Jede Musik hat ihre Zeit. Genesis passten in die Siebziger und die Achtziger, heute kann man sie belächeln. Michael Jackson musiziert seit zwanzig Jahren als seine eigene Parodie, die Rolling Stones seit dreieinhalb Jahrzehnten. Auch die Wiedervereinigung der Sex Pistols vor einigen Jahren war ein Trauerspiel.
Und Underworld? Sie hatten ihre Zeit Mitte der Neunziger, Ewan McGregor rannte damals im Rhythmus ihres Born Slippy. Nuxx durch Edinburgh. In Danny Boyles Film Trainspotting lieh er dem Drogenkranken Mark Renton sein verschwitztes, aber nettes Gesicht. Renton pfiff auf Karriere und Riesenfernseher, auf Familie und Zahnzusatzversicherung. Wie Smells Like Teen Spirit einige Jahre zuvor wurde Born Slippy. Nuxx zur Hymne einer Generation. Diese gierte nicht nach Authentizität und Gitarren, sie durchfeierte die Nächte in den britischen Metropolen mit Alkohol, Pillen und poppigem Techno.
Underworld haben ein neues Album veröffentlicht, Oblivion With Bells. Interessiert das jemanden? Heute bringen die brüchigen Rhythmen des Dubstep die Tanzböden zum Bersten, Underworlds dickflüssiger Kleister ist da kaum gefragt. Sie schwelgen im Flächigen, ihre Rhythmen sind dumpf und träge, ist das Dubstep in Zeitlupe? Oft erhebt Karl Hyde seine Stimme, mal ruhig sprechend wie in Holding The Moth und Ring Road, dann wieder durch den Verzerrer singend, wie bei Crocodile und Best Mamgu Ever. Das geht meist ohne Punkt und Komma, wie damals bei Born Slippy. Nuxx.
Überhaupt, irgendwie ist hier alles wie früher. Hyde und sein Kollege Rick Smith fackeln nicht lange. Zwanzig Sekunden lang jubilieren schrille Keyboards, dann bahnt sich ein funkender Rhythmus den Weg, er beherrscht das Album. „Two kangaroo fingers push through and scratch my back in rhythm“, singt Karl Hyde in lang gezogenen Silben. Und „Two numbers click between her touch when you pull me down into them. Rising and rising through the inside of a glass eye painting“. Sind ja nur Worte. Nach sechseinhalb Minuten geht das Stück in Beautiful Burnout über, das fällt erst gar nicht auf.
Im fidelen Ring Road klingt Hyde wie Mike Skinner alias The Streets. Im nordenglischen Zungenschlag legt er eine arhythmische Geschichte über ein umso rhythmischeres Beben. Auch der Junge aus dem Trainspotting-Hit taucht wieder auf: Das Stück Boy, Boy, Boy klingt organisch, denn Larry Mullen Jr. spielt ein echtes Schlagzeug. Sonst trommelt er bei U2, auch so eine Band, die den richtigen Moment zum Aufhören verpasst hat. Das fantastische Faxed Invitation schließlich klingt wirklich ein wenig nach Dubstep.
Überhaupt: fantastisch. Das Album ergreift einen, sobald man aufhört, übers Tanzen nachzudenken. „Waiting for a night to wrap around us“, beschwört Hyde in Crocodile das alte Gefühl. „I could go in there get some sweet stuff“, fügt er hinzu und schmunzelt selbstsicher. Auch der ironische Titel des Album legt die Vermutung nahe, Underworld wüssten sehr genau, wie es um sie steht. Wenn ihr uns schon vergesst, dann wollen wir wenigstens gut klingen – so könnte man den Titel verstehen.
Und sie klingen genau so gut und dicht wie vor zehn Jahren, nur alles um sie herum klingt heute anders. Sie sind dem Club entwachsen, weil sie dort niemand mehr hören will. Ihre Rhythmen sind träge, fast beruhigend, so etwas macht sich im Wohnzimmer ohnehin viel besser.
Im neuen Kontext dürfen Underworld einen zweiten Frühling erleben. Was das für die heutige Musik von Genesis, Michael Jackson und den Sex Pistols bedeutet? Da denken wir besser gar nicht drüber nach.
„Oblivion With Bells“ von Underworld ist als CD und Doppel-LP erschienen bei PIAS.
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