Vor einigen Tagen bereits hatte ich offenbart, dass Hunger mich hangry werden lässt. Vielen Lesern geht es ähnlich: Fehlt es an Nahrung, werden auch sie zu hungrig, um nett zu sein. Deshalb herzlichen Dank für Ihre Offenheit, schönes Gefühl, sich unter Gleich-Gestörten zu wissen.
Nun lege ich noch einen drauf: Misophonie, auch Selective Sound Sensitivity Syndrome genannt. Auf Slate habe ich darüber gelesen und festgestellt: Habe ich ebenfalls. Ich reagiere ziemlich wütend auf Alltagsgeräusche wie Kauen, Lippenschmatzen oder Niesen. Endlich hat auch diese Macke von mir einen Namen.
Die meisten stören die Geräusche nicht sonderlich. Für mich aber sind sie ein Trigger. Das Ergebnis ist blanke Wut. Ich muss beispielsweise während eines romantischen Dinners zu zweit zwingend Musik oder anderes Hintergrundrauschen hören. Regelmäßig nämlich bin ich kurz davor, meinem Freund den Rotwein ins Gesicht zu schleudern. Dabei kann er gar nichts dafür. Er weiß, dass ich intensive Kaugeräusche abartig, abstoßend, widerlich, wahrlich schauderhaft finde. Und doch scheint er jedes Stück extra stark, extra laut und extra lange zu kauen. Und wie er es dann auch noch hinunterschluckt! So als hätten seine Zähne sich die ewig ausdehnenden Minuten zuvor nicht schon wie ein Pflug durch das Rinderfilet gegraben.
Nachahmen als Überlebensstrategie
Es grollt dann in meinem Bauch, kribbelt auf meiner Haut. Ich möchte schreien und atme stattdessen tief durch. Denn ich weiß ja, dass ich völlig überreagiere und konzentriere mich wieder auf die Musik. Wie ich dank Slate-Autorin Megan Cartwright nun weiß, verlassen andere gar den Raum – kam bei mir auch schon vor – tragen Kopfhörer – weit unpassender als Hintergrundmusik – oder erzeugen die verhassten Geräusche selbst, um den Auslöser zu überlagern – habe ich schon versucht, hilft nicht, sondern verdirbt mir bloß den Appetit. Zumindest haben eben diese Dinge der Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran und seine Kollegen in einer der wenigen Untersuchungen zu Misophonie herausgefunden. Erstmals beschrieben hatte das Phänomen das Neurowissenschaftler-Paar Jastreboff (Jastreboff & Jastreboff, 2003).
Kaum eine der wenigen Studien seit Entdeckung der Misophonie ist allerdings repräsentativ. Ihre Ergebnisse sind nicht zwingend auf die Allgemeinheit übertragbar. Doch sie zeigen: In den untersuchten Gruppen reagierten auffällig viele Leute übertrieben auf bestimmte Geräusche. 2013 schlugen der Psychiater Arjan Schröder und sein Team deshalb gar vor, Misophonie sollte als psychische Störung klassifiziert werden. Andere arbeiten an Therapien, auch weil es Menschen gibt, die wegen ihrer Wut auf Alltagsgeräusche nicht in die Schule oder ins Büro gehen können. Langjährige Beziehungen seien daran schon zerbrochen, berichten Probanden. So schlimm ist es bei uns zu Hause dann zum Glück doch nicht.