Über die Jahre (18): Die New Yorker Band Gorilla Biscuits spielte 1989 auf ihrer Platte „Start Today“ frühreife Lieder vom Ende der Jugend − zwölf Stück in 20 Minuten
Ob das ein Fascho-Konzert sei, fragte mich jemand über die Schulter. Nein, es war kein Fascho-Konzert, das stockend über den Computerbildschirm flimmerte, sondern ein Auftritt meiner ehemaligen Lieblingsband. Allerdings muss ich zugeben, dass die Videodokumente der Gorilla Biscuits-Tour 2006 wirklich zum Fürchten aussehen. Im Publikum kahl rasierte Männer um die 40. An den Instrumenten tätowierte Typen im Kampf gegen die Midlife-Crisis. Überbleibsel des Straight Edge-Hardcore der späten achtziger Jahre.
New York galt als Zentrum der Bewegung, doch geistig war sie von tiefer Provinzialität getragen. Die Sprache kreiste um wenige Stichworte: nicht trinken, nicht rauchen, kein Fleisch essen! Musikalisch gab es Punkrock in doppelter Geschwindigkeit. Straight Edge war eine orthodoxe Gemeinschaft schwerer Jungs mit teuren Skateboards − und mit Handkameras! Das Videoportal youtube.com platzt fast vor privaten Zeugnissen des archaischen Männlichkeitsmuffs dieser Jahre. Dann aber kamen die Gorilla Biscuits, quirlig und federleicht wie ein Schwarm schlauer Bienen.
Mit Start Today lüfteten sie die Talare. Zum Vorschein kam Hardcore mit menschlichem Antlitz. „Was soll ich bloß anziehen, um acht Uhr muss ich aus dem Haus sein“, heißt es im Titelstück. Der Beat schaltet einen Gang runter, die Melodie setzt sich fest und gipfelt vor dem letzten Refrain in ein − Überraschung! − Mundharmonika-Solo. Eine lakonisch gesäuselte Bluesgeste, die deutlich machte, dass es möglich ist, über den Tellerrand zu blicken, dass es ein Leben abseits der Szene gab.
Songwriter Walter Schreifels perfektionierte die Dramaturgie des Ausbruchs, den totalen Energiefluss der Musik. Dabei arrangierte er die Stücke so fein, dass sie selbst mit akustischem Instrumentarium funktioniert hätten. Auch textlich ließ er die Scheuklappen fallen, wies darauf hin, dass das Fernsehen dem Verstand schade und man vor dem Sprechen erst mal nachdenken solle. Solch altkluge Einwürfe bedeuteten für das Genre einen großen Schritt.
An der Geschwindigkeit des Hardcore hatten sie nichts auszusetzen: Schreifels und seine Mannen hetzten in zwanzig Minuten durch zwölf Songs − schnell, schnell, denn die Zeit verfliegt und mit ihr deine Jugend, wie es Sänger Civ in Time Flies brüllt.
15 Jahre nach ihrer Auflösung waren die Gorilla Biscuits diesen Sommer dann wieder gemeinsam auf Tournee. Der Erfolg sei ihnen gegönnt – selbst wenn die Einfalt der Bühnenshow einen Rückfall in das düstere Zeitalter vor Start Today war.
„Start Today“ von Gorilla Biscuits ist erschienen bei Revelation Records
Hören Sie hier das Titelstück „Start Today“
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