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1000 Mal gehört

Über die Jahre (23): Auf „We Are Family“ verband sich vor 28 Jahren die Aufrichtigkeit der Sister Sledge mit der abgeklärten Unbarmherzigkeit der Chic-Rhythmen zu einem zeitlosen Meisterwerk.

Sister Sledge We Are Family

„Zeig mir jemanden in diesem Gebäude, der noch kein Star ist, und ich mache einen aus ihm, egal, wer es ist. Er wird ein Star, weil wir die Platte machen, weil unsere Rhythmus-Sektion der Star ist.“ Das soll Nile Rodgers zu Jerry Greenberg, dem damaligen Präsidenten von Atlantic Records, gesagt haben. Chic, die Erfindung des Bassisten Bernard Edwards und des Gitarristen Nile Rodgers, hatten gerade mit Le Freak einen Hit gelandet und waren dabei, ihr Album C’est Chic einzuspielen. Schlagzeuger Tony Thompson – man nannte ihn auch „das menschliche Metronom“ – komplettierte die Band.

Hauptsächlich arbeiteten Rogers und Edwards unter dem Namen Chic Organization Ltd. als Produzenten. Ihr Konzept basierte auf der Anonymität der Produzenten und einem distinktiven Klang. Sie hätten die Rolling Stones produzieren können, die gerade auf der Suche nach Produzenten waren. Aber sie entschieden sich für Sister Sledge, eine vierköpfige Gesangsgruppe, die bereits seit einigen Jahren moderat erfolgreiche Stücke an der Grenze zwischen Motown-Soul und Disco veröffentlichten.

Chic nahmen die Schwestern unter ihre Fittiche und spielten das Album We Are Family ein, einen Klassiker der ausklingenden Disco-Ära. Die Singles He’s The Greatest Dancer, Lost in Music und das Titelstück We Are Family wurden Hits, noch heute gehören sie zum Funk-, Soul- und Disco-Kanon. Der Groove ist präzise, straff und unwiderstehlich wie bei James Brown, die Texte sind clever und die Melodien eingängig.

Das Album ist die erste rundherum perfekte Chic-Produktion. Jedes Stück ist großartig: Somebody Loves Me ist eine betörende Soul-Ballade, Thinking Of You besitzt einen zwingenden Groove, Easier To Love ist ein luftiges Sommer-Lied, You’re A Friend To Me vermählt einen gelassenen Reggae-Rhythmus mit zartem Disco-Schmelz und One More Time ist lässig und hypnotisch zugleich. Zusammen ergeben die Stücke ein geschlossenes Ganzes, eine Seltenheit in der Disco-Ära, die von Singles bestimmt wurde. Chic sollte dieses Kunststück noch zweimal gelingen: mit ihrem eigenen Album Risqué und mit Diana Ross‘ Diana.

Sister Sledge waren mehr als die hübschen Gesichter zur mächtigen Rhythmusgruppe Chic. Die Hauptsängerin Kathy und ihre Geschwister Debra, Joan und Kim verschoben den Fokus gehörig. Lag der Gesang von Alfa Anderson und Luci Martin auf den Chic-Platten irgendwo zwischen Soul und der entkörperlichten Perfektion einer gut geölten Maschine, so gab der kräftige, in der Gospel-Tradition stehende Gesang der Schwestern den doppelbödigen Stücken eine neue Richtung. Die von Chic geschriebenen Lieder waren oberflächlich betrachtet hedonistische Party-Hymnen. Die unerbittlich harten Grooves und die insistierenden glasklaren Streicher mit ihren um sich selbst kreisenden Arrangements deuteten auf die dunkle Seite des Disco-Eskapismus hin.

„Caught in a trap, no turning back“ heißt es bei Lost In Music. Gesungen wird der Refrain vom luftigen Chic Choir. Im Zentrum des Stücks steht Kathy Sledges passionierter Gesang: „I feel so alive, I quit my nine to five“ intoniert die damals Neunzehnjährige voller naiver Überzeugung. Wo die Chic-Stücke zutiefst ironisch waren, vermittelten Sister Sledge das Gefühl, dass ein Entkommen sehr wohl möglich sei – auch wenn der Chor eine andere Sprache singt. Das zutiefst ambivalente Konzept der Party-Hymnen, die gleichzeitig von der Leere und Vergeblichkeit des Disco-Gefühls und der angeblichen Befreiung durch die Musik sprechen, wird durch die Ehrlichkeit und Überzeugung der Geschwister noch stärker aufgeladen. Darum funktionieren diese Lieder auch nach dem tausendsten Hören (und nach 28 Jahren) immer noch, als seien sie gerade erst entstanden.

„We Are Family“ von Sister Sledge ist im Jahr 1979 bei Atlantic/Warner erschienen

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(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Hab keine Angst vor der Liebe, Süßer

Er lässt die Elektronik eiern, sie spricht eindringliche Prosa. Das Duo The Student Body Presents bringt selbst talentierte Tänzer zum Stolpern.

The Student Body Presents

Ein synthetischer Rhythmus galoppiert, die Gitarre spielt ein dünnes Tremolo, das an Killing Joke erinnert. Eine Spoken-Word-Künstlerin verkündet, in keine Kiste zu passen.

Wie wahr. Das fängt mit dem seltsamen Namen der Band an, The Student Body Presents. Und auch musikalisch hat das Duo aus Dichterin Miasha Williams und Produzent Eric Porter Außergewöhnliches zu bieten.

Sie hat ihre Texte schon im Nuyorican Poets Cafe vorgetragen und in der CBGB’s Gallery, an den Orten, an denen die Literaturform des Poetry Slam entstand. Er hat unter anderem als Afrikan Sciences bei Bittasweet veröffentlicht, dem Label der Broken-Beat-Pioniere Bugz In The Attic. Das liest man und denkt an die Konstellation von US-amerikanischer Spoken-Word-Künstlerin und West-Londoner Beat-Bastler: Ursula Rucker und 4 Hero. Man liegt falsch.

Eric Porters Rhythmen sind eigenwillig, die Brüche kommen unerwartet. Selbst der talentierteste Tänzer dürfte dazu stolpern. Häufig benutzt Porter einen geraden Techno-Rhythmus und legt asymmetrisch eiernde Klänge und Basslinien drüber, die dem Rhythmus entgegenlaufen. Dazu schreckt schmatzendes Klatschen die Ohren auf. Miasha Williams, die Frau an seiner Seite, hat etwas zu sagen. Porters Musik fordert uns auf, gefälligst zuzuhören. Der Titel der CD The Student Body Presents Arts & Sciences ist kein Zufall. Sie bringen uns einiges bei, über die Künste, über das Leben, über den Körper.

Williams trägt im Singsang vor, ihre leicht rauhe Stimme ist gelegentlich verzerrt und dann noch eindinglicher. Ihre Texte sind autobiografische Skizzen aus dem Gefühlsleben einer Außenseiterin. Sie schwanken zwischen trotziger Selbstermächtigung und Angst. Die Musik lässt das Außenseitertum und das Ringen mit den Konventionen erkennen. Denn Porter macht nicht den Fehler, ihre Worte lediglich zu begleiten, sie stehen nicht im Zentrum. Die einzelnen Elemente der ungewöhnlichen Mischung – Williams’ Stimme, die Basslinien, die Rhythmen, die Worte, die seltsamen Synthesizer-Klänge – entwickeln ein Eigenleben, alles zusammen klingt organisch.

Auf das eingangs erwähnte Boxes, das den langen Prozess der Akzeptanz eigener Andersartigkeit beschreibt, folgt das neunminütige Drift Wit’ It und die halb gemurmelte Aufforderung „Don’t be afraid of love, my sweet – Float in it“. Dieser Aufforderung möchte man gerne folgen, auch wenn man ahnt, dass man sich darin verlieren kann.

„Arts & Sciences“ von The Student Body Presents ist erschienen bei Rubaiyat/Groove Attack

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Gudrun Gut: „I Put A Record On“ (Monika 2007)
A&E: „Oi!“ (Sonig 2007)
Alva Noto: „Xerrox Vol. 1“ (Raster Noton 2007)
2Raumwohnung: „36 Grad“ (it sounds/EMI 2007)
Diverse: „Girl Monster“ (Chicks On Speed Records 2006)

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Tuff, Tuff, Tuff

Der Rhythmus ist stoisch, der Bass treibt eintönig. Davor dröhnen Keyboards, die Gitarrenlinien pulsieren. Electrelanes Spiel mit der Wiederholung wird nie langweilig.

Electrelane No Shouts No calls

Die Repetition hat eine lange Geschichte in der Popmusik. Schon vor dem Minimalismus von Velvet Underground spielte der amerikanische Gitarrist Bo Diddley mechanische Rhythmen, gleichförmig und präzise wie der Takt einer Lokomotive. In den Siebzigern trieben vor allem die deutschen Gruppen Kraftwerk und Can das Prinzip zur Perfektion.

Auch das Quartett Electrelane aus Brighton macht sich dieses Spiel mit der Wiederholung zu Eigen. Auf dem letzten Album Axes gab es mit Gone Darker sogar ein Stück, in dem die Musikerinnen das Bild der Lokomotive konkret aufgriffen. Man hört, wie sich ein Güterzug nähert, wie er vorbeidonnert und sich entfernt.

So seien klassische Rocklieder aufgebaut, erklärt Verity Susman, die Sängerin und Keyboarderin der Band, zumindest die Lieder von Electrelane. Meist beginnen sie zaghaft und leise, um sich dann plötzlich zu steigern und Spannung aufzubauen und diese zu halten. Irgendwann lassen sie die Stücke einfach ausklingen, ohne sie zu einem wirklichen Höhepunkt geführt zu haben.

In der repetitiven Musik Electrelanes geht es – wie auch schon in den endlosen Improvisationen bei Can – um die Freiheiten, die die Wiederholung bietet. Der stetige Rhythmus der Schlagzeugerin Emma Gaze ermöglicht der Bassistin Ros Murray und der Gitarristin Mia Clarke, ihre zunächst monotonen Linien in viele Richtungen aufzubrechen. Verity Susman wechselt derweil zwischen Synthesizer, Farfisa-Orgel, Keyboard und Klavier und gibt jedem Stück eine eigene Klangfarbe. Freiheit bedeutet ihnen nicht das Zurschaustellen von Virtuosität. Bis auf Susman sind die Musikerinnen Autodidaktinnen, Susman sagt, sie habe erst verlernen müssen, was sie konnte. Freiheit ist stattdessen die Möglichkeit, jederzeit die Richtung ändern zu können, ohne dass die Musik auseinanderfällt.

Ihr Debüt Rock It To The Moon von 2001 war noch weitgehend instrumental, erst mit dem zweiten Album The Power Out näherten sie sich klassischen Strukturen, sie sangen auch häufiger. Auf dem im vergangenen Jahr erschienenen Album Axes trieben sie die Prinzipien von Wiederholung und Variation weiter. Ein Männerchor kam zu unorthodoxem Einsatz, das Quartett führte ungewöhnliche Instrumente wie Akkordeon und Ukulele ein. Es übte sich sogar in freier Improvisation und verzichtete dabei ausnahmsweise auf das monotone Grundmuster.

Das vierte Electrelane-Album No Shouts No Calls ist in Berlin entstanden, Verity Susman lebt dort. Es ist eine richtige Pop-Platte geworden, voller Liebeslieder vom Kennenlernen, vom Kontrollverlust und vom Verlassenwerden. Sie sind eingängig und immer etwas melancholisch. Das Fundament bleibt die Repetition, der stoische Rhythmus, die markanten Linien der Gitarre, der flexible, aber treibende Bass und die pulsierenden Keyboard-Akkorde.

Das Album besteht aus einer Vielfalt von Texturen und schimmernden Harmonien. Die Schönheit der häufig mehrstimmig gesungenen Stücke und die Kraft des stetigen Rhythmus wirken geradezu euphorisierend.

„No Shouts No Calls“ von Electrelane ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Too Pure/Beggars Banquet

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Manic Street Preachers: „Send Away The Tigers“ (Red Ink 2007)
Wolke: „Ich will mich befreien“ (Tapete Records 2007)
Peter von Poehl: „Going To Where The Tea Trees Are“ (Herzog Records 2007)
The Go Find: „Stars On The Wall“ (Morr Music 2007)
Brett Anderson: „Brett Anderson“ (V2 2007)

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Krach wie früher

Die Indie-Rocker Dinosaur Jr. sind zurück, in der Original-Besetzung des Jahres 1987. „Beyond“ klingt, als wäre es von damals: scheppernd, sumpfig, dreckig.

Melody and Noise, Melodie und Geräusch, das war die Devise der Stunde im alternativen Rockgeschehen vor zwanzig Jahren. Die drei Platten, die das am besten umsetzten, waren Isn’t Anything von My Bloody Valentine, Candy Apple Grey von Hüsker Dü und You’re Living All Over Me von Dinosaur Jr. Verglichen mit diesen Bands erscheint ein Großteil des heutigen Indie-Rock handzahm und lahm.

You’re Living All Over Me war das zweite Album von Dinosaur Jr., sie schufen darauf ihre eigene Mischung aus Punk und Metal. Ergreifende Melodien bahnten sich ihren Weg durch meterdicken Lärmschlamm, es klang, als hätte Neil Young unter dem Einfluss aufputschender Drogen mitgewirkt.

In der Urbesetzung aus J. Mascis, Lou Barlow und Murph legte Dinosaur Jr. kurze Zeit darauf mit Bug ein weiteres Meisterwerk vor. Danach verließ der Bassist Lou Barlow die Band, um sich seinem eigenen Projekt Sebadoh zu widmen. Der Gitarrist und Sänger J. Mascis nahm in den folgenden zehn Jahren – anfangs unterstützt vom treuen Schlagzeuger Murph – vier weitere Alben auf. Die waren voller schöner Melodien und bezaubernden Arrangements, weniger krachig. Auf der Bühne fehlte der Gegenpol zu Mascis’ ausladenden Gitarrensoli. Nicht selten artete das in hemmungsloses Gegniedel aus – ein typisches Verfallssymptom alternder Rocker. Es wurde noch schlimmer, als Mascis Dinosaur Jr. im Jahr 1998 auflöste und zwei Platten unter seinem eigenen Namen veröffentlichte.

Im vergangenen Jahr tourten Dinosaur Jr. erstmals seit 18 Jahren wieder in der Originalbesetzung und gaben ohrenbetäubende Konzerte, die viele Fans ratlos zurückließen. War das jetzt wirklich großartig oder nur ein nostalgischer Reflex?

Jetzt gibt es mit Beyond eine neue Platte. Sie beginnt mit einem Gitarrensolo von J. Mascis, unterlegt mit einem infernalischen Lärmteppich. Lou Barlow ist wieder da und mit ihm dieser verzerrte Bass-Klang, der weniger Rhythmus denn Textur ist – pures Geräusch. Er ist das Gegengewicht, das Mascis quecksilberartige Soloergüsse brauchen. Murph poltert dazu wie eh und je und treibt so die Musik voran. Die Stücke sind fantastisch, J. Mascis ist immer noch ein hervorragender Schreiber. Zwei Stücke stammen von Lou Barlow, sie verhalten sich zu Mascis‘ Stücken wie Mitte der Siebziger die Stücke von Stephen Stills auf Neil Youngs Alben: Sie sind die Ruhepole mit Harmoniegesang inmitten der rastlosen Eigenwilligkeit.

Das Erstaunlichste an dieser Platte ist, dass sie sich den derzeit üblichen Klangidealen komplett verweigert. Hier gibt es nicht die im Studio zu Tode komprimierten Klangblöcke, die heutzutage als Härte gelten. Beyond klingt scheppernd, sumpfig und dreckig, als sei es im Jahr 1987 entstanden.

Mit Nostalgie hat das nichts zu tun.

Sehen Sie hier das Video zu „Been There All The Time“

„Beyond“ von Dinosaur Jr. ist erschienen bei PIAS

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Fehlfarben: „Handbuch für die Welt“ (Domino/Rough Trade 2007)
Maximo Park: „Our Earthly Pleasures“ (Warp 2007)
!!!: „Myth Takes“ (Warp/Rough Trade 2007)
The Fall: „Reformation! Post-TLC“ (Slogan/Sanctuary 2007)

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Bittersüß

Ungestört zappeln und zwischendurch eine kleine Träne abdrücken: Die Berlinerin MIA macht Techno, zu dem man am liebsten allein auf einer riesigen Tanzfläche stünde.

Cover Herbert

MIA ist Michaela Grobelny aus Berlin. Sie macht Techno, der sowohl zu Hause funktioniert als auch im Club. Weitere Vertreter dieser Dream Techno genannten Spielart sind Lawrence und Pantha Du Prince. Bittersüss ist ihr zweites Album. Ihr erstes hieß Schwarzweiss, die Titel spiegeln die Ambivalenz ihrer Musik wider. In ihr schwingen die Ekstase der Tanzhalle und die Melancholie des Alleinseins. Ihre Stücke vereinen aufwühlendes Stampfen und drängende Basslinien mit ruhigen Klangflächen.

Harmonisch geht es zu auf Bittersüss, simpel und klar. Die Stücke bestehen meist aus wenigen, sparsam eingesetzten Klangelementen. Mit wenigen Mitteln gelingt es MIA, ihnen einen dramatischem Aufbau zu verleihen. Erstmals setzt sie häufiger ihre Stimme ein – auf früheren Aufnahmen kam sie allenfalls in Schnipseln vor. Sie singt nicht, hier flüstert sie, dort summt sie eine Melodie. Auf Under The Bridge legt sie ihren durch Hall verfremdeten Erzählfluss über seltsam klingende, beschleunigte Gesangs-Fragmente. Diese Form des Nichtgesangs, des entkörperlichten Erzählens taucht noch einmal auf bei So I Felt, dem ambitioniertesten Stück des Albums. Es ist eine wahre Industrial-Suite: Ein forsches Bassdröhnen, stumpf-metallisch klingende Schlaginstrumente, schabende Klangeffekte, und darüber ein harsch gestrichenes Cello.

Einiges auf Bittersüss erinnert an den Synthesizer-Pop der frühen achtziger Jahre, wie der Sprechgesang und die industriellen Klänge. Der Synthesizer und die kalten Maschinenklänge helfen ihr, zwiespältige Emotionen auf den Punkt zu bringen. Das Stück Can’t Find You spricht vom Sehnen als einer treibenden Kraft. Der Rhythmus ist fordernd und der Bass schwingt, die verlangsamten Seufzer und die warm wie Kupfer schimmernden Klänge sprechen von einer unstillbaren Sehnsucht. Cold City besteht aus melancholischen Flächen, hochfrequenten Signalen und einem träge insistierenden Rhythmus. Es könnte ein frühes Trance-Stück sein, stark verlangsamt. Die Faszination und Fremdheit einer Großstadt schwingen mit, die Einsamkeit in der Menge. Das ist sicher kein neues Thema im Techno, aber selten wurde es so exquisit artikuliert wie hier.

„Bittersüss“ von MIA ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Sub Static

Hören Sie hier „Swoon“ von „Bittersüss“ und „Swoon (Drama Society Remix)“ von der parallel erscheinenden Vinyl-Maxi „Bittersüss Remixe“

Weitere Beiträge aus der Kategorie TECHNO
Pantha Du Prince: „The Bliss“ (Dial/Kompakt)

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Gospel für Weißbrote

Die kanadische Band Arcade Fire unterlegt frohe Hymnen mit dunkler Lyrik. „Neon Bible“ entstand in einer Kirche. Der Welt gefällt’s.

Kaiser Chiefs

Es ist eine beinahe alltägliche Erfolgsgeschichte in Zeiten des Web 2.0: Im Jahr 2004 erscheint in Kanada das erste Album von Arcade Fire, Funeral, aufgenommen für lächerliche tausend Dollar. Unterstützt von Blogs und Tauschbörsen verbreitet es sich rasch um die ganze Welt. Als es Anfang 2005 in Europa veröffentlicht wird, hat es dort eigentlich schon fast jeder. Heute lassen auch Bruce Springsteen und U2 mitteilen, Fans der Band zu sein. Sasha Frere-Jones wagt im amerikanischen Magazin New Yorker die These, dass sie die Band vielleicht deshalb so schätzten, weil die ihre musikalischen Visionen ohne die Einmischung von Plattenfirmen umsetzen konnte.

Wake Up von Funeral dröhnt vor jedem Spiel der New York Rangers durch den Madison Square Garden. Das hymnische Stück soll die Eishockeyspieler zum Sieg treiben. Offenbar hören sie nicht so genau hin, denn der Text handelt nicht vom Siegen, sondern vom Erwachsenwerden, von der Leere und dem Tod. “Something filled up my heart with nothing, someone told me not to cry. But now that I’m older, my heart’s colder, and I can see that it’s a lie.“ So funktionieren Arcade Fire: In schwelgerischen Hymnen verhandeln sie die ganz großen Gefühle.

Das gilt auch für ihr zweites Album, Neon Bible. Die Sprache klingt alttestamentarisch, unzählige Instrumente sind zu hören. Ein hämmernder Bass gibt Struktur, die Gitarren scheppern optimistisch. Xylophon, Banjo und Akkordeon verleihen der Musik etwas Exzentrisches. Streicher, Bläser und Harfen erzeugen das Gefühl, einer Art Gottesdienst beizuwohnen. Der Sänger Win Butler erscheint mit seiner durchdringenden Stimme wie ein Priester, immer wieder überschlägt sich seine Stimme. Das ist Gospel für Weißbrote. Ganz gleich, welche Tiefen die Lyrik auslotet, die Musik klingt immer froh. Neon Bible wurde in einer Kirche aufgenommen, auf dem Stück Intervention hat die Orgel einen gewaltigen Einsatz. Ein Chor darf da nicht fehlen.

Auf der Platte sind Arcade Fire zu siebt, auf der Bühne zu neunt. Sie lieben das Spektakel. Ihre Auftritte zelebrieren sie als Theater mit Verkleidungen und häufigen Instrumentenwechseln. Sie wollen ihr Publikum unterhalten.
In der von männlichem Selbstmitleid und Größenwahn beherrschten Rockszene sind sie eine Ausnahme. Sie verbinden das Grüblerische mit dem Ekstatischen, schmücken tiefsinnige Gedanken mit prallen Arrangements.

Who among us still believes in choice?“, fragt Butler in Ocean of Noise.

Nada“, antwortet der Chor auf Spanisch: Niemand.

Und das stürmische Stück Antichrist Television Blues brechen sie auf dem Höhepunkt einfach ab.

„Neon Bible“ von den Arcade Fire ist als CD und Doppel-LP erschienen bei City Slang

Hören Sie hier „Intervention“

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Kaiser Chiefs: „Yours Truly, Angry Mob“ (B-Unique/Universal 2007)
Do Make Say Think: „You, You’re A History In Rust“ (Constellation 2007)
Sonic Youth: „Goo“ (Geffen 1990)
Bloc Party: „A Weekend In The City“ (V2 Records 2007)
Rammstein: „Völkerball“ (Universal 2006)

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Überall zuhause

Die Brazilian Girls singen auf Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Und warum auch nicht? Hier kommt „Talk To La Bomb“…

Sonny Rollins - Sonny, Please

In welche Schublade soll man die Brazilian Girls stecken? Ihr erstes Album aus dem Jahr 2005 klang nach dieser neuen brasilianischen Popmusik, die viel mit elektronischen Elementen arbeitet. Der Keyboarder und Programmierer Didi Gutman hatte auch schon mit Bebel Gilberto zusammengearbeitet. Das zweite Album Talk To La Bomb ist schwerer einzuordnen. Ist das tanzbare Loungemusik? Seichter House? Vielleicht Jazz? Einfach Pop? Die Sängerin Sabina Sciubba stört die Uneindeutigkeit nicht: „Wir sind nicht mehr von brasilianischer Musik beeinflusst als von argentinischer oder afrikanischer oder europäischer Musik“.

Aber der Name? Der ist nur ein Witz. Keiner der vier Musiker kommt aus Brasilien. Didi Gutman kommt aus Buenos Aires, der Bassist Jesse Murphy aus Kalifornien und der Schlagzeuger Aaron Johnston aus Kansas. Und das einzige Girl im Bunde, Sabina Scubbia, ist überall ein bisschen zu Hause. Geboren wurde sie in Rom, aufgewachsen ist sie in München und Nizza, seit einigen Jahren lebt sie in New York.

Das Telefoninterview führt sie aus ihrem Urlaub in Puerto Rico. Im Hintergrund zwitschern die Vögel. In den Stücken wechselt sie die Sprache – Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch – manchmal mitten in einer Strophe. Die Plattenfirma wollte sie auf eine Sprache festlegen, berichtet sie. Verstanden habe sie das nicht, und befolgt schon gar nicht: „Ich kenne mittlerweile so viele Menschen, die mehrere Sprachen sprechen. Ich glaube nicht, dass es problematisch ist, mehrsprachig zu singen“.

Genauso unbekümmert wie sie klingt das zweite Album ihrer Band, Talk To La Bomb. Vom harschen ersten Stück Jique war die Plattenfirma ebenfalls nicht begeistert, sie wünschte sich eine weitere Portion des musikalischen Sonnenscheins vom ersten Album.

Ihre Musik ist wilder geworden. Der agile Bass umspielt die programmierten Beats, als würde er versuchen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen. Große Teile der Musik sind in spontaner Improvisation entstanden, wie kleine Wunder verbinden sich die Elemente doch immer wieder zu Liedern, die melodisch sind, aber stets voller Brüche und Stolpersteine. Man hört, dass alle vier Musiker ihre Wurzeln im Jazz haben, kennen gelernt haben sie sich in einem New Yorker Jazzclub. Immer wieder setzen sich einem Textstellen und musikalische Phrasen im Kopf fest, hier und da klingt etwas bekannt.

Das Album ist sehr spontan im Studio entstanden. Nur für ein Stück holten sie sich einem Produzenten dazu. Ihre eigene Version von Last Call gefiel ihnen nicht, so machte Ric Ocasek eine Disconummer im Stil der Achtziger draus. Und siehe da, sie steht den Brazilian Girls ausgezeichnet, wie eigentlich alles was, sie an- und ausprobieren.

„Talk To La Bomb“ von den Brazilian Girls ist als CD erschienen bei Verve Forecast/Universal

Hören Sie hier „Never Met A German“ und die beiden auf Deutsch neu aufgenommenen Stücke „Jique“ und „Last Call“

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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Milenasong: „Seven Sisters“ (Monika 2007)
The Cure: „Festival 2005“ (Geffen/Universal 2006)
Gwen Stefani: „The Sweet Escape“ (Universal 2006)
Sodastream: „Reservations“ (Hausmusik 2006)
Sufjan Stevens: „Songs For Christmas Singalong“ (Asthmatic Kitty/Cargo 2006)

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Kanadas schrägste Tanzfläche

Auf „Plays Polmo Polpo“ spielt Sandro Perri Stücke seiner eigenen Band nach. Lange Instrumentalnummern verwandelt er in fragile Lieder voller Melodie

Sandro Perri Plays Polmo Polpo

Das Label Constellation Records aus Montréal in Kanada steht für experimentellen Independent-Rock. Seine Veröffentlichungen zu hören, lohnt eigentlich immer. Godspeed You Black Emperor sind das Aushängeschild der Firma, die auch mit der liebevollen Aufmachung ihrer CDs und Platten besticht. Im Jahr 2003 erschien hier Like Hearts Swelling von Polmo Polpo, dem Ein-Man-Projekt von Sandro Perri. Und eben dieser Sandro Perri spielt nun seine eigenen Lieder nach, der Titel der Platte verrät es: Sandro Perri Plays Polmo Polpo. Ein zweiter Aufguss?

Ganz und gar nicht. Die zwischen Postrock, Klangcollage und Minimalismus oszillierenden Klänge Polmo Polpos kommen nun als eigenwillige Lieder daher. Die Platte beginnt mit fünfeinhalb Minuten Instrumentalmusik. Der Rhythmus schunkelt vor sich hin, eine Bassklarinette setzt Akzente. Eine Mundharmonika und eine Slide-Gitarre schaffen eine Atmosphäre, die nichts mit Country-Musik, aber viel mit amerikanischer Weite zu tun hat. Später tritt noch ein Akkordeon hinzu und etwas, das wie ein Theremin klingt. Das alles wirkt auf angenehme Weise schräg. Romeo Heart heißt das gute Stück. Die Mischung aus melodieverliebter Eingängigkeit, der Freude am Puren und an repetitiven Rhythmen charakterisieren Perris Klang.

Einiges ist collagiert – in Requiem For A Fox reiben sich verschiedene Gitarrenspuren aneinander. Die Stücke folgen seltsamen Metren, vertraut wirkende Formen zerfallen. Das alles erinnert an Red Krayola und andere Avantgarde-Pop-Bands der neunziger Jahre.

Ist Like Hearts Swelling eine reine Instrumentalplatte, so singt Perri nun mit sanfter Stimme. Die neu eingespielten Stücke sind transparent und schlank; dem Material tut das gut. Die ungewohnte Instrumentierung setzt Akzente, die in den extrem dichten Klangschichten von Like Hearts Swelling wohl gar nicht aufgefallen wären.

Perri wandert zwischen den Welten. Hier Disco, da E-Musik, ein eigenwilliger, identifizierbarer Stil. Er liebt seine Melodien, aber klebt nicht an ihnen. Wie – zwanzig Jahre vor ihm – Arthur Russell. Auf anderen Platten – zum Beispiel der Polmo Polpo-Maxi Kiss Me Again And Again, einer Russell-Coverversion und der Platte seines Nebenprojekts Glissandro 70 – schiebt er seine Lieder auf die Tanzfläche, die irgendwo im New York der späten achtziger Jahre zu sein scheint. Oder vielleicht ja auch in einer schöneren Zukunft, in der Sandro Perri täglich im Radio liefe.

„Plays Polmo Polpo“ von Sandro Perri ist als CD und LP erschienen bei Constellation Records

Hören Sie hier „Sky Histoire“

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Erschütternd glamourös

Über die Jahre (17): „Lexicon Of Love“ von ABC steckt voller Widersprüche. Unter der glitzernden Oberfläche fröhlicher Poplieder liegen Enttäuschung und Schmerz. Für romantische Flausen ist da kein Platz

ABC The Lexicon Of Love

The Lexicon Of Love von ABC war die erste Platte, die ich mir kaufte – für 14 Mark 90 in einem Plattenladen in der Passerelle in Hannover. Diese schmuddelige, unterirdische Ladenmeile unter der Fußgängerzone passte nicht zu dem Glamour und der Romantik, die ich mit der Gruppe verband. Für mich waren ABC die einsamen musikalischen Erben des klassischen Hollywoods. Ich verband die Platte mit alten Screwball-Komödien am Sonntagnachmittag, in denen sich Claudette Colbert und Clark Gable oder Katherine Hepburn und Cary Grant erotisch knisternde Wortgefechte lieferten. Oder in denen Fred Astaire und Ginger Rogers durch bizarre Art-déco-Kulissen wirbelten. Sie stimmten mich beschwingt.

Martin Fry, der Sänger und Texter von ABC, war mein Cole Porter. „If you gave me a pound for all the moments I missed / And I got dancing lessons for all the lips I shoulda kissed / I’d be a millionaire / I’d be a Fred Astaire“, sang er in Valentines Day und brachte das Missverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit in meinem jungen Leben auf den Punkt. Ich war voller romantischer Vorstellungen von der Liebe und noch weit davon entfernt, Erfahrungen mit ihr zu machen.

Ich war 14 Jahre alt, mein Englisch schlecht. So entging mir die andere Seite von Frys Texten. Eigentlich versuchte er doch, mir die romantischen Illusionen auszutreiben: „Sentimental powers might help you now / but skip the hearts and flowers / skip the ivory towers / you’ll be disappointed.“

Damals wusste ich nicht, dass die Platte aus der Verarbeitung einer schmerzlichen Trennung Martin Frys entstanden war. Die Frau, die man auf Poison Arrow singen hört, war die Angebetete, die ihn soeben verlassen hatte. Aber muss man Kunstwerke ausschließlich in Bezug auf die Biografie des Künstlers entschlüsseln? Gerade bei ABC macht das wenig Sinn, sie standen ja gerade nicht für solcherlei Authentizität. Das war die Domäne der stumpfen Rocker. Und ABC waren Pop. Groß, glamourös und unwirklich. Sie verwandelten den Schmerz in Disco-Beats, Streichertürme und bunte Bilder. Im Video zu The Look Of Love stellt die Band als Horde ungelenker Ex-Punks mit schiefen Zähnen ein knallbuntes Broadway-Musical nach.

Dass die Platte mich auch heute noch so beeindruckt, liegt an der Wut, die in Martin Frys Stimme schwingt. Wie meine anderen Lieblingssänger zu der Zeit – Edwyn Collins von Orange Juice und Kevin Rowland von Dexy’s Midnight Runners – war er ein pickliger weißer Junge mit begrenztem Stimmumfang. Er versucht wie ein Soulsänger zu singen, das Scheitern macht seinen Gesang so erschütternd.

Auch wenn ich die Texte nur teilweise verstand, das Schwanken dieser Platte zwischen Freude und Schmerz nahm ich wahr, es prägte mich. ABC steckten voller Widersprüche, sie standen für die Hoffnung im Elend, den Konflikt in der Harmonie, das Lachen, dass sich unter den Tränen verbirgt. In diesem Sinne war die Passerelle vielleicht doch der geeignete Ort für den Kauf dieser Platte, die mich auch heute noch – 24 Jahre später – euphorisch stimmt.

„The Lexicon Of Love“ von ABC ist erschienen bei Mercury/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Poison Arrow“

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(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Ein Lob der Künstlichkeit

Die Platten von Koop sind Reisen durch die Jazzgeschichte. Aus Versatzstücken alter Aufnahmen basteln sie organische neue Lieder. Auf ihrem dritten Album „Koop Islands“ zelebrieren sie nun die exotisch schillernden Klänge der dreißiger Jahre

Koop Islands

Oscar Simonsson und Magnus Zingmark aus Stockholm sind Koop. Sie erkunden die Geschichte des Jazz, indem sie alte Stücke auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Das machen heute viele? Stimmt. Doch Koop mischen nicht einfach Versatzstücke alter Aufnahmen mit zeitgenössischen Rhythmen. Sie verwenden die Schlagzeugklänge alter Jazzplatten, kombinieren sie und modifizieren sie behutsam. Etwas Neues entsteht, es klingt alt und organisch. Ist es das Material des Schlagwerks, das man da hört?

Die Arrangements sind aufwändig, auch sie kommen aus dem Sampler. Koop verwenden dafür Teile alter Big-Band-Aufnahmen, die sie übereinander schichten. „Wir versuchen, eine Musik zu machen, bei der man nicht unterscheiden kann, ob sie echt ist oder nicht“, erklärt Oscar Simonsson. „Wir versuchen, eine Illusion zu erschaffen.“

Ihre bisherigen Platten bedienten sich beim skandinavischen Cool-Jazz der Fünfziger und bei der Musik von Sängerinnen wie Karin Krog und Monica Zetterlund. Koop Islands geht nun weiter zurück in die Geschichte. Man assoziiert exotisch geschmückte Cocktail-Bars. Und Broadway-Shows, in denen Männer in Zoot-Suits und knapp bekleidete Frauen zu Südsee-Folklore tanzen. Und Jazz, der hemmungslos bei den Stilen wildert.

Bereits in den achtziger Jahren spielte August Darnell mit solch exotischen Illusionen. Seine bunten Showtruppen Dr. Buzzard’s Original Savannah Band und Kid Creole & The Coconuts waren die trojanischen Pferde für seine satirischen Texte. Selten war Disko-Musik so überkandidelt und zynisch zugleich.

Koop sind keine Zyniker. Ihre Musik ist aus der Liebe zum Jazz geboren. Mit Yukimi Nagano haben sie eine begnadete Sängerin gefunden. Und Rob Gallagher, bekannt als Galliano, darf auf der Platte seine Poesie vortragen. Wie August Darnell spielen Koop auf Camp an, das sieht man auf den Plattenhüllen. Auf Koop Islands posieren die beiden Musiker stark geschminkt in Frauenkleidern im Stil der dreißiger Jahre. Das Verkleiden und Posieren betreiben sie bei all ihren DJ-Auftritten, Konzerten und Interviews. Ihre Musik bezeichnen sie als weiblich. Das Machogehabe der Rockszene ist ihnen ein Gräuel, ebenso der damit verbundene Wunsch nach Authentizität. Koop Islands ist ein Lob der Künstlichkeit und der Vielschichtigkeit.

„Koop Islands“ von Koop ist als LP und CD erschienen bei Compost

Hören Sie hier „Whenever There Is You“

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