Liu Jiayu hat Glück gehabt: Erst vor Kurzem ist die 94-Jährige aus dem Koma aufgewacht. Die Frau aus der chinesischen Provinz Hunan hatte einen Schlaganfall erlitten. Verengte Arterien in ihrem Hirn hatten verhindert, dass Nervenzellen ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurden. Ein solcher Hirninfarkt ist gerade unter älteren Menschen nichts Ungewöhnliches und eine der häufigsten Todesursachen. Jiayu hat ihn überlebt. Doch etwas hat sich grundlegend verändert: Sie versteht zwar ihre Muttersprache, doch kann sie sie kaum noch sprechen. Stattdessen antwortet sie auf Englisch. Ein chinesisches Fernsehteam hat sie besucht. Was ist mit der Frau passiert?
Die Rentnerin hat lange Zeit als Englischlehrerin gearbeitet, zitieren verschiedene Nachrichtenagenturen ihren behandelnden Arzt. Zwar soll sie seit mehr als 30 Jahren keinen Unterricht mehr gegeben haben, doch ihr erlerntes Fremdsprachenwissen blieb erhalten. Lernen wir eine Sprache, wird sie in ganz bestimmten Arealen im Gehirn gespeichert. Verwenden wir eine unserer angeeigneten Sprachen oder die Muttersprache scheinen die jeweils anderen unterdrückt zu werden. Nehmen also die Teile des Hirns Schaden, die dies kontrollieren, kann sich das Sprachwissen vermischen und verändern. Das ist wohl auch Jiayu widerfahren. Wie das genau geschieht, wissen Neurologen kaum. Sie nennen solche Sprachstörungen auch Aphasien.
Fälle wie die der Chinesin sind sehr selten, aber es gibt auch einige Berichte von Menschen, die sich nach einem Schlaganfall nur scheinbar ausschließlich in Fremdsprachen äußern konnten. So sprach etwa 2012 der damals 81-jährige Brite Alun Morgan nach einem Schlaganfall kurzzeitig Walisisch. Er hatte die Sprache als Kind gelernt, wie die BBC berichtete. 2013 sprach eine Thüringerin nach ihrem dritten Schlaganfall plötzlich Schweizerdeutsch.
Mediziner nennen dieses Phänomen Fremdsprachen-Akzent-Syndrom. Die Betroffenen sprechen dabei nicht fließend in einer Fremdsprache, sondern ihre Sprachmelodie und Betonung hat sich derart verändert, dass sie klingen, als hätten sie eine neue Muttersprache. Sie haben also keinen echten Akzent oder Dialekt. Nur wenige Dutzend Fälle der neurologischen Erkrankung sind bekannt. Sie sind stets Folge eines Schlaganfalls oder anderen Schäden des Gehirns.
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