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Pop auf Nachtspaziergang

 

Held der neuen R’n’Bewegung: Jamie Woon vereint Anachronisten und Futuristen im Club. Sein Album „Mirrorwriting“ ist ein rundum überzeugendes Popdebüt.

© Phil Sharp

Was liegt diesen jungen Herren nur so schwer auf der Seele? Einsam durchstreifen sie nächtens Straßen, Wälder, Clubs, kontemplativ und weltverloren. Eine Aura dunkler Ruhe umgibt sie und schirmt sie ab vom kommunikativen Hochleistungsbetrieb, dem sich ihre Zeitgenossen alltäglich aussetzen.

Diese jungen Herren teilen sich in Musik mit. Die im Geiste verwandten James Blake und Nicolas Jaar haben ihr Publikum schon gefunden, nun gesellt sich Jamie Woon zu ihnen. Zu dritt schleichen sich die Jungs mit Jott in die Gehörgänge der elektroaffinen Popgemeinde, um dort ein paar Blockaden einzureißen und neue Wege zu lichten. Sie kratzen an den Schemata, auf die sich Popmusik bisher stützte. Sie nehmen ihr die alten Krücken, und siehe da: Sie kann vorwärts gehen, sogar tanzen.

Jamie Woon fügt seine Songs zusammen aus tieeeeeefen Dub-Bässen, dezent klopfenden Beats und Handclaps, darüber zeichnet der Synthesizer ein paar dünne Linien. Der übrige Klangraum gehört seiner fiebrigen Tenorstimme, die in ihrer R’n’Beweglichkeit mal an den frühen Craig David, mal an Justin Timberlake, mal an Joe Dukie von Fat Freddy’s Drop erinnert. Im Bauch von Jamie Woons Liedern rumoren nicht etwa breitwandige, mitteltönende Gitarren, dort flimmert die schiere Sehnsucht: Das Gefühl der Einsamkeit vor glanzbetupfter Nachtkulisse – es könnte die Skyline einer Metropole sein – multipliziert er, indem er Chöre aus seiner eigenen Stimme dirigiert. Niemand sonst ist da, so macht er allein die Arbeit der Nacht.

Sein Debütalbum Mirrorwriting ist ein rundum überzeugender neuer Popentwurf. Was sich da aus dem britischen Post-Dubstep herausgeschält hat, begeistert Anachronisten und Futuristen gleichermaßen. Jamie Woon umarmt das Publikum mit Erinnerungen an die jüngere Vergangenheit. Hätten wir gedacht, dass es schon wieder Zeit ist für ein Revival von Madonnas Frozen, für silbergraue Breakbeats nach Unkles Art? Dass wir uns freuen über Bassläufe, die nach Jamiroquais besten Jahren abgespielt erschienen? Dass wir solche Seufzerchöre nach Baccara noch einmal ertragen würden?

In der Tat, Woons Melodien schrammen oft haarscharf Kitsch vorbei, kriegen aber stets die Kurve. Der 28-jährige Engländer schöpft aus dem vollen kollektiven Popgedächtnis und ist dabei geschmackssicher genug, um zu wissen, wo die Grenzen zwischen affirmativer Rekonstruktion und überraschender Weiterentwicklung verlaufen.

Woher diese Souveränität? Kurz sei erwähnt, dass seine Mutter Backgroundsängerin für Kylie Minogue und Michael Jackson war. Und dass Jamie Woon dasselbe Londoner Musik-College besuchte wie Adele Adkins, Amy Winehouse, Imogen Heap, Leona Lewis, Kate Nash oder Jessie J. Er hat viel gehört und viel dabei gelernt.

Im postmodernen Romantizismus hat er sich gefunden. Sein wunderbarer Song Night Air scheint den jungen Erneuerern des Pop aus der Seele zu sprechen: „I’ve acquired a taste for silence. Darkness fills my heart with comfort.

„Mirrorwriting“ von Jamie Woon ist bei Universal Music erschienen.

Konzerttermine der laufenden Tour: 11.5. Zürich, 12.5. St. Gallen (Die Konzerte in Hamburg und München fallen leider aus.)