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Barrierefreie Weihnachten

Es ist Weihnachten. Für viele behinderte Menschen kann es durchaus eine Herausforderung sein, Weihnachten möglichst barrierefrei zu verbringen. Das geht schon bei den Örtlichkeiten los und hört bei Kommunikationsbarrieren nicht auf. Aber natürlich ist es möglich, auch mit behinderten Angehörigen und Freunden ein schönes Weihnachtsfest zu feiern, an dem jeder Spaß hat, wenn man ein paar Punkte beachtet.

Auf den Ort kommt es an

Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft mir jemand sagte, Weihnachten sei nicht so toll gewesen, denn man habe an einem nicht sehr barrierefreien Ort gefeiert, er oder sie habe sich dadurch kaum alleine bewegen können, kam nicht oder nur sehr schwer zur Toilette, musste getragen werden oder was auch immer. Ja, die deutsche Durchschnittswohnung ist vielleicht nicht gerade das Musterbeispiel an Barrierefreiheit, aber oft gibt es ja Optionen. Man muss sie nur nutzen.

Feiert man bei Onkel Paul, der keine Stufen vor der Tür hat oder bei Tante Elfriede, die im 4. Stock ohne Fahrstuhl wohnt? „Aber wir haben doch schon immer bei Tante Elfriede gefeiert“ ist dann vielleicht nicht so das beste Argument, wenn man weiß, dass Neffe Thomas nicht mehr laufen kann oder die Oma die Treppen nicht mehr so gut hinaufkommt. Schließlich sollen sich an Weihnachten ja alle wohlfühlen und dazu trägt eben meist schon die Wahl des Ortes bei, an dem Weihnachten gefeiert werden soll.

Inklusiv feiern

Es sollte vor allem an Weihnachten eigentlich selbstverständlich sein, aber ich erwähne es aus gutem Grund dennoch: Weihnachten ist ein Fest für alle. Wenn die Mehrheit der Familie irgendwas zusammen macht und einer sitzt in der Ecke und starrt die Wand an, ist irgendwas schief gelaufen. Wenn das daran liegt, dass die Person sich aufgrund einer Behinderung ausgeschlossen fühlt, ist das nicht schön.

Um das zu verhindern, sollte man sich unter Umständen vorher gut überlegen, was man an dem Tag macht. Wenn nicht alle teilnehmen können, welche Alternativen gibt es? Wie haben dennoch alle einen schönen Tag?

Untertitel / Audiodeskription einschalten

Ein gemeinsamer Fernsehabend ist etwas feines, aber nur, wenn alle daran teilhaben können. Ist jemand schwerhörig oder gehörlos, sind Untertitel im Fernsehen hilfreich und mehr als eine nette Geste, diese einzuschalten ohne dass die Person darum bitten muss, wenn er oder sie sonst auch immer Fernsehen mit Untertitel schaut. Der britische Blogger Charlie Swinbourne hat weitere Tipps für ein barrierefreies Weihnachten für gehörlose Menschen zusammen gestellt.

Was für gehörlose und schwerhörige Menschen die Untertitel sind, ist für blinde und sehbehinderte Menschen die Audiodeskription (AD). Läuft der Film mit AD sollte man diese einschalten, wenn jemand, der blind ist, mitschaut.

Mit Bedacht schenken

Es gibt kaum eine bessere Kneipenunterhaltung als die über unnütze Geschenke, die man als behinderter Mensch bekommen hat. Vor kurzem erzählte mir jemand, ihr Opa habe, wie jedes Jahr, von einer Verwandten schwarze Socken geschenkt bekommen. Ein Klassiker also. Dagegen ist ja nicht zu sagen, wenn man nicht weiß, dass der Opa im vergangenen Jahr aufgrund von Diabetes beide Füße abgenommen bekommen hat und nein, nicht mit Prothesen versorgt ist.

Wer also nicht im Fettnapf baden möchte, denkt vielleicht lieber einmal mehr darüber nach, ob ein Geschenk sinnvoll ist für jemanden, der behindert ist, oder nicht.

Das Gleiche gilt für das Schenken von Hilfsmitteln. Was Angehörige für jemanden als total hilfreich erachten, muss es nicht wirklich sein. Im Zweifelsfall sucht sich die Person das Hilfsmittel am besten selber aus. Dann ist zwar unter Umständen die Überraschung dahin, aber man investiert nicht Unsummen von Geld in ein Hilfsmittel, das dann doch nur in der Ecke steht. Am Ende ist es immer die Entscheidung des behinderten Menschen selber, was er nutzt und was nicht.

Deshalb ist grundsätzlich beim Schenken von Hilfsmitteln Vorsicht geboten. Nicht alle werden es mögen, wenn sie ohne Absprache Hilfsmittel zu Weihnachten bekommen. Manche könnten das als etwas bevormundend auffassen, andere empfinden Hilfsmittel gar nicht als Geschenk. Also, es ist Fingerspitzengefühl gefragt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs schöne und barrierefreie Weihnachten!

 

Kein Wahlrecht

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

So lautet Artikel 38 des Grundgesetzes.

Weiter heißt es:

„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“

Und trotzdem gibt es in Deutschland Menschen, die über 18 sind und denen der Staat dennoch kein Wahlrecht gegeben hat.

Bundesverfassungsgericht soll es richten

Acht behinderte Menschen haben deshalb jetzt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, weil sie bei der Bundestagswahl 2013 nicht wählen durften. Zuvor war ihr Einspruch gegen die Wahl durch den Bundestag abgelehnt worden.

Die Beschwerdeführer wollen, dass die Verfassungshüter die Gründe, warum sie nicht wählen dürfen, für nichtig erklären. Unterstützt werden sie dabei von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).

Wählen darf nach einer Regelung des Bundeswahlgesetzes nicht, für wen eine Betreuung in allen Angelegenheiten besteht. Außerdem ist von der Wahl ausgeschlossen, wer sich im psychiatrischen Maßregelvollzug befindet, weil er oder sie aufgrund einer Krankheit oder Behinderung schuldunfähig ist und krankheitsbedingt weitere Taten drohen.

Die acht von der Wahl Ausgeschlossenen sind damit nicht alleine. Die Lebenshilfe schätzt, dass deutschlandweit rund 10.000 Menschen von diesen Regelungen betroffen sind und man ihnen kein Recht einräumt, zur Wahl zu gehen.

Leichte Sprache gibt Zugang zu Information

Lebenshilfe und Caritas halten das für verfassungswidrig. „Natürlich können auch Menschen, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben, eine überlegte Wahlentscheidung treffen“, so die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Ulla Schmidt. Wichtig sei, dass Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Informationen zur Wahl in leichter Sprache erhalten und so bei der Ausübung ihres Wahlrechts unterstützt werden.

Diese Angebote in leichter Sprache gibt es immer mehr. So bietet beispielsweise die Zeitung Das Parlament, öffentlich-rechtliche Sender, aber auch politische Parteien und der Bundestag selbst politische Informationen in leichter Sprache an.

Was bei der Problematik deutlich wird: Den Gründen für den Ausschluss zur Wahl liegt ein veraltetes Bild von dieser Gruppe behinderter Menschen zugrunde. Das sieht man auch bei der Caritas so: „Sie stammen aus einer Zeit, als Gesellschaft und Recht Menschen mit Behinderung nicht zutrauten, in allen gesellschaftlichen Bereichen teilhaben zu können“, sagte Johannes Magin, Vorsitzender des CBP.

Willkür

Das Wahlrecht wird obendrein willkürlich entzogen: Dass jemand betreut wird oder in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wird, heißt nicht automatisch, dass er oder sie nicht wählen und sich vor der Wahl informieren kann.

In Artikel 3 Satz 2 verbietet das Grundgesetz zudem, dass Menschen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Auch Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention garantiert behinderten Menschen das Wahlrecht. Deutschland hat sich verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Das bedeutet auch, behinderten Menschen das gleiche Wahlrecht einzuräumen wie nicht behinderten Menschen.

Das alles ist leider ein unschönes Beispiel dafür, dass Inklusion oft nicht am Geld scheitert, sondern an Vorurteilen. Bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das auch so sieht.

 

Zum Fremdschämen

Am Samstagabend war ich auf einer Geburtstagsparty. In der Kneipe, in der wir feierten, hatte ich keinen Handyempfang und so war ich, was bei mir selten genug vorkommt, fast vier Stunden offline. Als ich draußen wieder Empfang hatte, hatte ich über unterschiedliche Messenger viele neue Nachrichten: Diverse Leute wollen mit mir reden, aus Deutschland, Österreich und Großbritannien. Erst dachte ich, es sei irgendetwas Weltbewegendes passiert. Dann aber ging es doch nur um den Untergang eines Flaggschiffs der deutschen Fernsehunterhaltung.

Körpersprache und Gesichtsausdruck

Alle wollten wissen, ob ich Wetten, dass…? schaue und es auch so furchtbar finde, wie dort Markus Lanz mit Samuel Koch umgeht. Ich schaute mir auf der Heimfahrt Reaktionen auf Twitter an und es war schnell klar, dass das Interview mit Samuel Koch mehr als fragwürdig war.

Samuel Koch hat sich vor einem Millionenpublikum eine Querschnittlähmung zugezogen – in der gleichen Sendung, in der er nun wieder zu Gast war. Dass das keine einfache Situation werden würde, hätten sich Moderator und Redaktion denken können. Aber sie haben das Interview wie einen zweiten Unfall inszeniert. Die Fragen von Markus Lanz waren peinlich, zum Fremdschämen. Sie waren übergriffig und eines Moderators einer Samstagabendsendung unwürdig. Selbst wenn man den Ton ausschaltet und nur die Körpersprache des Moderators und den Gesichtsausdruck von Samuel Koch ansieht, sieht man: da läuft irgendwas gehörig schief.

Samuel Koch wollte über seine Schauspielprojekte reden. Markus Lanz fragte ihn lieber mehrmals, wie es ihm geht, um am Ende nach der Sinnhaftigkeit des Unfalls zu fragen. Solche Fragen bin ich auch gewohnt, normalerweise von irgendwelchen sektenartigen Predigern auf der Straße, die meinen, mich zu irgendetwas bekehren zu wollen, weil ich im Rollstuhl sitze. Die fragen auch immer, welchen Sinn es habe, dass ich nicht laufen kann. Manchmal sage ich solche Leuten auch, wie sehr sie mich nerven. Samuel Koch hatte da mehr Geduld als ich, aber sein Gesicht und die zögerliche Antworten sprachen Bände.

Das schlechte Gewissen der Nation

Man tut Samuel Koch keinen Gefallen damit, ihn zum personalisierten schlechten Gewissen der Nation zu machen. Von einem Moderator wie Markus Lanz kann man erwarten, Samuel Koch und alle behinderten Menschen in seinen Sendungen auf Augenhöhe zu begegnen. Dazu gehört, jemanden wie Samuel Koch nicht ungefragt ständig anzufassen, zu tätscheln und zu umarmen. Es war Samuel Koch sichtlich unangenehm.

Diese von Mitleid getriebene Behandlung von oben herab ist ungefähr das Gegenteil von dem, was jemand wie Samuel Koch verdient hätte: Respekt, so wie jeder andere Schauspieler, der bei Wetten, dass…? seinen Film bewirbt. Mitleid ist so gut wie immer das Gegenteil von Respekt, Mitleid findet nie auf Augenhöhe statt. Es ist zutiefst demütigend, wenn man merkt, der andere bemitleidet einen – vor allem in einer Situation, in der man voller stolz ein Projekt präsentieren möchte.

Erfolge statt Mitleid

Samuel Koch hat sein Studium erfolgreich beendet, spielt Theater, hat mit Til Schweiger gedreht und hat, wenn man der Klatschpresse glauben darf, gerade eine neue Freundin. Es hätte der Sendung gut zu Gesicht gestanden, über solche Dinge und Erfolge zu reden, anstatt eine Mitleidsshow abzuziehen. Das passt in die 1980er Jahre, als die Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind hieß. Markus Lanz hat versucht, aus Samuel Koch ein Sorgenkind zu machen. Es ist ihm nicht gelungen.

 

Liliput in Cloppenburg

Wir befinden uns im Jahre 2014. Ganz Deutschland redet von Inklusion, von gleichberechtigter Teilhabe und Rechten von behinderten Menschen. Ganz Deutschland? Nein! In Cloppenburg findet man es offensichtlich immer noch in Ordnung, kleinwüchsige Menschen als Attraktion vorzuführen. Die örtliche Disko kündigte für den 6. Dezember „7 echte Liliputaner“ als Attraktion auf ihrer Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ an.

Nun könnte man sich ohnehin darüber wundern, wieso die Veranstalter glaubten, mit Fabel- und Märchenfiguren und der Zurschaustellung von Menschen mit einer Körpergröße von unter 1,50 Meter mehr Besucher anzulocken. Aber vielleicht ist das ein ernstzunehmendes Signal dafür, dass die Inklusion doch nicht so weit ist, wie man das von einer zivilisierten Gesellschaft annehmen könnte – zumindest nicht in Cloppenburg.

Kleinwüchsigen-Verband empört

Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft seit dem Buch Gullivers Reisen, aus dem der Begriff Liliputaner stammt, doch weiterentwickelt hat. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien zeigte sich empört und verurteilte die Zurschaustellungen von kleinwüchsigen Menschen in der Diskothek: „Die online lesbare Veranstaltungsbeschreibung kündigt an, dass am 06.12.2014 „(…) 7 echte Liliputaner (…)“ auf der Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ seien. Diese Darstellung ist verächtlich, ablehnend und stellt den kleinwüchsigen Menschen nicht als Mitglied unserer Gesellschaft dar. Vielmehr werden hier Menschen mit Fabelwesen aus dem Buch Gullivers Reisen gleichgestellt und zur reißerischen Akquise von Diskobesuchern missbraucht. Dies ist in jeder Hinsicht menschenverachtend. Menschen als Liliputaner zu bezeichnen, sie zur Belustigung zu missbrauchen und zum Gespött anderer zu machen, gehört untersagt. Wir sehen darin eine massive Missachtung der Menschenwürde.“

Das saß. Die Diskothek änderte ihre Veranstaltungsankündigung um. Aus den Liliputanern wurden Zwerge, womit die Veranstalter zweifelsohne bewiesen, dass sie rein gar nichts verstanden hatten. Als ob der Begriff Zwerge irgendwie besser als Liliputaner wäre. Menschen waren die kleinwüchsigen Darsteller damit ja immer noch nicht und zur Schau gestellt wurden sie dennoch. Und so verteilte sich die Veranstaltungsankündigung weiter im Internet. Allerdings nicht, weil alle unbedingt die „7 Zwerge von Cloppenburg“ sehen wollten, sondern weil man vereint die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

Peinlich

Und irgendwie war der Diskothek das Ganze dann hinterher doch ein bisschen peinlich. Ja, die 174 Partyfotos hat man natürlich dennoch auf Facebook veröffentlicht, aber dort konnte man auch lesen, man habe die Schneewittchen-Party über eine Veranstaltungsagentur gebucht, die dort in deren Programm angeboten wurde.

Weiter heißt es: „Diese Veranstaltung/Party wird unter anderem mit kleinwüchsigen Menschen durchgeführt, welche auch ebenfalls im Text der Veranstaltung beworben wurden. Dies rief bei einigen Gästen und Besuchern Unverständnis und Empörung auf, dies war von uns nicht beabsichtigt. Wir entschuldigen uns hiermit offiziell bei denjenigen, denen dies missfallen hat. Wir wollten nie jemanden diskriminieren oder „zur Show“ stellen!“

Und die Moral von der Geschicht: Menschenunwürdige Darstellungen gehen auch in Diskotheken nicht. Denn offensichtlich haben sich auch Gäste über das Programm beschwert. Die Zeiten, in denen kleinwüchsige Menschen und Menschen, die einfach anders aussehen als der Durchschnitt, ausgestellt wurden, sind Gott sei Dank vorbei. Und wer jetzt sagt, die kleinwüchsigen Darsteller machen doch mit, sollte sich mal fragen, warum das so ist.

 

Goodbye, Stella Young

Am Wochenende starb Stella Young. Sie wurde nur 32 Jahre alt. Stella war eine australische Journalistin und Aktivistin. Bekannt wurde sie nicht zuletzt als Comedian. Sie war ein Vorbild für viele behinderte Menschen auf der ganzen Welt.

Stella hatte Osteogenesis Imperfecta, umgangssprachlich Glasknochen genannt, und saß deshalb im E-Rollstuhl. Sie starb am Samstag völlig unerwartet und schmerzlos, teilte ihre Familie mit. Die Reaktionen, vor allem im englischsprachigen Internet auf ihren Tod waren überwältigend. Stella Young war am Sonntag, als ihr Tod bekannt wurde, einer der meist genutzten Begriffe auf Twitter.

Ich habe Stella während der Paralympics in London gesehen, als sie mit den Abnormally Funny People auftrat. Sie war eine hervorragende Künstlerin und Aktivistin, die das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen konnte und ihnen zudem ein anderes – oder wie sie es nannte – „wahres“ Bild vom Leben mit Behinderung zu vermitteln.

Behinderung nicht als Defizit sehen

Stella setzte sich vor allem dafür ein, Behinderung zu normalisieren und nicht mehr als Defizit zu betrachten. „Mit 17 habe ich endlich die Wahrheit erfahren“, sagte sie oft. Da habe ihr jemand vom sozialen Modell von Behinderung erzählt. „Ich habe gelernt, dass nicht ich falsch für diese Welt bin, sondern dass die Welt falsch für mich ist“, sagte sie. Sie sprach von da an von „behinderten Menschen“ und nicht mehr von „Menschen mit Behinderungen“, denn sie wollte nicht, dass man die Behinderung irgendwo hinten verstecken muss. Stella Young wollte klar machen, dass behinderte Menschen behindert werden und Behinderung nicht in erster Linie ein körperlicher Zustand ist. Dafür nutze sie ihre zahlreichen Medienauftritte, ihr Comedyprogramm und Vorträge. Den bekanntesten Vortrag hielt sie bei TEDx in Sydney.

Inspirationsporno

In diesem legendären TEDx-Talk sprach sie darüber, wie behinderte Menschen als Inspiration missbraucht werden, nicht zuletzt auf Social-Media-Kanälen. Sie kritisierte zum Beispiel viel geteilte Sprüche wie „The only disability in life is a bad attitude“ (Die einzige Behinderung im Leben ist eine schlechte Einstellung).

„Inspirationsporno“ nannte Stella diese Bilder. „Wir objektivieren die Gruppe behinderter Menschen zum Nutzen der Gruppe nichtbehinderter Menschen.“ Stella fragte in ihrem TEDx-Talk: „Ist es wirklich fair, Menschen als Inspiration zu benutzen, nur weil sie ihren Körper so nutzen wie sie ihn nutzen können?“, fragte Stella. Und zudem seien die Sprüche auch nicht wahr: „Noch nie haben sich Stufen in eine Rampe verwandelt, nur weil ich sie freundlich angelächelt habe.“ Die Behinderung – in dem Fall die Stufen – bleiben, auch wenn sie ihre Einstellung dazu ändere. Sie lebte das soziale Modell von Behinderung überall – Barrieren in der Umwelt waren für sie die Behinderung, nicht ihre Diagnose oder ihr Körper.

Stella Young hat uns behinderten Menschen viel hinterlassen. Sie wollte, dass behinderte Menschen sich selbst als normalen Teil der Gesellschaft sehen und so gesehen werden und sie irgendwann nichts Besonderes mehr sind. Kein Inspirationsporno mehr und kein Mitleid. Stattdessen wollte sie gleiche Rechte und setzte sich sehr für eine bessere Teilhabe behinderter Menschen in Australien und auf der ganzen Welt ein. Wenige Wochen vor ihrem überraschenden Tod hat der Sydney Morning Herald einen Brief von ihr an ihr 80-jähriges Selbst veröffentlicht. Sie ist leider keine 80 geworden, trotzdem enthält der Brief tolle Botschaften, auch was ihren Tod angeht.

Stella ist nicht mehr da, aber ihre Botschaften leben weiter. Wenn das nächste Mal der „Behinderung ist nur eine falsche Einstellung“-Spruch in der Timeline auftaucht, ihn einfach nicht mehr zu teilen, wäre schon ein Anfang.

 

Vom Helfen und Hilfe annehmen

„Ich weiß immer nicht, ob ich fragen soll, ob jemand Hilfe braucht“, ist einer der Sätze, die ich ziemlich oft höre, wenn mir andere von ihren Berührungsängsten erzählen, die sie im Umgang mit behinderten Menschen haben.

Einfach fragen

Ich finde, jemanden zu fragen, ob er Hilfe braucht, ist so gut wie nie verkehrt. Ich freue mich eigentlich über jedes Hilfsangebot, lehne die meisten aber ab, schlicht und einfach, weil ich es selber kann, auch wenn es vielleicht etwas länger dauert. Es hängt aber auch von meiner Tagesform ab und ehrlich gesagt auch, wer mir Hilfe anbietet. Sich helfen zu lassen ist nämlich auch Vertrauenssache. Von jemandem, der beispielsweise nicht mehr ganz nüchtern wirkt, werde ich mir sicher nicht eine Stufe hoch helfen lassen.

Was mich allerdings nervt ist, wenn ich drei Mal gefragt werde, ob ich wirklich keine Hilfe benötige, auch wenn ich das Hilfsangebot schon zwei Mal freundlich abgelehnt habe. Es ist nett, Hilfe anzubieten, aber man muss dann auch akzeptieren können, wenn dieses Angebot abgelehnt wird. Und was ich auch nicht mag: Wenn ich die Hilfe von jemandem annehme, dieser dann ein riesiges Trara darum macht, wie hilfebereit er doch sei im Gegensatz zu anderen Leuten. Wer nur hilft, um sich hinterher selber auf die Schulter zu klopfen, kann es auch gleich sein lassen.

Das Kofferproblem

In den vergangenen vier Wochen war ich in Wien. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die immer mit ihrem halben Hausstand verreisen, sondern nehme so wenig wie möglich mit – da ich zumindest geschäftlich fast immer alleine reise, muss ich ja schon schauen, dass ich das Gepäck irgendwie alleine vom Flughafen zum Hotel transportiert kriege. Das heißt, ich versuche entweder so wenig mitzunehmen, dass die Tasche hinten an den Rollstuhl passt, oder ich habe einen Koffer, den ich vor mir herschiebe. Das mit dem Schieben funktioniert auf ebener Strecke ganz gut, bei längeren Strecken weiß man allerdings am nächsten Tag dank des Muskelkaters, was die Oberarmmuskeln geleistet haben.

Für den Aufenthalt in Wien reichte die kleine Tasche nicht mehr, sondern der Koffer musste mit. Vom Flughafen bis zum Hotel nahm ich erst den Flughafenzug CAT und dann die U-Bahn. Beim Ein- und Aussteigen in die Züge fragte ich immer jemanden, ob er mir den Koffer über die Schwelle heben kann, denn zum Rollstuhlfahren über Schwellen brauche ich schon zwei Hände und eine dritte Hand zum Kofferschieben habe auch ich nicht. Ich finde eigentlich immer jemanden, der mir dann hilft.

Die meisten Menschen helfen gerne

Grundsätzlich habe ich mit der Hilfsbereitschaft der Menschen fast auf der ganzen Welt gute Erfahrungen gemacht. Nur in Schweden hatte ich ein paar Probleme. Immer wenn ich jemanden um etwas gebeten habe, wurde ich gefragt, warum ich denn keine persönliche Assistenz habe oder wo diese sei. In Schweden leben viel mehr Menschen mit persönlicher Assistenz als das in Deutschland oder anderen europäischen Ländern der Fall ist. Es ist dort einfach normal, dass behinderte Menschen sich ihre Assistenz selbst organisieren und ihre Assistenten selbst beschäftigen, finanziert durch Zahlungen des Staates. Dennoch fand ich die Reaktionen mancher Schweden etwas merkwürdig. Auch wenn behinderte Menschen dort öfter mit Assistenz leben, kann das ja nicht bedeuten, dass man diese grundsätzlich dabei haben muss. Es ist nun wirklich kein Problem, mir mal ein Joghurt aus dem Supermarktregal zu geben oder mir den Kaffee an den Tisch zu bringen.

In Wien ist mir dann bei der Abreise etwas sehr nettes passiert. Ich war um 6.30 Uhr morgens in der U-Bahn mit meinem Koffer und fragte eine Frau neben mir, ob sie mir den Koffer in die Bahn nehmen kann. Wie gesagt, ich brauche meine beiden Hände, um den Rollstuhl über die Schwelle der U-Bahn zu kriegen. Das war auch kein Problem, sie nahm den Koffer mit hinein. Drinnen fragte sie mich dann, wo ich denn hin unterwegs sei. Ich erklärte ihr, ich sei auf dem Weg zum Flughafen und würde in Wien-Landstraße in den Flughafenzug umsteigen. Sie bot mir an, mich zu begleiten und mir den Koffer bis zum Zug zu bringen, denn sie sei sowieso viel zu früh zu ihrem Termin und hätte noch Zeit zu überbrücken. Die nette Wienerin hat mir dann tatsächlich den Koffer durch die halbe Stadt bis zum Zug gezogen – ohne viel Aufhebens darum zu machen und hat mir so den Muskelkater erspart. Danke, liebe Wienerin!

 

Die Bildungsmisere gehörloser Menschen

Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Grund hat der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die prekäre Bildungssituation gehörloser Menschen aufmerksam gemacht. Schätzungsweise nur 3 Prozent der etwa 10.000 gehörlosen Österreicher haben Matura, also das österreichische Abitur, sagten die Vertreter des ÖGLB. Nur 1 Prozent hat einen Hochschulabschluss.

Es gibt also ein enormes Bildungsdefizit gehörloser Menschen, denn eigentlich müsste der Anteil gehörloser Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, genauso hoch sein, wie der hörender Menschen. Als Folge der schlechten Schulbildung hätten gehörlose Menschen in Österreich eher niedrig bezahlte Berufe wie Näherin oder Reinigungskraft, sagte die Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und Nationalratsabgeordnete, Helene Jarmer.

Und wer jetzt glaubt, das sei ein rein österreichisches Problem, der irrt. Auch in Deutschland kämpfen Eltern dafür, dass ihre gehörlosen Kinder mit Dolmetscherunterstützung Regelschulen besuchen können, damit sie den Weg zum Abitur oder zumindest den für sie angemessenen Bildungsabschluss schaffen. Sie ziehen vor Gerichte und müssen sich mit Ämtern Auseinandersetzungen liefern, weil diese die Kosten für die Dolmetscher nicht zahlen wollen und den Eltern stattdessen sagen, die Kinder sollten auf eine Gehörlosenschule gehen – eben auf die Schulen, die die Bildungsmisere gehörloser Menschen mit verursacht haben. Stattdessen möchten die Eltern die gleichen Bildungschancen für ihre Kinder haben.

Lippenlesen und raten

Ein Grund für die Bildungsmisere ist die negative Einstellung zur Gebärdensprache. Was viele nicht wissen: Selbst Lehrer an Gehörlosenschulen müssen nicht unbedingt Gebärdensprache können, wenn sie dort unterrichten. Man erwartet von den Kindern, dass sie Lippen lesen. Aber die Vorstellung, dass man alles von den Lippen ablesen kann, ist falsch. Die deutsche Sprache können auch geübte Lippenleser nur zu 30 Prozent ablesen. Der Rest muss kombiniert oder aus dem Zusammenhang geraten werden.

Bei der Bildungsvermittlung auf 70 Prozent Raterei zu setzen, ist ein sehr gewagtes Konzept. Viele Eltern gehörloser Kinder haben das erkannt und möchten deshalb, dass ihre Kinder bilingual aufwachsen – mit Gebärdensprache und Lautsprache. Für die gehörlosen Kinder ist Gebärdensprache so etwas wie ihre Muttersprache, die Basis, auf der sie aufbauen können, um Lautsprache zu lernen. Gebärdensprache ist die Sprache, in der man ihnen am besten Wissen vermitteln kann.

Mailänder Kongress

Das Konzept, ausschließlich auf Lautsprache an Gehörlosenschulen zu setzen, geht auf den Mailänder Kongress von 1880 zurück. Dort wurde beschlossen, dass die Gebärdensprache als Unterrichtssprache an Schulen nicht mehr benutzt werden sollte. Diese Ablehnung der Gebärdensprache hat die Bildung gehörloser Menschen massiv behindert und führte damals zu einem Berufsverbot für gehörlose Lehrer. Nach über einem Jahrhundert hat man nun endlich erkannt, dass der Weg falsch war, auch wenn es immer noch Lehrer und Eltern gibt, die Gebärdensprache als etwas hinderliches ansehen.

Die Statistik aus Österreich ist sicherlich ein Alarmsignal. Sie kann als Maßstab gelten, um zu überprüfen, ob sich wirklich etwas tut im Bereich der schulischen Inklusion und ob gleiche Bildungschancen vorhanden sind. Erst wenn sich die Zahlen normalisieren, also gehörlose Menschen genauso häufig Matura beziehungsweise Abitur machen wie hörende Menschen, kann man von gleichen Bildungschancen für gehörlose Menschen sprechen.

 

Blaue Mützen für Barrierefreiheit im Internet

Köpfe mit blauen Mützen
Bild: BIZEPS

Am 30. November ist der Tag der blauen Mützen. Es ist Blue Beanie Day. Leute auf der ganzen Welt ändern dann ihre Profilfotos und laden Fotos hoch, die sie mit blauen Mützen zeigen. Damit wollen sie auf die Wichtigkeit von Webstandards aufmerksam machen. Dass wir beispielsweise eine Webseite betrachten können, egal welchen Browser wir dafür benutzen, ist nämlich kein Zufall, sondern Standards zu verdanken, auf die sich die Internetbranche geeinigt hat, an die sich aber immer noch nicht alle halten.

So legt das World Wide Web Consortium (W3C) Standards fest, wie Webseiten technisch zu gestalten sind, damit sie mit unterschiedlichsten Browsern, aber zum Beispiel auch mit verschiedenen Eingabegeräten zu benutzen sind. Für behinderte Menschen sind dabei insbesondere die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) von Bedeutung. Denn, nur wenn Webdesigner sicherstellen, dass sie die WCAG anwenden, können viele behinderte Menschen das Web ohne Einschränkung nutzen, beispielsweise mit Sprachausgaben, die blinden Menschen den Bildschirminhalt vorlesen, ohne eine Maus oder mit speziellen Eingabegeräten wie einer Kopfmaus.

Warum blaue Mützen?

Autor und Webdesigner Jeffrey Zeldman hat vor Jahren ein Buch über Webstandards geschrieben und sich dabei mit einer blauen Mütze für das Cover abbilden lassen. Dieses Buchcover inspirierte die Erfinder des Blue Beanie Day dazu, sich immer am 30. November eines jeden Jahres eine blaue Mütze aufzusetzen, sich zu fotografieren und so auf Webstandards aufmerksam zu machen.

Jeder Webseitenbetreiber kann etwas tun

Die blaue Mütze ist natürlich nur ein Symbol. Das Web wird nicht automatisch barrierefrei, weil alle plötzlich blaue Mützen tragen. Aber natürlich können Webseitenbetreiber auch konkret etwas tun: Man kann zum Beispiel mal probieren, über die eigene Webseite zu navigieren, ohne eine Maus zu benutzen. Blinde Menschen nutzen keine Maus, um zu navigieren, sondern bewegen sich beispielsweise mit der Tastatur durch die Seite.

Man kann auch einen Schnelltest machen, wie barrierefrei die eigene Seite ist. Oder man kann sich bei der W3C ganz allgemein über Webstandards informieren.

Braucht man wirklich die Grafiken mit Buchstaben und Zahlen, die man kaum lesen kann, aber eintippen muss, um an ein Webangebot zu kommen, die vielleicht auf der Seite eingebunden sind, sogenannte Captchas? Gibt es nicht eine alternative Lösung? Und wenn sie notwendig sind, kann man sie lösen, ohne sehen zu können? Man kann aber vielleicht auch das nächste Video, das man auf YouTube hochlädt, einfach mal untertiteln, damit auch gehörlose Nutzer etwas davon haben. Es gibt viele kleine Sachen, die man an einer Webseite verbessern kann, die aber einen großen Unterschied für behinderte Nutzer bedeuten können.

 

Bitte warten

Wenn man Rollstuhl fährt, ist Geduld unverzichtbar. Sonst hat man ein echtes Problem im Alltag. Wenn man behindert ist, wartet man eigentlich ständig auf irgendwas: Dass jemand den Seiteneingang aufmacht, jemand den Antrag bearbeitet, der Behindertenparkplatz frei wird, den jemand nutzt, der „nur mal schnell“ zur Post wollte.

In letzter Zeit warte ich ziemlich viel vor Behindertentoiletten. Das bringt das Reisen so mit sich, denn Behindertentoiletten an Flughäfen werden für alles Mögliche genutzt und vor allem von allen möglichen Leuten. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal „mal eben schnell“ auf eine Flughafentoilette gehen konnte. Sie sind immer besetzt. Und Sie ahnen es, die Leute, die die Toiletten nutzen, haben in der Mehrheit der Fälle keine sichtbare Behinderung.

Keine Wahl

Ich stehe dann teilweise bis zu 15 Minuten vor einer der wenigen Behindertentoiletten im Terminal, während es im Raum nebenan jeweils zehn Toiletten für Frauen und weitere zehn Toiletten für Männer gibt, die ich aber nicht nutzen kann. Behindertentoiletten sind größer als nicht barrierefreie Toiletten, wo man mit dem Rollstuhl teilweise nicht einmal durch die Tür passt. Barrierefreie Toiletten haben Griffe, an denen man sich festhalten kann und einen Alarm, falls man Hilfe braucht, weil man zum Beispiel hingefallen ist.

Nun ist die Anzahl der barrierefreien Toiletten sowieso schon knapp. Die Lage wird nicht besser, wenn sie von Leuten benutzt werden, die sie gar nicht benötigen sondern ewig belegen, weil sie sie zum Beispiel zum Umziehen oder zum Koffer umpacken benutzen – an Flughäfen beides sehr beliebt. Was auch immer wieder vorkommt ist, dass Leute das Waschbecken in einer Behindertentoilette mit einer Dusche verwechseln und deshalb den ganzen Raum unter Wasser setzen.

Das ist besonders toll, wenn man sowieso schon aufpassen muss, dass man beim Umsetzen nicht zwischen Toilette und Rollstuhl fällt, dann aber der Rollstuhl schön rutscht, weil der Boden unter Wasser steht.

Geflutete Toilette und Gürtel in der Hand

Letztens sah ein Mitarbeiter am Flughafen Heathrow, dass ich schon ewig vor der Toilette wartete. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. Er fragte mich, ob ich gesehen hätte, ob da ein Rollstuhlfahrer drin sei und ich sagte ihm, es sei ein Mann im Anzug gewesen, nicht offensichtlich behindert. Der Mitarbeiter klopfte also an die Türe und rief, die Person solle endlich die Toilette freigeben, wenn er nicht behindert sei. Ich habe keine Ahnung, was der Mann dort gemacht hat. Er öffnete die Tür, seinen Gürtel in der Hand. Die Toilette stand völlig unter Wasser und der Wasserhahn lief. Danach konnte das Personal vom Flughafen erst einmal die Toilette wieder trockenlegen und ich musste weiter warten.

Genau wegen solcher Leute sind viele Behindertentoiletten unterdessen abgeschlossen. Rollstuhlfahrer und andere behinderte Menschen, die auf die Benutzung dieser Toilette angewiesen sind, können einen Schlüssel kaufen, mit dem man die Türen von Behindertentoiletten öffnen kann. Nur an Flughäfen verbaut man diese Schließanlagen ungerne, weil die Schlüssel zwar europaweit verbreitet sind, aber eben nicht weltweit.

Ich reiße niemandem den Kopf ab, wenn er mal eine Behindertentoilette nutzt, wenn alle anderen besetzt sind. Ich kann auch mal warten, aber nicht jeder kann das. Wenn zehn andere, nicht barrierefreie Toiletten nur fünf Meter nebenan sind, muss man dann wirklich die einzige barrierefreie Toilette nutzen? Und wenn das schon sein muss, dann doch bitte nicht länger als nötig und ohne die Toilette in einen unzumutbaren Zustand zu versetzen.

 

Schwer vermittelbar

Behinderte Menschen haben es auf dem Arbeitsmarkt weiter schwerer als nichtbehinderte Menschen, berichtete gestern Tagesschau.de. Laut der Bundesagentur für Arbeit sind sie in der Regel besser qualifiziert als nichtbehinderte Arbeitslose, aber dennoch deutlich länger ohne Job.

Kaum jemand mit einer Behinderung wird das überraschen, denn das ist leider die Erfahrung, die viele behinderte Menschen machen, wenn sie sich um einen Job bemühen. Selbst finanzielle Anreize für den Arbeitgeber und gute Beziehungen nutzen manchmal nichts. Wer eine Behinderung hat, hat es schwer, Arbeitgeber von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Kaum ein Vorurteil hält sich hartnäckiger in der deutschen Gesellschaft als das, dass Menschen mit Behinderungen nicht leistungsfähig seien. Und wer stellt schon gerne Mitarbeiter ein, die er für nicht leistungsfähig hält?

Zahnloser Tiger

Trotz Einser-Abitur und Top-Abschluss schaffen es viele doch nicht auf den ersten Arbeitsmarkt oder ihnen bleibt nach einem Unfall oder Krankheit verwehrt, im normalen Berufsleben wieder Fuß zu fassen. Dem soll die Schwerbehindertenquote entgegenwirken. Eigentlich ist jeder Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitern verpflichtet mindestens 5 Prozent seiner Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Ansonsten müssen diese Unternehmen eine Ausgleichsabgabe zahlen. Wie gut dieses Instrument funktioniert, sieht man an den Arbeitslosenzahlen: Die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten steigt, während die Arbeitslosigkeit insgesamt zurückgeht. Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe sehen anders aus.

Hinzu kommt, von den knapp 143000 Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern, beschäftigen mehr als 37000 überhaupt keinen schwerbehinderten Menschen, berichtete der Tagesspiegel Anfang des Jahres.

Hoher Schadenersatz

Das heißt, das Instrument der Ausgleichsabgabe funktioniert teilweise überhaupt nicht und insgesamt nicht gut genug. Die Ausgleichsabgabe ist zum einen sehr niedrig. Es tut den Unternehmen nicht wirklich weh, sie zu zahlen. Zum anderen ist eine Quote auf Papier nichts wert, wenn sie viel zu viele ignorieren. Großbritannien hat die Quote daher schon vor Jahrzehnten abgeschafft und setzt stattdessen auf hohe Schadenersatzleistungen, wenn ein Arbeitgeber überführt wird, Bewerber aufgrund ihrer Behinderung abzulehnen oder behinderte Mitarbeiter zu diskriminieren.

Viele Arbeitgeber kontrollieren seitdem ihren Bewerbungsprozess, in dem sie darüber Statistiken führen, wie viele behinderte Bewerber sie hatten und wie viele davon einen Job bei ihnen bekommen haben. Vor allem bei großen Konzernen macht das durchaus einen Unterschied, denn nur so wird überhaupt einmal realisiert, wo die Probleme liegen und dass es welche gibt. Es fällt dann plötzlich auf, wenn eine Abteilung zwar diverse behinderte Bewerber hatte, aber dort kein einziger behinderter Mitarbeiter eingestellt wurde.

Ansprache behinderter Bewerber

Manche Arbeitgeber versuchen unterdessen, gezielt behinderte Bewerber anzusprechen. Viele britische Konzerne haben sich einem freiwilligen Programm angeschlossen, in dem sie sich verpflichten, behinderten Bewerbern, die die Qualifikation mitbringen, in jedem Fall zum Bewerbungsgespräch einzuladen, um die Zahl ihrer behinderten Mitarbeiter zu erhöhen.

Wenn also die Ausgleichsabgabe nicht hilft, die Arbeitslosenquote behinderter Menschen nachhaltig zu verbessern, sollte man wirklich mal darüber diskutieren, was alternative Maßnahmen sind anstatt weiterhin auf ein totes Pferd zu setzen.