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Der traurigste Samba der Musikgeschichte

Über die Jahre (5): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Chico Buarque, der 1971 Samba und Bossa nutzte, um pointierte Kritik an Brasiliens Militärdiktatur zu üben

Cover Chico Buarque

Es ist 1971, Chico Buarque ist gerade aus dem italienischen Exil in seine Heimat Brasilien zurückgekehrt. Die Bedingungen unter der Militärdiktatur haben sich verschlechtert. Offene Kritik ist unmöglich, es herrscht die Zensur. Unter diesem Eindruck nimmt Chico Buarque ein Album auf, das deutlich düsterer ist, als seine vier Vorgänger: Construção.

Seite eins ist dominiert von komplizierten und dichten Texten und ausladenden, raffinierten Arrangements in Moll. In Cotidiano (Alltag) klingt Buarque resigniert. Der Song schildert aus der Perspektive eines Arbeiters die Monotonie des Alltags. Leitthema sind die wiederkehrenden Küsse seiner Frau, die gleichzeitig einen Hinweis auf ihr ebenso monotones Leben geben und ihre verzweifelten Versuche, auszubrechen. Am Ende wird die erste Strophe wiederholt, alles beginnt von vorne. Es folgt Desalento, der wohl traurigste Samba der Musikgeschichte. Stand der Samba in Buarques Werk bisher für Gemeinschaft und Lebensfreude, kommuniziert er hier nur Isolation und Absturz.

Das Titelstück Construção handelt vom Tod eines Bauarbeiters. Begleitet von bedrohlich wirbelnden Streicherfiguren und brutalen Bläsersätzen ist es eine Kritik an den schlechten Arbeitsverhältnissen im Land. Während der Tod lediglich eine Irritation im Ablauf des Alltags verursacht, bringt er die Strophen Buarques nachhaltig durcheinander. Am Ende des Stücks steht die Wiederholung von Textteilen aus dem Anfangsstück Deus Lhe Pague (Gott vergelt’s ihnen), eine poetisch verschlüsselte Anklage der Passivität der Menschen unter der Militärdiktatur. Dieses Wiederaufgreifen von Themen verleiht der ersten Seite des Albums einen Suite-artigen Zusammenhang. Dagegen nimmt sich die zweite Seite fast konventionell aus. Die Bossa- und Sambastrukturen werden aber auch hier von subtilen Dissonanzen und unterschwelliger Resignation im Vortrag unterwandert.

Construção ist ein Meilenstein der Popmusik, der Pet Sounds von den Beach Boys in seinem harmonischen Einfallsreichtum und der Raffinesse der Arrangements mindestens ebenbürtig ist. Lyrisch hingegen ist die Platte überlegen. Die pointierte Kritik wird in eine poetische, von gewitzten Wortspielen durchzogene Sprache transformiert, die den konkreten Anlass transzendiert.

Das Klischee von der ungebrochenen Leichtigkeit und Unbeschwertheit der zugrunde liegenden Formen wie Samba und Bossa Nova ist ein für alle mal zerstört. Und doch ist Construção nie erdrückend schwermütig. Man kann die zahlreichen Subtexte auch ignorieren – zumal wenn man des Portugiesischen nicht mächtig ist – und sich am musikalischen Reichtum berauschen.

„Construção“ von Chico Buarque ist als CD erhältlich bei Emarcy/Universal

Hören Sie hier „Desalento“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Sommerliches Zwitschern

In ihrer Heimat Argentinien ist Juana Molina als Fernsehkomikerin bekannt. Was sie noch kann, zeigt ihr nach vorn weisendes Album „Son“

Cover Molina

Sie hätte gefälligen Latino-Pop machen und die Bekanntheit ihres Gesichts im lateinamerikanischen Raum nutzen können. Aber Juana Molina ist nie den einfachen Weg gegangen. Sie versteckt ihr Gesicht auf den Plattenhüllen und unterläuft die simple Schönheit ihrer Songs mit Strategien der Avantgarde.

Als Kind hatte sie Gitarrenstunden bei Freunden ihres Vaters: Vinicius De Moraes und Chico Buarque, zwei Größen der brasilianischen Popmusik. Ihre Karriere begann sie beim Fernsehen, die familienfreundliche Comedy-Serie Juana und ihre Schwestern war im spanischsprachigen Teil Lateinamerikas ein Erfolg. In der Show sang sie ihre ersten Lieder. 1996 schied sie, schwanger, aus der Show aus und nahm ihr erstes, recht akustisches Album Rara auf. Die folgenden Alben, Segundo und Tres Cosas, etablierten ihre Mischung aus akustischen und elektronischen Elementen.

Das neue Album Son knüpft da an, ist aber komplexer. Die Lieder stehen weiterhin in der Tradition des raffinierten brasilianischen Pops ihrer Gitarrenlehrer, die melodische Gefälligkeit mit gewagten Arrangements und unaufdringlichem Experimentierwillen verknüpft. Sie sind zart, eingängig und kommen in der Regel ohne Refrain aus. Wenn es dann doch mal einen gibt, wird die Struktur gebrochen, indem sich bei der Wiederholung der Text ändert.

Die akustischen Elemente vermischt Juana Molina mit elektronischen Produktionsweisen. Sie verfremdet Vogelzwitschern und ihre Stimme, setzt die Rhythmen subtil gegen den Gesang. Immer wieder befragt sie die Leichtigkeit der einzelnen Elemente, ohne jemals penetrant zu werden. Die Wirkung ist entspannend, hypnotisierend, etwas unheimlich. Oft geraten die Lieder ins Schwimmen, es ist, als könne man dem Boden unter den Füßen nicht trauen.

Neue, aufrüttelnde Musik muss nicht laut sein. Dieser experimentelle Pop hat das Zeug zur Sommerplatte.

„Son“ von Juana Molina ist als LP und CD erschienen bei Domino Records

Hören Sie hier „La Verdad“

Weitere Stücke finden Sie auf der Website der Plattenfirma

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