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Däumlinge heben den Zeigefinger

 
Die Welt geht zugrunde, und die drei Bowerbirds aus North Carolina zwitschern dagegen an. Walther von der Vogelweide hätte seine Freude dran gehabt

Es raschelt im Gras, da erhebt sich etwas über die Halme. Still! Hören wir ein bisschen zu, horchen wir auf den Balzruf dieses unbekannten Vogels.

Ein Abgleich mit dem Handbuch der Hobby-Ornithologen verrät: Es ist ein seltener Laubenvogel, verwandt mit dem Paradiesvogel. Er ist anderen Sängern nicht nur um drei Armschwingen voraus, nein, auch sein Gehirn ist größer als das der Artgenossen. Ach, auf Englisch heißt er Bowerbird.

Da! Jetzt! Unter seinen prächtigen Fittichen kriecht ein Däumlingspaar hervor, noch ein dritter kommt hinzu. Sie singen ein Lied mit Akkordeon, Gitarre und großer Trommel. Der Däumlingsmann zwitschert von zwitschernden Grasmücken und Spatzen, wie sie ihre zarten Stimmen erheben gegen die donnernden Eisenpferde auf der Autobahn.

Ja, die drei Däumlinge, nennen wir sie ruhig Bowerbirds, halten mit ihrer Klage nicht hinter der Schallschutzmauer. Fahrlässig gingen die Menschen mit der wunderreichen Natur um. Der Anführer des Trios, Phil Moore, zupft die Saiten und trägt pathetische Worte im luftigen Klanggewand vor: „There is hate in the grip of our human hands.“

Aber man kennt das ja von Kobolden, Klabautermännern und Däumlingen: Stets wollen sie das Gute – dem Geschöpf die leidige Existenz erleichtern. Da schwingt auch mal der Zeigefinger. Besonders in Amerika, der Heimat unserer Drei, haben sich viele dieser regressiven Enthusiasten versammelt. Man nennt sie das Folk-Volk.

Hierzulande, da Naturkunde bereits im Kindergarten unterrichtet wird, vermögen die Einsichten der Bowerbirds kaum zu überraschen. Wer ihrer Moral überdrüssig ist, schalte sein Sprachzentrum aus und erfreue sich an der Musik:

Beth Tacular schlägt die Standpauke, es rasselt der Schellenkranz, Geigen zittern im Wind. Phil Moore erhebt seine feine Stimme über den Lautenton. Die Instrumentierung ist schlicht und analog wie ein Holzpantoffel, doch wallt das Gefüge in frischen Brisen. Der Gesang – mal monodisch, mal im Chor – nimmt sich alle Freiheiten in Melodie und Rhythmus.

Hymns For A Dark Horse heißt die erste Liedersammlung der Bowerbirds. Hymnen auf den Wind in den Weiden, der dem Hörer eine Handvoll singender Flöhe ins Ohr weht, die so schnell nicht wieder herauskrabbeln. Beinah klingt das Trio wie eine fahrende Renaissance-Kapelle. Walther von der Vogelweide wäre zweifellos mit ihnen gereist, nicht nur ihres Namens wegen.

Wie alt werden Däumlinge eigentlich? Möglicherweise haben diese Drei gar schon 700 Jahre auf dem Buckel! Keine Frage, sie wünschen sich zurück in eine Zeit, in der die Menschen noch wussten, wie sehr sie auf die Natur angewiesen sind. Der Zivilisationsprozess hat dieses Wissen zu einer Ahnung verkümmern lassen, so geht die Welt zugrunde. Das ist ihre Botschaft. Vielleicht nimmt Al Gore sie unter seine Fittiche.

„Hymns For A Dark Horse“ von Bowerbirds ist auf CD und LP bei Dead Oceans/Cargo erschienen.

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