Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Moderner kann Pop kaum klingen

 

Anschnallen! Mit dem Produzentenduo Africa Hi-Tech geht’s binnen 58 Minuten zur Sonne. Wir fliegen vorbei an den Planeten Elektro-Funk, Techno-Jazz, Ragga-Soul und Cyber-Dub.

© Warp Records

93 Millionen Meilen – die muss zurücklegen, um von der Erde zur Sonne zu gelangen. Und so heißt das Debütalbum des britischen Duos Africa Hi-Tech. Futuristische Konzepte haben die Musik vieler schwarze Musiker von John Coltrane über Parliament-Funkadelic bis hin zu den Epigonen des Detroit Techno beeinflusst. Wenn schon auf der Erde kein freiheitlicher Raum für die afroamerikanische Bevölkerung zur Verfügung stand, musste sich die Selbstbestimmung eben ins All verlagern. Es waren musikalische Abenteuer in der Sonic Fiction, einer kosmischen Diaspora. Africa Hi-Tech knüpfen an diese Utopie an. Raus aus dem urbanen Dreck, hin zur Sonne. Was sind da schon 93 Millionen Meilen?

Africa Hi-Tech, das sind Mark Pritchard und Steven Spacek. Vor allem letzterer dürfte Clubgängern durch seine Single How Do I Move bekannt sein. Während Spacek auf seinen eigenen Platten die Grenzen eines zukunftsweisenden R’n’B dehnte, ertüftelte Mark Pritchard als Ambient-Produzent das Album 76:14, ein Höhepunkt der elektronischen Ambient-Musik. Auf 93 Million Miles finden beide Musiker zusammen.

Da ist der unterkühlte Nu Soul in den eckigen Beats und der düstere Dubstep-Funk Englands; der obszöne Charme des Chicago Juke, mit seinen grapschenden Basslinien, gleißender Techno-Jazz und dubgetränkter Ambient. Moderner als 93 Million Miles kann eine Platte derzeit kaum klingen.

Dabei gerät die Mission zu Beginn schon beinahe ins Stocken. Denn 93 Million Miles startet überraschend schwach: Das Titelstück und Do U Wanna Fight wirken, als ob Africa Hi-Tech erst einmal ihren Gerätepark durchprobieren müssten, ob auch wirklich alle Effekte funktionieren. Ein überladener und fahriger Auftakt.

Erst mit der Single Out In The Street und seinem genialen Ini „Hotstepper“ Kamoze-Sample („They call it muuuurder!„) beginnt dieser dunkle Diamant von einem Album geheimnisvoll an zu funkeln. Die Bässe werden tiefer, die Beats böser und schneidiger. Und Africa Hi-Tech machen auf einmal alles richtig: Sie reduzieren die Rhythmen auf ihre wichtigsten Bestandteile, minimale Sounds bringen die Stücke um glühen. Es ist das alte Prinzip des Funks: Man muss weglassen können, um die Dinge in Bewegung zu bringen. Je weniger passiert, umso besser klingt 93 Million Miles.

Dann kommen die Höhepunkte im Minutentakt. Die eiskalten Grime-Peitschen Future Moves und Gangslap, die traurigen Videospielmelodien in Our Luv: In seiner Mitte findet 93 Million Miles eine erstaunliche Spannung und Balance. Nach der Kälte des futuristischen Elektro-Funks breitet sich eine behutsame Wärme in den Liedern aus. Das Soul-Raumschiff, wie aus einem kosmischen Kältenebel entkommen, nähert sich der Sonne.

Das Stück Spirit läutet den stärksten Teil des Albums ein. Afrikanische Percussion, flirrende Free-Jazz-Samples, Naturgeräusche und sanfte Gesangspassagen durchströmen Light The Way und Cyclic Sun wie warmes Licht. Nach den postindustriellen Ruinen der Vorstädte streifen Africa Hi-Tech durch Cyber-Regenwälder. Schillernde Rhythmen steigen auf, flattern vorbei und verschwinden im tiefen Unterholz. Das letzte Stück,Don’t Fight It, ist ein galaktischer Ragga-Groove, der sich langsam in Dubschleifen auflöst. Spätestens hier wird deutlich, dass 93 Million Miles auch als spirituelle Reise verstanden werden kann. Wie lang der Weg zur Sonne ist, entscheidet jeder für sich selbst. In Wahrheit mögen es 93 Millionen Meilen sein. Mit Africa Hi-Tech sind es nur 58 Minuten.

„93 Million Miles“ von Africa Hi-Tech ist bei Warp erschienen.