Die Menschen bei Soul Jazz Records müssen riesige Ohren haben. Im Londoner Viertel Soho sitzen sie vor Plattenspielern und hören sich täglich durch hohe Stapel verkratzter Vinylscheiben, gefunden in Kellern, billig erstanden auf Flohmärkten, für viel Geld beim Sammler gekauft. Welche Namen man der Musik gegeben hat, ist ihnen gleich, ebenso, auf welchem Kontinent und in welchem Jahrzehnt sie aufgenommen wurde. Die Menschen bei Soul Jazz Records in Soho hören einfach alles.
Sie tun das nicht für sich, sie wollen Geschichten erzählen, Geschichte erzählen. Immer wenn sie zehn, zwanzig tolle Stücke in einer Schublade gesammelt haben, bringen sie eine Platte raus und verkaufen sie zu einem guten Preis. In ihrem Plattenladen Sounds Of The Universe in der Broadwick Street und bei Honest Jon’s in der Portobello Road kosten die CDs und Doppel-LPs rund zehn Pfund, so günstig bekommt man sie in Deutschland nicht.
Freilich, die Kompilationen von Soul Jazz Records sind sehr speziell. Ganze Serien entstehen, die sich mit winzigen Bereichen der populären Musik auseinandersetzen. Mehrere Alben führten in den New York Noise der Jahre 1977 bis 1984 ein. Funk ist nicht gleich Funk, sondern Philadelphia Funk, New Orleans Funk oder Jamaica Funk. Und so ist das bei jedem Genre: Ort und Zeit spielen eine große Rolle. Doch das Spezielle dient hier nicht der Abgrenzung, sondern der Verbreitung von Wissen über Musik und der Vermittlung eines Gefühls für die Geschichte der Musik. Diese Alben wollen sie erzählen, deshalb sind in den Hüllen kluge Texte über die Hintergründe der Aufnahmen abgedruckt. Man erfährt etwas über das Genre, über die Künstler und die Lieder.
Seit beinahe zwanzig Jahren verfolgen die Menschen bei Soul Jazz Records ihre Mission, rund 180 Zusammenstellungen sind in dieser Zeit entstanden. Anfangs waren darauf vor allem Reggae und Ska, Soul, Funk und Jazz zu hören, mittlerweile widmen sie sich auch dem Post-Punk und dem Disco, dem HipHop und dem Gospel, afro-kubanischen Klängen oder der brasilianischen Tropicália. Kürzlich erschienen sechs LPs mit aktuellem Dubstep.
An England Story nennt sich das neue Werk, The Culture Of The MC In The UK 1984 – 2008 ist sein Untertitel. Es geht um den Master of Ceremonies – denjenigen also, der wortgewaltiges Geplapper zu Rhythmen und Klangschnipseln vorträgt. Es geht um britischen HipHop. Fälschlicherweise, so wird in der Hülle erläutert, werde dieser häufig als Form des in Amerika beheimateten Rap betrachtet. Dabei habe der jamaikanische Reggae einen wesentlich stärkeren Einfluss gehabt. Schwarze Musik in Großbritannien habe sich anders entwickelt als die in Amerika oder Afrika, vor allem wegen der ehemals kolonialen Beziehung des Königreichs in die Karibik.
In Anlehnung an die Theorie des Black Atlantic, im Jahr 1992 von dem Kulturwissenschaftler Paul Gilroy ersonnen, geht es auf An England Story nicht darum, die Lieder der Unterdrückten wieder zu singen, die Lieder von Jamaikanern in England. Stattdessen wird die Untrennbarkeit kultureller Einflüsse vor Ohren geführt. Gilroy fand das Bild des Schwarzen Atlantik um die durch Sklaverei und Kolonialisation beeinflusste kulturelle Produktion zu beschreiben. Sklaven und Kolonialherren befuhren den Atlantik mit ihren Schiffen in die eine Richtung, Rückkehrer, Intellektuelle und andere karibische Emigranten in die andere. Der in England praktizierte HipHop ist folglich keine berechenbare Mischung aus britischer und jamaikanischer Kultur, er ist ein Produkt der untrennbar verwobenen und sich fortsetzenden Geschichten Großbritanniens und der Karibik. An England Story – ein Liter Wasser aus dem Black Atlantic.
In den Siebzigern tönten in England überall jamaikanische Soundsystems, in den frühen Achtzigern begannen MCs, den Reggae zu Bereimen. MCs wie Papa Levi und Jah Screechy erzählten in flotter Mundart von ihrem Alltag als Fremde im eigenen Land. Ihre Bässe saßen tief, sie hatten wenig gemein mit den scheppernden Rhythmen aus der New Yorker Bronx. Und was dort rappen hieß, wurde in England meist MCing genannt. Das Genre wurde vielgestaltiger, die Rhythmen komplexer, mal schneller, dann wieder langsamer. Jamaica wurde zum Stil. MCs gaben sich karibische Fantasienamen und kopierten den Zungenschlag der Soundsystems.
Etliche Spielarten des britischen HipHop sind auf An England Story zu hören, hier das luftige Complain Neighbour von Tippa Irie, dort der hektisch flirrende Bass von Jakes & TCs Deep, hier das schwerfällige So You Want More von Ty & Roots Manuva, dort Suncycles soulig treibendes Somebody. Das Album erzählt kurzweilig und kenntnisreich die fünfundzwanzigjährige Geschichte des britischen HipHop. Große Namen sind für diese Geschichte nicht so wichtig, hier geht es um die Meilensteine der Entwicklung des Sprechgesangs, von Dancehall über Jungle und Garage hin zu Grime und Dubstep.
Dies alles auf vermeintliche kulturelle Wurzeln zurückführen ist sinnlos, auch das lehrt diese Zusammenstellung. Nicht einmal auf den fremden Klang der Namen Roots Manuva und Tippa Irie kann man sich verlassen: Bürgerlich heißen sie Rodney Smith und Anthony Henry.
„An England Story“ ist auf Doppel-CD sowie zwei Doppel-LPs bei Soul Jazz Records/Indigo erschienen.
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