Über die Jahre (13): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Zum Abschluss: Vor fast vier Dekaden sang Nico über das „Chelsea Girl“. Bis heute ist sie ein Vexierbild der modernen Frau. Ihr Schwanken zwischen Exzess und Melancholie kann noch jeden Hörer aus der Fassung bringen
Die junge Christa Päffgen, in Paris lebend, hat zwischenzeitlich einen zwanzig Jahre älteren griechischen Freund namens Nico Papatakis. Er ist Filmemacher beziehungsweise Nachtklubbesitzer. Sie zieht zu ihm, nennt sich nach ihm. Päffgen war ihr zu piefig.
Nico kommt zur Welt 1938 in Köln und 1940 in Budapest, denn über Nico gibt es immer zwei Geschichten. Sie wächst auf in Lübbenau bei Berlin im Schatten ihres „wahnsinnigen, faschistischen Vaters“, wie im New Musical Express zu lesen ist, und als Halbwaise, „deren Vater im Konzentrationslager umkam, als sie zwei Jahre alt war“, was Frau im Spiegel schreibt.
Nico stirbt an einem Sommertag 1988 auf Ibiza an einem Hitzschlag, mittags, auf einer Radtour. Und sie stirbt, ebendort, an einem Gehirnschlag, als sie Haschisch holen will.
Nico liebt, und Nico liebt nicht. Sie will doch nur spielen mit Brian Jones von den Stones, mit Jimmy Page von Led Zep, mit Jim Morrison von den Doors, mit Tim Buckley, Tim Hardin, Iggy Pop, Jackson Browne, Bob Dylan und Leonard Cohen. Einen Sohn hat sie von Alain Delon, aber Alain Delon hat keinen Sohn mit ihr. Sie ist einsachtzig, knochig, tiefe Stimme, die Sinne vernebelnd. Sie ist schwarz, schwarz, schwarz und so weiß und deutsch wie nur was. Sie singt auf der ersten Velvet-Underground-Platte, der mit der Banane – „einem sehr vergnüglichen Album über Tod, Drogenabhängigkeit und Sadomasochismus“, findet die New York Times Book Review.
Sie gibt 1200 Konzerte in sieben Jahren. Sie lebt in Paris und New York und Rom und legt sich schließlich in Manchester in einer Einzimmerwohnung mit Spritzen auf eine Matratze. Japan jubelt ihr zu, Frankreich trauert um sie. Sie singt die drei Strophen des Deutschlandlieds und widmet sie Andreas Baader. Sie ernährt ihren Kleinen mit Kartoffelchips und, nachdem er trotzdem groß wird, mit Heroin. Als sie stirbt, küsst er ihre Stirn, dann geht er nach draußen und kotzt hinter ein Auto.
Wenn der Kölner Sender RTL im Jahre 2008 nach Deutz zieht, soll der Platz vor dem Funkhaus nach ihr benannt werden, „Christa-Päffgen-Platz.“ Das fordert Kasper König, der Mann vom Museum Ludwig. Ob das was wird? „Muss die Bezirksvertretung entscheiden“, schreibt die Lokalzeitung.
Entdeckt wird Nico mit fünfzehn, beim Bummeln auf dem Ku’damm. Coco Chanel begeistert sich für ihre makellose Erscheinung. Fellini holt sie in La Dolce Vita vor die Kamera. „Eine schöne Frau, die nicht viel sagte, selbst wenn sie einmal lange sprach“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Sie wollte hässlich sein.“ Jetzt lächelt Nico mit schwarzen Zähnen: „Der einzige Grund, warum ich mich nicht erschieße, ist, dass ich wirklich einzigartig bin.“
„Heroin hat ein Deutscher zur Jahrhundertwende erfunden“, recherchiert die englische Presse: „Vielleicht konnte Nico der Vergangenheit wirklich nicht entkommen.“ Der französische Philosoph Jean Baudrillard vermutet, sie „schien nur deshalb so schön, weil sie von einer absolut gespielten Weiblichkeit war. Und es lag etwas Enttäuschendes darin, zu erfahren, dass sie ein falscher Transvestit war, eine echte Frau, die den Transvestiten spielte“.
Andy Warhol dreht in einem fiktiven Hotel The Chelsea Girls, da wohnt sie auf der Leinwand und isst einen Schokoriegel. Susanne Ofteringer dreht die Hommage Nico-Icon, da ist sie schon tot. Lou Reed, der sie hasste und liebte, sieht sich das gleich zweimal an. John Cale, der ihr Lied um Lied schrieb, sagt: „Sie war eine tolle Frau. Ich vermisse sie.“
Vergessen wir das alles für eine magische Dreiviertelstunde. Legen wir Nico auf, Chelsea Girl. Ihre erste Platte nach der Banane, von 1968. Man hört sie zweimal, dreimal, dann hört man sie für immer, auch ohne Gerät. Diese Traurigkeit, diese Lust, dieses Ganz-bei-sich- und Ganz-außer-sich-sein.
„Wrap your troubles in dreams“, singt Nico, „Send them all away // Put them in a bottle // And across the sea they stay.“
„Chelsea Girl“ von Nico ist erhältlich bei Polydor/Universal
Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Wrap Your Troubles In Dreams“
Damit endet unsere alten Tonträgern gewidmete Sommerserie. Künftig wollen wir ins laufende Programm gelegentlich Platten einstreuen, die es über die Jahre immer noch wert sind, gehört zu werden.
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Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)
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