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Im Bitfrühschoppen

 

Über die Jahre (20): Wo kommt nun diese Musik her? „Spirituals“ von Flanger taucht New Orleans in Elektronik und bringt Partys zum Durchstarten

Flanger Spirituals

Es gibt Platten, die man gleich mag, eine Weile ausschließlich hört und die sich dann allmählich durch Begeisterung erschöpfen. Es gibt andere Platten, die erst nach dem dritten oder vierten Mal so richtig zünden und sehr, sehr lange bei einem bleiben. Die schnellen wie die langsamen Lieblingsplatten – sie sind selten, und man freut sich, wenn man gelegentlich eine gefunden.

Noch rarer sind die Favoriten einer dritten Kategorie: Man mag sie im Nu, auf lange Zeit, und sie gewinnen auch späterhin noch. Solche Platten sind sehr kostbar; man muss sie hüten, niemals verleihen – aber man darf natürlich von ihnen schwärmen, zumal in dieser Rubrik, die Musik nicht als Obst betrachtet, sondern als eine Sache von Dauer.

Wer kennt Flanger? Es ist das bikontinentale Duo aus dem Kölner Elektronik-Mischer Burnt Friedman und dem nach Südamerika ausgewanderten Frankfurter Uwe Schmidt, einigen vertraut als Señor Coconut durch seine Latino-Versionen von Kraftwerk-Titeln; zuletzt war er vergangenen Herbst mit eigenem Orchester in deutschen Landen auf Tournee.

Beide Musiker sind ohne eigentliche Instrumente: Sie drehen an Knöpfen, bis es uns die Köpfe verdreht und wir glauben, gar nicht mehr richtig zu hören. Flanger macht Musik, die den Kopf anspricht und in die Beine geht, auch das extrem selten.

Auf Spirituals, ihrem vierten Album, das im Jahre 2005 erschien, widmen sich die beiden Computermusiker dem Blues und dem Oldtime Jazz, damals wie jetzt nicht eben top-angesagten Richtungen. Was sie aus dem teils schwerblütigen, teils frühschoppigen Material machen, ist ohne Beispiel: eine durch und durch beschwingte Bit-Musik, die auf Anhieb funktioniert, ihre Wirkungsweise aber nur nach und nach preisgibt. Music Is Our Secret Code heißt treffend ein kurzes der insgesamt zwölf Stücke: Was hier in der Tiefe los ist, erschließt sich erst bei genauem, wiederholtem Hören.

Schein und Sein – es gibt Klavier, Gitarre, Schlagzeug, hier und da wird Klarinette gespielt oder sogar gesungen, aber es ist wie auf einem Bild David Hockneys: Das Haus mit den Palmen mit dem Pool mit der Wasseroberfläche ist nur Farbe auf Untergrund, die sich aufgekratzt als Illusion überführt.

Die Gitarrenlinie auf Music Is Our Secret Code, sie wird an manchen Stellen elektronisch angehalten, mikroskopisch repetiert, dann geht es weiter, als wäre nichts gewesen.

Das Tolle daran ist: Die feinsinnige Reflexion über das Medium beeinträchtigt die Tanzbarkeit nicht. Wer gelegentlich Platten auflegt, um Abende in Schwung zu bringen, kann mit Flanger zu vorgerückter Stunde jede Party zum Kochen bringen, obwohl die Stücke keine seit langem bewährten Kracher sind.

Die Ästhetik dieses rückwärtsgewandten Albums ist dabei absolut zeitgemäß. Wer den Anschluss an aktuelle Musik vor Jahren oder Jahrzehnten verloren hat, hier kann er wieder einsteigen.

Und von wegen New Orleans: Für diesen Blues gibt es keinen rechten Ort mehr; seine Heimat liegt in den Platinen.

„Spirituals“ von Flanger ist im Jahr 2005 als CD und LP erschienen und erhältlich bei Nonplace

Hören Sie hier das raffinierte „Music Is Our Secret Code“ und den Hit „Peninsula“

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(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
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(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
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