stunden langen Film aus den Vorfällen machen können.

Alle oben erwähnten Beispiele sind in Großbritannien übrigens rechtswidrig. Seit 1995 müssen alle Einrichtungen, Geschäfte, Banken und so weiter „angemessene Vorkehrungen“ treffen, um behinderten Menschen einen gleichwertigen Service wie nicht behinderten Menschen anzubieten. Dazu gehören zum Beispiel portable Rampen, die ein oder zwei Stufen überbrücken helfen. Treffen die Einrichtungen und Geschäfte diese Vorkehrungen nicht, machen sie sich schadensersatzpflichtig. Zwar sind die Summen, die für Diskriminierung gezahlt werden, im Königreich noch nicht ganz so hoch wie in den USA, aber dennoch sorgen sie dafür, dass ziemlich viel getan wird.

Fairerweise muss man sagen, dass sich viele Unternehmen daran halten und genau diese Vorkehrungen getroffen haben. Oft ist das keine Frage des Geldes – eine portable Rampe kostet etwa 100 Euro – sondern des Willens. Auch die erwähnte Drogeriekette kann sich die Wartung ihrer Lifts sicher leisten. Aber man muss es eben machen. Und was für einen kleinen Laden an der Ecke zu teuer ist, ist dann auch nicht mehr „angemessen“ im Sinne des Gesetzes.

Die schlimmste Situation während des Filmens für mich war, als ich von einem Typen in einer U-Bahnstation belästigt wurde, der vorgab, mir doch nur helfen zu wollen, um mich später mit Gegenständen zu bewerfen. Bis zum Schluss wurde diskutiert, ob diese Szene im Film bleiben sollte. Erst mit Ausstrahlung sah ich, dass sie nicht gezeigt wurde. Eigentlich handelt der Film ja auch von Barrieren und nicht von kriminellen Übergriffen.

Gewöhnungssache

Interessant für mich war, das Material hinterher anzuschauen, denn ich habe viele Situationen teilweise gar nicht so krass wahrgenommen, wie sie aber de facto waren. Das wurde mir erst klar, als ich die Aufzeichnungen sah. Etwa respektlose Restaurantmanager und Angestellte, die mir sagen, ich solle doch draußen essen, da gebe es niedrige Tische. Doof dabei war nur, dass es in Strömen regnete.

In der Situation selber fielen mir die teilweise unverschämten Reaktionen gar nicht mehr auf. Ich war nur noch auf Problemlösung aus, was im Alltag wohl auch wirklich besser ist, als sich auch noch über das Benehmen aufzuregen. Aber an der Reaktion des BBC-Teams, wenn ich neues Material überspielte, merkte ich schon, was ich als normalen Alltag empfand, war für nicht behinderte Zuschauer, die diese Situationen nicht so kennen, total schockierend. Ich bin das einfach gewöhnt.

Ich war am Ende froh, die Kamera wieder zurückgeben zu können. Dennoch finde ich es wichtig, dass es solche und ähnliche Fernsehprojekte gibt. Was geändert werden muss, um behinderten Menschen die Teilhabe am normalen Leben zu ermöglichen, wird vielen erst bewusst, wenn sie die Probleme mal gesehen haben – und sei es im Fernsehen. Das ist viel effektiver, als irgendwelche Promis in Rollstühle zu setzen.

 

Inklusion nicht nach 21 Uhr

Am Sonntag kam ich an einem Schild vorbei, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass man zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts die Treppe nehmen solle. Der Fahrstuhl würde in dieser Zeit abgestellt. Es war bei Weitem noch nicht ein Uhr, sodass ich noch aus dem Gebäude herauskam. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wer sich so etwas ausdenkt.

Eine Ausnahme? Von wegen. Fahrstühle, die nachts abgestellt werden, kommen immer mal wieder vor. Auch in Bereichen, die auch nachts genutzt werden. Was mich daran fast noch mehr ärgert als der Umstand, dass ich dann dort nicht mehr hinein- oder herauskomme, ist die Einstellung, die sich dahinter verbirgt: Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben spät nachts zu Hause zu bleiben, deshalb kann man den Fahrstuhl ja abschalten.

Vor Jahren bin ich mal in einer Stuttgarter U-Bahn-Station gestrandet, weil jemand noch vor Abfahrt des letzten Zuges den Fahrstuhl der Station ausgeschaltet hatte. Der herbeigerufene Sicherheitsdienst erklärte mir dann auch gleich im entrüsteten, fast schon tadelnden Tonfall, dass Rollstuhlfahrer so spät normalerweise nicht unterwegs seien. Inklusion bitte nicht nach 21 Uhr.

Noch nie auf einem Konzert

Die Organisation Mencap hat jetzt in London ein Konzert veranstaltet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, nach 21 Uhr am sozialen Leben teilzunehmen. Oft sind es nicht nur bauliche Probleme, die das verhindern, sondern auch organisatorische. Ist noch jemand da, um jemanden, der auf Assistenz angewiesen ist, mitten in der Nacht ins Bett zu bringen? Wer hilft einem Menschen mit Lernschwierigkeiten, mitten in der Nacht nach Hause zu kommen? Eine der beiden Moderatorinnen des Konzerts – eine junge Frau, die selbst eine Lernbehinderung hat – war zuvor noch nie auf einem Konzert. Was für nicht behinderte 18-Jährige normal ist, war für die Moderatorin eine einmalige Ausnahme.

Gerade wenn Menschen in Einrichtungen leben und nicht selbstbestimmt in der eigenen Wohnung wohnen, müssen sie sich oft an den Ablauf der Einrichtung anpassen. Konzert- und Kinobesuche nur nach Anmeldung, wenn überhaupt. Inklusion sieht anders aus.

Die späte Buchung verrät die Identität

Wer als behinderter Mensch nach 21 Uhr unterwegs ist, bekommt auch schon mal gesagt, wie ungewöhnlich das sei. Ich bin ständig nach 21 Uhr unterwegs. Wenn ich mir spät ein Taxi bestelle, um nach Hause zu fahren, ist es mir mehrfach passiert, dass ein Fahrer kam, den ich schon kannte. Das ist in einer Millionenstadt wie London mit 20.000 Taxis wirklich sehr ungewöhnlich. „Ich habe gleich gewusst, dass Sie es sind, als ich die Buchung sah. Ist ja schon spät, da fahren nur noch Sie mit der Taxicard. Ich wollte eigentlich nach Hause fahren, aber ihr Zuhause liegt ja auf meinem Weg“, kriege ich dann manchmal zu hören. Eine Taxicard ist ein System, das in London die Fahrdienste ersetzt und mit dem Rollstuhlfahrer und blinde Menschen preiswert Taxi fahren können. Natürlich wissen die Fahrer eigentlich nicht, wer die Fahrt gebucht hat, bevor sie sie annehmen. Aber sie sehen, dass es eine Taxicard-Buchung ist.

Es ist spät, da bucht eine Rollstuhlfahrerin im Südosten Londons: Allein über diese Angaben wissen die Fahrer also schon, dass ich das sein muss. Und weil sie mich kennen und wissen, wo ich wohne und das auf ihrem Weg liegt, nehmen sie die Fahrt an. Nun könnte ich mich über meinen Taxi-VIP-Status in London freuen. Tue ich aber nicht, denn es zeigt nur, dass der Weg zur Inklusion noch weit ist.

Nicht zum Nulltarif

Es muss triftige Gründe dafür geben, warum so wenige behinderte Menschen spät abends unterwegs sind. Genau diese Gründe sind es, die die Inklusion behindern, und ich ahne, welches der wichtigste ist: fehlende Assistenz. Ist diese nicht gegeben, kann man sein Leben nicht selbst bestimmen. Ein weiteres Problem sind Strukturen, die einem sagen, wann man zu Hause zu sein hat, sowie die Einstellung, behinderte Menschen hätten abends und nachts zu Hause zu sein, und dass es auch keinen Grund gebe, das zu ändern.

Die Lösung für dieses Problem lautet in vielen Fällen persönliche Assistenz statt Heim oder Pflegedienst. Wenn mehr behinderte Menschen selbst bestimmen könnten, was sie mit ihrem Leben machen und wann sie es tun, würde das Fahrstuhl-Ausschalten aufhören und auch nach 21 Uhr könnte man auf viel mehr Menschen mit Behinderungen treffen. Ja, das alles kostet Geld, aber Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht einmal vor 21 Uhr.

 

Inklusion heißt Erwartungen hochschrauben

Wenn über Inklusion diskutiert wird – und ich meine jetzt die gesamtgesellschaftliche Teilhabe, nicht nur die schulische Inklusion – wird viel über Bedingungen geredet. Mehr Barrierefreiheit, mehr Assistenz, mehr Möglichkeiten. Aber Inklusion ist keine Einbahnstraße. Was sich auch ändern muss, ist die Einstellung behinderter Menschen selber.

Wenn es keine Erwartungen gibt oder die Erwartungen derart niedrig sind, dass sie weiter de facto Ausgrenzung bedeuten, wird sich wenig ändern. Menschen mit Behinderungen (und ihre Angehörigen) sind aber unterdessen so daran gewöhnt, dass die Zustände so sind, wie sie sind, das sich viele damit abgefunden haben.

Ausgeschalteter Parkautomat

Nun ist es natürlich in der Tat so, dass man, wenn man als behinderter Mensch am normalen Leben teilnimmt, des öfteren auf Barrieren stößt – beispielsweise baulicher, organisatorischer oder menschlicher Art.

Ich parke öfter auf einem sehr großen Park&Ride-Parkplatz, der tagsüber und spät abends wenig frequentiert ist. Ich schätze, der Parkplatz ist mindestens zwei Fußballfelder groß. Da es sich um einen Privatparkplatz handelt, muss ich trotz Behindertenparkausweis zahlen.

Es gibt etwa 20 Behindertenparkplätze dort, aber leider nur sehr wenige Parkautomaten. Schlauerweise hat man aber einen der Parkautomaten direkt neben die Behindertenparkplätze gestellt. Aber ausgerechnet dieser Automat ist oft ausgeschaltet, obwohl er nagelneu ist. Der andere Automat ist am anderen Ende des riesengroßen Parkplatzes und nur über eine hohe Stufe zu erreichen, die ich alleine nicht hoch komme. Das Büro der Parkplatzverwaltung liegt gegenüber, ist aber ebenfalls für mich nicht erreichbar.

Immer wieder spielt sich dann, wenn das Gerät mal wieder ausgeschaltet ist, eine ähnliche Diskussion ab. Ich rufe über die Gegensprechanlage des Automaten die Parkplatzbesitzer an, die immer erstmal erklären, dass man da gar nichts machen könne und ich jetzt wohl oder übel selbst nach einer Lösung des Problems suchen müsse. Die finde ich auch immer sofort, sie sieht aber nicht so aus, wie sie sich das gedacht haben, denn sie lautet: Ein Parkplatzwächter kommt zu mir und ich bezahle bei ihm. Aber noch nie hat sich einer der Mitarbeiter zu mir bemüht. Die haben einfach keine Lust, ihr Büro zu verlassen. Immer heißt es dann, man lasse mich dann eben so raus fahren ohne zu bezahlen.

Probleme an die Verursacher zur Lösung zurückgeben

Ich will dort nicht kostenlos parken, darum geht es mir nicht. Aber ich habe mir unterdessen angewöhnt, die Lösungen für Probleme, die ich nicht verursacht habe, dem Verursacher zu überlassen und nicht mir aufdrücken zu lassen. Wer seinen Parkautomat an den Behindertenparkplätzen nicht in Schuss hält, muss entweder zu mir kommen oder hat Pech gehabt, was seine Einnahmen angeht. Nur das wird hoffentlich irgendwann dazu führen, dass dieser Automat funktioniert.

Vor zehn Jahren wäre ich vielleicht wirklich noch die zwei Fußballfelder entlang gerollt, hätte so lange gewartet bis irgendjemand auch zahlen möchte, ihn entweder gebeten, mir die Stufe hoch zu helfen oder wenn das nicht geht, ihm mein Geld in die Hand gedrückt und ihn gebeten, für mich zu bezahlen – auch auf die Gefahr hin, dass er mit dem Geld abhaut.

Erwartungen müssen sich ändern

Aber meine Erwartungen, auch an private Unternehmen haben sich geändert, nicht zuletzt deshalb, weil ich in Großbritannien ein starkes Recht in meinem Rücken habe, die solche Behandlung von behinderten Menschen untersagt. Unternehmen sind verpflichtet „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um Diskriminierung vorzubeugen. Dazu gehört eben auch den zugänglichen Parkautomaten zu warten und wenn er nicht geht, sich aus dem Büro zu bewegen und mir zu helfen. Und wenn sie das nicht wollen, müssen sie mich in der Tat dort kostenfrei wieder rausfahren lassen.

Mit meiner Bereitschaft, zum anderen Automaten zu rollen und auf Hilfe von Fremden zu hoffen, hätte ich nichts verändert. Mit jedem Mal hätte der Parkplatzinhaber weiter sein Geld bekommen und ich eine Menge Zeit und Kraft verloren. Immer wenn ich das Gefühl habe, jemand verursacht Ausgrenzung, Schwierigkeiten und stellt mir Barrieren in den Weg, bitte ich freundlich um Beseitigung und verändertes Verhalten. Nur so ändert sich etwas. Die Teilhabe behinderter Menschen wird sich nur dann verbessern, wenn sie eingefordert wird – nämlich von den behinderten Menschen selber.