Über die Jahre (6): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Das 1992 erschienene Album „Reformhölle“ der Hamburger Band Cpt. Kirk &., ein stilbildender Koloss voll schlecht gelaunter Lyrik und musikalischem Sturm und Drang
Ich bin Musiker. Die Reformhölle von Cpt. Kirk &. ist meine Lieblingsplatte. Keineswegs aber lege ich sie in besonders schönen Momenten auf, noch schwelge ich beim Hören in angenehmer Erinnerung. Für mich verbindet sich die Reformhölle weder mit der ersten Liebe noch mit einem schönen Urlaub oder sonst einer verklärten Episode. Sie war immer nur ein geliebter Feind. Alle paar Jahre habe ich sie zögernd aus dem Regal gezogen, den Kopfhörer aufgesetzt – und hätte sie 38 Minuten später am liebsten gegen die Wand gefeuert. Wieder einmal war ich der Reformhölle in meiner eigenen Musik nur hinterher gelaufen. Übrigens befinde ich mich in guter Gesellschaft: Manch unentspannter Musiker teilt meine Verzweiflung, und selbst Cpt. Kirk &. sind im mächtigen Schatten ihrer zweiten Platte weitgehend verstummt. Was das Album so unerreichbar macht? Weiß ich nicht, lass mich in Ruhe.
Vermutlich liegt das Geheimnis in Tobias Levins Gesang der flüssigen Nuancen. Gerade noch hat er in schmeichelndem Sing-Sang die falsche Sehnsucht nach behüteten Orten beschrieben, „wo Sonne und Mond scheint und wo Sonne den Mond nicht vertreibt“. Einen Moment später kippt die zerbrechliche Litanei mühelos in eine verbale Großattacke: „Schau, in allem was sich ändert, hat ein Kaufmann investiert.“ Levins hohe Stimme nimmt den Wechsel im Gleitflug, sie verwischt die Struktur und dehnt die Metren. Dazu spielt der Bass weite Bögen, und das Schlagzeug treibt sein eigenes, entfesseltes Spiel. Alles fließt.
Textlich gesehen ist Reformhölle poetisch verklausulierte Politik. Die Deutsche Einheit war erst wenige Jahre alt, und Levin schimpft auf neuen Nationalismus, auf Pseudofreiheit und die Selbstherrlichkeit des Kapitals: „Ohne Geld trifft hier die leergebeutete Welt auf reiches Gewissen“, heißt es in Kommt Alle Zugleich Nach D. Doch konkrete Beschwerden bilden die Ausnahme. Stattdessen hagelt es Zitate, Wortverdrehungen und kryptische Stabreime, die sich verquast lesen, doch begleitet von seiner Band ungeheuer elegant klingen.
Die Stücke bersten vor Dringlichkeit. Sie sind überschäumender Undergroundrock, wie er nur von empfindsamen 20ern gespielt werden kann – aber mit reichem historischen Hintergrund: Vom Jazz ist die emanzipierte Rhythmusgruppe entliehen, im Gesang tauchen HipHop-Phrasierungen auf, manche Klavierpassage erinnert an die Minimal Music, dazu rauscht ein romantisches Melodienmeer. Dass die Musik in ihren tausend Details alle Rahmen sprengt, deutet schon das sechsfache Wechselcover an. Nichtsdestotrotz hat das kollektive Popgedächtnis diese Platte in den trüben Topf „Hamburger Schule“ geschmissen.
Tobias Levin hat in früher Blüte sein musikalisches Vermächtnis abgelegt. Bald darauf wechselte er die Seiten und produziert heute Bands im Hamburger Electric Avenue Studio – darunter manch eine, die seinem Meisterwerk weit hinterhertrabt.
„Reformhölle“ von Cpt. Kirk &. ist als LP und CD erhältlich bei What’s So Funny About
Hören Sie hier „Hotel Ruhe“
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