Lesezeichen
 

Drei Seiten einer Oper

Robert Wyatt von Soft Machine denkt in Schallplattenlänge. Kein Akt seiner „Comicopera“ ist länger als 20 Minuten, keiner klingt wie der andere.

Robert Wyatt Comicopera

Robert Wyatt auf einen Stil festzulegen ist unmöglich. Mal spielt er Pop, mal Jazz, mal Folk, meist alles auf einmal. Auch sein neues Album Comicopera lebt vom Facettenreichtum des Musikers, der seit einem Sturz aus dem dritten Stock im Jahr 1973 an den Rollstuhl gefesselt ist. Wie eine wirkliche Oper ist das Album in drei – musikalisch und thematisch allerdings vollkommen unterschiedliche – Akte unterteilt, jeder hat die Länge einer Schallplattenseite. Das sei die zeitliche Einheit, in der er musikalisch denken und planen könne, sagt er. So sei auch seine erste lange Komposition entstanden, Moon In June auf dem dritten Album seiner ehemaligen Band Soft Machine. Länger ginge nicht.

Der erste Akt heißt Lost In Noise, obwohl er recht zugänglich und gar nicht krachig ist. Er beginnt mit Stay Tuned, einem Stück geschrieben von Anja Garbarek. Robert Wyatt ist ein Meister der Coverversion. Er hat die Fähigkeit, fremde Stücke – sei es Biko von Peter Gabriel oder At Last I Am Free von Chic – so zu interpretieren, dass sie wie für ihn geschrieben klingen. In diesem Fall ist das Arrangement üppiger als das des Originals. Er lässt gar eine Sopranistin Vokalisen singen. Mehr Oper gibt es nicht auf diesem Album.

Das Instrument, mit dem Wyatt sich fremde Stücke zu eigen macht, ist seine traurige Stimme. Sie verleiht auch einfachen Stücken Tiefe. Bei A.W.O.L ist das so, es ist eines von vier Stücken, das seine Lebensgefährtin Alfreda Benge für ihn schrieb. Es handelt von einer Frau, die ihren Mann verloren hat. Wyatts Stimme kommuniziert die Einsamkeit und Verlorenheit der Frau so eindringlich, dass man weinen möchte. Gleichzeitig spendet seine Stimme Trost wie kaum eine zweite. Berührend ist auch das autobiografische Stück Just As You Are, eine Auseinandersetzung mit seiner überwundenen Alkohol-Krankheit. Er singt von den Lügen, die er Alfreda Benge in dieser Zeit erzählte, und davon, dass sie sich um das einzige betrogen fühlte, was sie von ihrer Beziehung verlangte, um die intelligente Unterhaltung. Monica Vasconcelos singt in dem Duett Benges Stimme. Das Stück stimmt traurig. Kennt man den biografischen Hintergrund nicht, funktioniert es als einfaches Liebeslied.

Im zweiten Akt The Here And The Now mischt sich das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen. Wir hören Wyatt, den Zweifler. Be Serious – Paul Weller steuert hier eine beschwingte Jazz-Gitarre bei – beneidet die Muslime, Christen, Hindus und Juden um die Sicherheit, die ihnen ihre Religion bietet. „It must be great to be so sure.“ Robert Wyatt ist Atheist.

Manchmal klingt er wie ein Verzweifelnder. Garcia Lorcas Cancion De Julieta ist das zentrale Stück des letzten Aktes Away With The Fairies, es ist ein Jazz-Trauermarsch voller sirrender Streicher und sanft geschlagener Hi-Hats. On The Town Square ist eine Feier des Kollektivismus – eine instrumentale Calypso-Nummer mit Saxofon-Solo.

Ein anderes instrumentales Stück auf dem neuen Album heißt Anachronist. Wyatt trägt diesen Titel schon seit Jahren wie eine Auszeichnung. Er trat der kommunistischen Partei Englands bei, als die kommunistischen Regime in Europa zusammenbrachen, als Geste des Danks. Mit der kubanischen Revolutionshymne Hasta Siempre Commandante erweist er am Ende des Albums Ché Guevara Tribut, er habe seiner Generation Hoffnung gegeben. Das beschwingte Latino-Jazz-Klavier nimmt sich dissonante Freiheiten heraus, die Perkussion torkelt. Die Utopie des Stücks ist ins Wanken geraten, aber es ist alles, was geblieben ist. Es endet mit sehnsuchtsvoll hauchenden Frauenstimmen und einem an Evan Parker erinnernden Solo. Das ist der Klang der Freiheit – oder zumindest der freien Improvisation.

Das bringt uns zu Wyatt, dem Jazz-Musiker. Robert Wyatt war bis zu seinem Unfall Schlagzeuger und Sänger bei Soft Machine, aktiv an den beiden musikalischen Polen der Band, Jazz und Pop. In Mob Rule und Out Of The Blue klingen jazzige Skalen, als seien sie falsch gestimmt. Mob Rule ist skizzenhaft – eine weitere seiner Stärken – Out Of The Blue ein tumultöses, kakophones Meisterwerk. Ein Arrangement aus Stimmsamples, Bläsersätzen und Keyboard-Stichen, überragt von Wyatts ungewöhnlich insistierendem Gesang.

In einem ist Comicopera wie eine richtige Oper: in seiner Emotionalität. Verwirrung und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Einsamkeit, aber auch Hoffnung, Sehnsucht, Trost und Freude, es ist alles da.

„Comicopera“ von Robert Wyatt ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Domino Records.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Young Galaxy: „Young Galaxy“ (Arts & Crafts 2007)
Róisín Murphy: „Overpowered“ (EMI 2007)
Dave Gahan: „Hourglass“ (EMI 2007)
PJ Harvey: „White Chalk“ (Island Records 2007)
Gravenhurst: „The Western Lands“ (Warp Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Klangteppich, himmelwärts

Michaela Melián dreht die Musik auf ihrer zweiten Solo-Platte „Los Angeles“ um einen Rhythmus, der nicht mehr da ist. Aber man vermisst ihn gar nicht.

Michaela Melian Los Angeles

Michaela Melián gehört zur Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle, kurz FSK. Seit den späten Siebzigern haben sie von New Wave über Americana bis Post-Rock eigentlich jedes Genre erkundet, zuletzt nahmen sie ein Album auf mit dem Pionier des Detroit Techno, Anthony Shakir. Der Minimalismus von Velvet Underground hat die Band geprägt: Lieder entstanden aus repetitiven Kürzeln, die Texte waren häufig Auflistungen und wurden kühl vorgetragen. Die Textur war wichtiger als die Dramaturgie. So ist es nicht erstaunlich, dass Michaela Melián nun beim minimalen Techno angelangt ist.

Los Angeles ist ihr zweites Soloalbum, das erste hieß vor drei Jahren Baden-Baden. Beide Alben schließen mit einem Stück von Roxy Music. Auch diese Band war für FSK immer eine wichtig, sie liebte das Künstliche. Ihr ambivalenter Vortrag machte es schwer, zwischen Ironie und Affirmation zu unterscheiden. Der spätere Erfinder der Ambient-Musik, Brian Eno, war anfangs Mitglied von Roxy Music.

Melián interpretiert nach A Song For Europe nun Manifesto, zum zweiten Mal ein Stück aus der Zeit nach Brian Eno. Manifesto erschien im Jahr 1979, Eno steckte zu der Zeit mitten in seinem Ambient-Projekt, Roxy Music erreichten gerade ihre Hochglanz-Pop-Phase, die so einflussreich in den Achtzigern werden sollte. In ihrer Version führt Melián die späten Roxy Music wieder mit Eno zusammen. Die seltsamen Klänge der Synthesizer und die Streicher-Arabesken erinnern an das Experimentelle, das mit Eno aus dem Klang der Band verschwand.

Die Musik von Michaela Melián lädt zur Spurensuche ein, ihr geht es um Kontexte, Referenzen und Zitate. Sie arbeitet als Künstlerin, in ihren Werken verbindet sie oft Objekt und Klang. Auch die Stücke auf Los Angeles sind für Ausstellungen entstanden. An diese ursprüngliche Verwendung erinnern Namen wie Föhrenwald (ein Hörspiel, das sie für den Bayerischen Rundfunk produzierte) und Locke-Pistole-Kreuz. Zudem basieren alle Stücke auf Samples, die auf die Kunstwerke verweisen, manchmal ist es nur das Knacken einer Platte. Melián lädt den Hörer ein, die Referenzen zu verfolgen.

Er kann es auch lassen und sich einfach in die Musik vertiefen. Meliáns FSK-Kollege Carl Oesterhelt hat wie schon bei Baden-Baden die Elektronik bedient, Melián spielt Cello, Bass, Ukulele, akustische Gitarre, Orgel und Melodica. Sie webt einen Klangteppich voller kleiner Details, der in die Wolken davonzuschweben scheint.

Los Angeles klingt, als sei es um einen stumpfen Techno-Beat herum entstanden, der im letzten Moment wieder entfernt wurde. Um diese Leerstelle drehen sich die Stücke. Oft erwartet man, dass ein harter Rhythmus einsetzt. Beim sechsten Stück Stift tut er es tatsächlich. Man hat ihn nicht vermisst, man möchte ihn jetzt nicht missen. Er ist der Herzschlag, der uns auch dann begleitet, wenn wir ihn nicht wahrnehmen.

„Los Angeles“ von Michaela Melián ist als CD erschienen bei Monika. Zwei Stücke des Albums sind in längeren Versionen auf der Vinylmaxi „Convention Manifesto“ erhältlich.

Weitere Beiträge aus der Kategorie TECHNO
Chloé: „The Waiting Room“ (Kill The DJ Records 2007)
Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (Kitty Yo 2001)
MIA: „Bittersüss“ (Sub Static 2007)
Pantha Du Prince: „The Bliss“ (Dial/Kompakt 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Sex im Gottesdienst

Über die Jahre (27): Er verfluchte die großen Gangster und ergriff Partei für die kleinen Dealer. Auf „Back To The World“ zeichnete Curtis Mayfield im Jahr 1973 ein Bild von Amerika.

Curtis Mayfield Back To The World

Das Siebdruck-Cover von Curtis Mayfields fünftem Soloalbum Back To The World zeigt Kampfjets, Industrielandschaften, obdachlose Schwarze, flamboyante Zuhälter, verarmte Kinder und Ratten in der Falle. Es ist das Jahr 1973, die Hoffnungen der Bürgerrechtsbewegung haben sich zerschlagen.

Legt man die Platte auf, hört man zunächst ein Flugzeug starten. Der Turbinenklang und ein pulsierender Bass verheißen Aufbruch. Das Titelstück entpuppt sich als das Klagelied eines Kriegsheimkehrers. Er hat keine Arbeit und findet sich nicht mehr zurecht. Der Krieg war lang und hart, seine Mutter ist sogar der Meinung, man hätte ihn verloren. Als Schwarzer im weißen Amerika muss man weiterhin vorsichtig sein, wohin man seinen Fuß setzt und wie man sein Haar trägt. Die neben Smokey Robinson süßeste Stimme des Soul trägt diese herzzerreißende Geschichte vor, im Hintergrund wirbeln Streicher, Bläser und ein unwiderstehlicher Groove.

Die nächste Nummer Future Shock ist ein fordernder Funk mit zackigen Bläsersätzen, unablässig klackernden Congas, pointierten Snare-Schlägen und Mayfields Wah-Wah-Gitarre. Dieser Sound war im Jahr zuvor durch seine Musik zu Super Fly zu einem Markenzeichen der Blaxploitation-Filme geworden. „Our wordly figures / Playin’ on niggers / Oh see them dancin’ / See how they’re dancin’ to the superfly / Ooh, ain’t it dumb / When you don’t know where we’re comin’ from“, distanziert sich Mayfield von der Verherrlichung des Lebens als Gangster. Einen Atemzug später fordert er Verständnis für die Drogendealer: „The price of the meat / Higher than the dope in the street / Is it any wonder / For those with nothing to eat.“ Eine Lösung ist aber auch der Drogenhandel natürlich nicht, „Son’s got it made / But still seems so afraid / There’s no love for his brother / No plans for another.“

In Right On For The Darkness konfrontiert ein Blinder die Wohlhabenden mit ihrer Ignoranz: „Your petty evils don’t bother me.“ Streicher überwältigen das Stück gegen Ende, sie sprechen eine andere Sprache. „We’re a hell of a nation / Right on for the darkness.“ Die erste Seite der Platte endet auf einer dunklen Note.

Seite 2 versucht einen illusorischen Neuanfang. „If I were only a child again / No one’s ever been so good to me since then / Everywhere I looked / It seemed so colour bright.“ Das Stück ist kurz und fröhlich, die Bläser jubilieren, schwungvolles Händeklatschen treibt es voran. Natürlich waren wir als Kinder nur zu jung, um die „Unsightly scars of death and war“ zu erkennen. Can’t Say Nothing ist ein Tribut an den psychedelischen Funk, den Norman Whitfield für die Temptations und Undisputed Truth entwarf. Weitgehend instrumental rockt das Stück über die Tanzfläche, das Orgel-Zwischenspiel deutet an, dass es weiter bergab gehen kann. Keep On Trippin’ nimmt den Hörer mit auf eine drogenfreie Reise. Es ist das heiterste Stück des Albums, leichtfüßig der Rhythmus, süß die Flöten, bittersüß die Streicher. Es ist ein Liebeslied, das Heilung verheißt. Sie hat ihn zwar verlassen, aber er glaubt an ihre Liebe und daran, dass sie zurückkommt.

Zum Schluss schickt Curtis Mayfield uns mit dem optimistischen Future Song in den Gottesdienst. „Heavenly Father“, singt er immer wieder, „I’ve got to testify“. Es ist eine dieser Soul-Nummern, in der sich die säkuläre Lust des Soul und die spirituelle Liebe des Gospel untrennbar verschränken. Die Orgel klingt, als würde sie in der Kirche stehen, gesungen wird an einem heimeligen Ort. Das Stück verheißt allumfassende Liebe, die mehr ist als Fleischeslust, „Take care a good woman / Take care a good man“. Das klingt naiv, doch da sind diese dunklen Untertöne. Immer wieder konterkariert Curtis Mayfield seine Vision brüderlicher Liebe. Auf seinem ersten Solo-Album Curtis sang er: „Niggas, whiteys, jews / If there’s a hell below / We’re all gonna go“. Wenn einem die Streicher und der süße Gesang auch den Himmel versprechen, es gibt immer eine Orgel oder Curtis Mayfields markante Gitarre, die einen an die Hölle auf Erden erinnern.

„Back To The World“ von Curtis Mayfield ist im Jahr 1973 bei Curtom/Warner erschienen.

Alle Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(26) Codeine: „The White Birch“ (1994)
(25) The Smiths: „The Queen Is Dead“ (1986)
(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Frauen singen eindeutig zweideutig

Da kommen Erinnerungen auf: Das Berliner Duo Rhythm King And Her Friends wühlt lustvoll im Fundus des Post-Punk.

Rhythm King Front Of Luxury

Pauline Boudry und Linda Wölfel kommen aus Berlin. Sie nennen sich Rhythm King And Her Friends und wühlen im Fundus des Vergangenen. Wie vielen Bands aus dem feministisch-lesbischen Umfeld – man denke an Le Tigre oder Chicks on Speed – ist ihnen der Post-Punk wichtig.

In dessen Ära Anfang der achtziger Jahre eroberten Frauen die Bühnen und Aufnahmestudios, sie wollten endlich mehr als den dekorativen Platz am Mikrofon. Sie stellten männliche Mythen der Rockmusik in Frage, das verschwitzte Pochen auf Authentizität mochten sie nicht. Im Post-Punk ging es um das Entlarven der Konstruiertheit vermeintlicher Tatsachen, um das Aufbrechen von geschlechtsspezifischen und ethnischen Rollenzuschreibungen und die Kritik an der Konsumgesellschaft. Die Jungs-Band Orange Juice kultivierte auf Fotos und in Interviews ihre Schüchternheit und Verletzlichkeit. Frauen kombinierten Kleinmädchenkleider mit klobigen Stiefeln und kleideten sich so nachlässig, wie ihre männlichen Kollegen es schon immer taten. Sie experimentierten mit ihrer Musik und ihren Rollen. Post-Punk war nie ein Stil, sondern eine Explosion von Stilen. Das macht bis heute seine Faszination aus.

Viele fruchtbare aktuelle Anschlüsse an diese Ära kommen nicht von ungefähr aus feministischen Zusammenhängen. Das liegt auch am Ernst ihres Anliegens. Viele der männlich dominierten Retrobands wärmen lediglich einen alten Sound auf, abgekoppelt von seiner Bedeutung. Sie fügen der Musik nichts Neues hinzu, sondern nehmen ihr etwas – die Aussage, die Dringlichkeit, die Offenheit.

Bei Rhythm King And Her Friends ist das anders, sie rekonstruieren nicht einfach nur. Sie kombinieren auf ihrem zweiten Album The Front of Luxury gegensätzliche Klänge und transportieren so Bedeutungen. No Picture of the Hero ist ein Popsong, der Eingängiges gegen Kantiges setzt. Der elektronische Rhythmus poltert nervös, die Gitarre ist in einem Moment schroff wie bei Gang of Four und im nächsten beseelt wie bei Orange Juice. Die Scratches und der eingängige Refrain erinnern an eine zeitgenössische Frauenband, Luscious Jackson.

Rhythm King And Her Friends jagen nicht dem Zeitgemäßen hinterher, ihr Umgang mit Elektronik ist gelassen und lustbetont. Wie Le Tigre und Chicks on Speed bemühen sie ihre Synthesizer und Sampler nur, wenn sie die wirklich brauchen – und dann gern polternd und verzerrt.

Dass es hier um mehr als die Musik geht, signalisieren die parolenhaften Texte. Beim zweiten Hören verlieren sie ihre Eindeutigkeit. Im Titelstück singen sie: „We are the front of luxury / we can invent a new story / we want more desires / working like a factory“. Man kommt ins Grübeln: Ist das nun affirmativ oder widerständig?

„The Front Of Luxury“ von Rhythm King And Her Friends ist erschienen bei Kitty Yo/Cargo

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
Hot Chip: „DJ Kicks“ (!K7 2007)
A Certain Frank: „Nowhere“ (Ata Tak 2007)
„Pingipung Blows: The Brass“ (Pingipung Records 2007)
Sally Shapiro: „Disco Romance“ (Klein Records/ Diskokaine 2007)
Apparat: „Walls“ (Shitkatapult 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Tanzen in der Tropfsteinhöhle

Das erste Album der Pariser DJane Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen. Unser Autor staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Chloé The Waiting Room

Es geht los mit einem kurzen Stück leichter Elektronik, das so ähnlich auch in den Achtzigern entstanden sein könnte. Zu hören ist ein Reggae-Shuffle und skurrile Klänge, die an die deutsche Elektroband Der Plan erinnern. The Waiting Room ist das erste Album von Chloé Jane Thevenin, kurz Chloé. Als DJane machte sie im Pariser Lesbenclub Le Pulp auf sich aufmerksam.

Der spielerische Beginn täuscht. Wir stehen am Anfang einer Entdeckungsreise, die uns in ungeahnte Tiefen führt. Wie ihre DJ-Kollegin MIA aus Berlin nutzt Chloé das unerschöpfliche Klangarchiv der achtziger Jahre. Nicht, um ihrem Minimal-Techno eine nostalgisch glitzernde Elektro-Oberfläche zu verpassen, ihre Bezugspunkte sind vielmehr die Kühle von Throbbing Gristle und das Experimentelle der Biting Tongues. Chloé nutzt diese Klänge, um die rigiden Strukturen des Minimal zu brechen.

Das erstaunlichste Stück auf The Waiting Room ist Around The Clock. Das Ticken einer Uhr gibt den Rhythmus, eine Akustikgitarre wird geschrammelt, und Chloé singt die immergleichen Worte. Schnarrende Laute brechen den Beat auf, die Uhren vervielfältigen sich. Irgendwann beginnen eine Posaune und ein Saxofon, den Marsch zu blasen.

In vielen ihrer Stücke passiert so viel, dass man nicht mehr von Minimal-Techno sprechen mag, das ist dann schon Micro-House. Chloé ist es wohl gleich, wie man es nennt. Sie wühlt in den alten Klangarchiven und sucht ihre eigene Sprache. Sie vertieft sich in kontinuierliche Mutationen von Rhythmus und Klangverschiebungen. Stellenweise irritieren ihre merkwürdigen Halleffekte, es klingt, als stünde man in einer Tropfsteinhöhle.

„Beneath the sea / Below the ground / There is no sorrow“, singt Chloé in einem Stück, begleitet von einer gezupften Akustikgitarre und einem beschleunigten Joy Division-Bass. Drum herum schwirren elektronische und natürliche Klänge, und ein gelegentlich brummender Bass verspricht Erdung. The Waiting Room kann einen zunächst deprimieren. Doch wer sich drauf einlässt, wird fasziniert sein: Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen, und er staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Arbeiten übliche Tanzstücke auf Höhepunkte hin, strebt Chloé zu immer neuen Gründen. Das Album ist ein langsamer Abstieg. Alleine lässt sie einen nicht, immer haben die Stücke auch etwas Vertrautes, etwas Freundliches. Man muss es nur finden.

„The Waiting Room“ von Chloé ist bei Kill The DJ Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie TECHNO
Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (Kitty Yo 2001)
MIA: „Bittersüss“ (Sub Static 2007)
Pantha Du Prince: „The Bliss“ (Dial/Kompakt 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Vierstimmiger Wildwuchs

Das Animal Collective stiftet Verwirrung: Wo kommt dieses Zirpen her? Ist das jetzt schon ein Song oder noch ein Experiment? Und wie klingen zermatschte Erdbeeren?

Animal Collective Strawberry Jam

Auf dem neuen Album des Animal Collective prangen zermatschte Erdbeeren, Strawberry Jam heißt es. Bei Strawberry denkt man im Pop sofort an einen der Klassiker des Psychedelic Pop, Strawberry Fields Forever von den Beatles. Wie die Beatles in ihrer psychedelischen Phase nutzt das Animal Collective die Möglichkeiten und Effekte des Tonstudios. Anders als die Beatles sind sie nicht auf der Suche nach dem perfekt geformten Pop-Song, sie brechen lieber die Strukturen auf, durch Klangexperimente und freie Improvisation. Der Song ist dem Animal Collective lediglich Ausgangspunkt – manchmal auch flüchtiges Zwischenergebnis –, bevor alles wieder in wildes Getrommel, seltsam zirpende Synthesizer-Klänge, frenetisches Geschrei und mäanderndes Geschrammel zerfällt.

So war das jedenfalls lange Zeit. Auf der Platte Feels aus dem Jahr 2005 und dem Soloalbum Person Pitch des Kollektiv-Mitglieds Panda Bear deutete sich eine Hinwendung zum Pop-Song an. Mit Strawberry Jam ist das Kollektiv dort angekommen. Eine Affinität zu den Harmoniegesängen der Beach Boys hatten sie schon immer, jetzt leben sie sie voll aus. Nicht im Sinne des perfekten Klangs, sondern als vierstimmiger Wildwuchs. Man hört ihnen an, dass sie zur Perfektion fähig wären, allein – sie wollen sich dem Wohlklang nicht fügen. Der Unwille bricht sich Bahn in vokalen Ausbrüchen, die hier wie Adam Ants Vorstellung von Indianer-Gesängen und dort wie die enthemmte Version avantgardistischer Chormusik klingt.

Die Vielstimmigkeit findet sich auch im Instrumentalen. Klänge werden verfremdet, bis man nicht mehr sicher ist, welchen Ursprungs sie sind. Diese flirrenden Akustik-Gitarren könnten auch Synthesizer sein. Und ist das Getrommel wirklich handgespielt oder eine quer programmierte Rhythmus-Box? Die Klänge haben eine desorientierende, luminös schimmernde Dichte, die den Hörer in Euphorie versetzen. „Confusion is always a good thing in music!“, verfügte Bandmitglied David Portner einst apodiktisch.

Das klingt nach Hippies? Die Mitglieder des Animal Collective sind Hippies. Hippies, die wahrnehmen, was um sie herum vorgeht. Hippies, die sich bevorzugt in der Natur aufhalten, aber in Brooklyn leben. Hippies, die ihr Bewusstsein mithilfe technischer Spielereien erweitern.

Die Erdbeere auf dem Album ist nicht umsonst zermatscht. Nur so sieht man, ob das Zermatschen nicht eine neue Form der Schönheit schafft. Und das tut es.

„Strawberry Jam“ vom Animal Collective ist als CD und Doppel-LP bei Domino Records/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Hard-Fi: „Once Upon A Time In The West“ (Warner Music 2007)
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)
Regina Spector: „Begin To Hope“ (Warner Music 2006)
Architecture In Helsinki: „Places Like This“ (V2 Records 2007)
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Großstadtflimmern

Cameron Bird ist der Sänger von Architecture In Helsinki, seit einiger Zeit lebt er im hektischen New York. „Places Like This“ kündet von seinem beschleunigten Herzschlag.

Architecture In Helsinki Places Like This

Architecture In Helsinki haben ein neues Album, Places Like This. Sie servieren – das ließ die Vorab-Single Heart It Races schon ahnen – ein wahrhaft leckeres Stil-Süppchen. Das Rezept ihrer letzten Platte In Case We Die haben sie mit zahlreichen exotischen Zutaten verbessert.

Ursprünglich kommt die Band aus Melbourne, Australien. Nicht, dass man ihrem wilden Pop-Gemischtwarenladen das angehört hätte. Aber der Reggaeton-Beat und die Calypso-Steel-Pan-Klänge auf Heart It Races sind doch unerwartete Elemente. Wohin mag es die Band verschlagen haben? Ah, natürlich: Der Schreiber und Sänger Cameron Bird ist nach New York gezogen, genauer gesagt nach Williamsburg, dort leben viele Emigranten aus Puerto Rico und der Dominikanischen Republik. Kein Wunder, dass sein Herz schneller schlägt, wenn ihn Tag und Nacht die hektischen Reggaeton-Rhythmen und die unablässigen Klänge der Metropole begleiten.

Der Rest der Band lebt noch in Melbourne. Die neuen Stücke entstanden im E-Mail-Austausch und wurden dann, nach einer langen Amerika-Tour, in 12 Tagen im Studio eingespielt. Ganz im Gegensatz zu ihren beiden ersten Alben, die waren in kleinteiliger Studioarbeit entstanden.

Architecture In Helsinki klingen, als wären sie drauf und dran aus den Boxen ins Zimmer zu springen. Quicklebendig schäumen die Stücke über, sie stecken voller quietschbunter Details. Der Comic auf der Hülle von Places Like This verspricht nicht zu viel. Unter der brodelnden Oberfläche wartet ein mysteriöser Garten darauf, erkundet zu werden. Die Klänge verästeln sich bis ins Kleinste, man entdeckt tatsächlich immer etwas Neues. Ihre musikalische Imagination scheint keine Grenzen zu kennen.

Sie haben das Zeug, die neuen B-52s zu werden. Besonders Hold Music erinnert mit seinem Wechselspiel aus tiefer Männerstimme und weiblichem Sopran an die Party-Band der Achtziger. Die druckvolle Keyboard-Basslinie, die peitschenden Rhythmen, die Kuhglocke und die satten Bläser sind dann wieder typisch für Architecture In Helsinki.

Lazy (Lazy) kombiniert Highlife-Gitarren mit einem überschäumenden „Ay, Ay, Ay“-Chorus. Verschnaufpausen gibt es auf Places Like This so gut wie keine. Lediglich Underwater ist ruhig und ausgeglichen und so reich an Klängen, dass man konzentriert hinhören sollte. Danach geht die Feier weiter mit Like It Or Not – die Congas klackern, die Mariachis blasen, die Gitarre schrammelt. Und dann gibt es noch diesen mitreißenden Nonsens-Chor.

Man ist fast erleichtert, dass das Album nach einer guten halben Stunde vorbei ist. Erschöpft und euphorisiert lehnt man sich kurz zurück, verschnauft und startet die CD dann doch gleich noch einmal.

„Places Like This“ von Architecture In Helsinki ist auf CD und LP bei V2 Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)
MUS: „La Vida“ (Green Ufos/Hausmusik 2007)
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Du singst wie an der Bushaltestelle

Über die Jahre (24): Sie vertauschen Gitarre und Bass wie The Police. Aber sie klingen so anders! „Colossal Youth“ von den Young Marble Giants erscheint 1980 – und jetzt wieder.

Young Marble Giants Colossal Youth

Stuart Moxham spielt auf seiner Gitarre rhythmische Muster, sein Bruder Philip auf dem Bass die Melodie dazu. Eine Rhythmus-Maschine tuckert, gelegentlich kommt von der Orgel eine traurige Melodie, und Alison Statton singt charmant dazu. Als Colossal Youth von den Young Marble Giants im März 1980 erscheint, ist es eine kleine Sensation. Punk ist eben vorbei, und jetzt gibt es kaum jemanden, der sich nicht sofort in die Band verliebt.

Das Trio aus Cardiff in Wales existierte damals bereits seit zwei Jahren. Die Moxham-Brüder waren hagere, kurzhaarige Jungs, Zigaretten in den Mundwinkeln. Alison, die Sängerin, trug ein Mädchen-Kostüm auf, buntes Kleid, weiße Söckchen, Turnschuhe. Das schattige Foto auf der LP und die schlichte Gestaltung der Hülle versprachen Melancholie und Freudlosigkeit. Und in gewisser Weise erinnert die Musik der Young Marble Giants auch an Bands wie Joy Division und The Passage: in ihrer Kargheit und ihrem Ernst. Da ist nichts unkontrolliert oder wütend, da schäumt nichts über wie bei der Pop Group, The Slits oder The Raincoats.

Das Jahr 1980 war reich an neuen Klängen und wagemutigen Platten, das Album Colossal Youth aber sollte keine Grenzen überschreiten. Die Stücke waren kurz und eingängig. Sie verströmten eine Leichtigkeit, die selten war in dieser Zeit. Der Gesang Stattons klang beiläufig, so als würde sie nur für sich singen. Als sie am Ende des Jahres im Leser-Pool des New Musical Express in der Kategorie Beste Sängerin den achten Platz belegte, wunderte sich Stuart Moxham. Es heißt, er sei zunächst dagegen gewesen, die Freundin seines Bruders in die Band aufzunehmen: „Alison ist keine Sängerin! Alison singt, als wäre sie an der Bushaltestelle oder sonst wo.“

Es ist die Einfachheit und Selbstverlorenheit, die Abwesenheit von Kunstwollen und Virtuosität, die den bleibenden Charme der Young Marble Giants ausmacht. In ihrer Musik verbinden sie unvereinbar scheinende Einflüsse. Stuart Moxhams resonanzloser, abgehackter Gitarren-Klang hat etwas vom frühen Rock’n’Roll – den Twang Duanne Eddys, die Rhythmik Eddie Cochrans. Philip Moxhams Bass führt häufig die Melodie, er klingt wie eine zweite Gitarre. Ungewöhnliches ist die Orgel mit der eingebauten Rhythmusmaschine. Sie klingt wie eine Referenz an die Musik, die das britische Fernsehen zum Testbild spielte, wenn das Abendprogramm vorbei war.
Die Young Marble Giants veröffentlichten noch die instrumentale Testcard E.P. und die Single Final Day, dann lösten sie sich auf. Das letzte Stück war ein Kinderlied über die Apokalypse. Stuart Moxham soll es in der Zeit geschrieben haben, die man braucht, es anzuhören: in 1 Minute und 39 Sekunden.

„Colossal Youth“ von den Young Marble Giants ist im Jahr 1980 bei Rough Trade erschienen. Soeben wurde das Album bei Domino Records als LP und Doppel-CD wiederveröffentlicht. Die zweite CD enthält neben Demo-Versionen der Stücke des Albums sowohl die „Testcard E.P.“ als auch die drei Songs der „Final Day“-Single. Eine limitierte Dreifach-CD enthält zusätzlich die Peel Session der Band.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ehrt den samtenen Untergrund

The Concretes aus Stockholm spielen frisch mit den Klängen und Stimmungen der sechziger Jahre.

The Concretes Hey Trouble

The Concretes beschwören die Geister der Vergangenheit. A Whales Heart von ihrem neuen Album Hey Trouble ist ein meisterhaftes Stück Velvet-Underground-Verehrung. Der prägnante Basslauf scheint Ode to Street Hassle von Spacemen 3 entlehnt. Diese wiederum hatten ihn – der Titel verrät es – den Streichern auf Street Hassle des ehemaligen Velvet-Underground-Sängers Lou Reed nachempfunden. Die Trommeln klingen, als hätte seine Kollegin Mo Tucker sie direkt an Georgia Hubley, die Schlagwerkerin von Yo La Tengo weitergereicht. Der sehnsüchtige Gesang und die dichten Wolken aus Gitarren- und Orgel-Sounds erinnern an eine weitere Band der späten achtziger Jahre, deren Referenz Velvet Underground waren: Galaxie 500. Warum also hört sich die Musik von The Concretes nicht an wie ein weiterer Aufguss eines allzu vertrauten Idioms? Warum verbindet sich das wohlige Gefühl der Vertrautheit mit der überraschenden Freude, etwas Neuem zu lauschen? Wie gelingt das diesen jungen Schweden nun schon zum dritten Mal auf Albumlänge?

Wer weiß, ob die siebenköpfige Band aus Stockholm die Wiedergänger der späten Sechziger, Bands wie Yo La Tengo, Galaxie 500 oder Spaceman 3, überhaupt kennen. Sie nähern sich der Tradition mit einer Frische und Unbekümmertheit, die es unerheblich macht, ob sie sich der Referenzen bewusst sind. Die Zitate werden nicht bedeutungsschwanger ausgestellt – seht her, was wir alles kennen –, sondern in immer neue Zusammenhänge gestellt. Und The Concretes sind weit davon entfernt, Drogenmusik zu machen. Sie benutzen den reichhaltigen Schatz an Klängen und Melodien auch nicht wie Galaxie 500, um eine Kathedrale der Melancholie zu bauen. Und schon gar nicht als Sprungbrett für solistische Krachexkursionen wie Yo La Tengo.

Überhaupt ist das Ausufernde ihre Sache nicht. Ihre Stücke sind perfekt geformte Kleinode. Sie sind selten länger als vier Minuten, jede Note sitzt. Da klingen sogar die barocken Arrangements der Beach Boys, die schimmernden Gitarrenströme der Byrds und die Euphorie der Girl Groups der sechziger Jahre noch mit. Die Melodien sind atemberaubend und eingängig. Die schnellen Nummern atmen immer einen Hauch von Melancholie. Und auch in den traurigen Liedern scheinen dieser besondere Humor und diese freundliche Empathie durch, die so typisch sind für The Concretes. Nicht umsonst heißt die neue Platte Hey Trouble. Mit dieser Musik kann man sich beherzt jedem Ärger stellen.

„Hey Trouble“ von The Concretes ist erschienen bei Finger Lickin‘ Records/Alive

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)
Patrick Wolf: „The Magic Position“ (Loog/Polydor 2007)
Hauschka: „Versions Of The Prepared Piano“ (Karaoke Kalk 2007)
Electrelane: „No Shouts No Calls“ (Too Pure 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

McGyver spielt den Löwenzahn

Obskure Instrumente und Effektgeräte, Jaro Salos Kochkünste und das finnische Radio haben geholfen: „Spare Time Machine“ von Pepe Deluxé klingt psychedelisch und richtig alt.

Pepe Deluxe Spare Time Machine

Jari Salo alias James Spektrum ist das Zentrum der Band Pepe Deluxé. Über die aktuelle Besetzung sagt er: „Ich bin so eine Art Regisseur, der die 20, 30 Musiker, die auf dem Album zu hören sind, leitet.“ Bislang stand der Name Pepe Deluxé für wilde Tanz- und Lounge-Orgien, die sich unzähliger Quellen und Samples bedienten. Im Fokus des neuen Albums Spare Time Machine stehen die späten Sechziger und der Psychedelic-Rock.

Viele der Psychedelic-Alben aus den sechziger Jahren klingen heute angestaubt. Das liegt wohl an der grobschlächtigen Technik damaliger Tage. Bandmaschinen und raumgroße Synthesizer beförderten nicht gerade das feinsinnige Arbeiten. All die durchgedrehten Effekte und seltsamen Instrumentenkombinationen, die auf diesen uralten Alben zu hören sind, werden von Pepe Deluxé nun verdichtet und in delirische Höhen transformiert.

Jari Salo liebt diese Ära und ihren Sound. Er benutzt das alte, analoge Equipment. Je obskurer, desto besser. Jari ist besonders stolz auf ein Sechs-Spur-Mischpult, gebaut vom finnischen Radio für die Olympischen Spiele in Helsinki im Jahr 1952. Das Unikat befindet sich seit Kurzem in seinem Besitz. Spare Time Machine nahm er auf Vier-Spur-Kassetten auf, es klingt authentisch nach den Sechzigern. Vier Jahre hat er an dem Album gearbeitet, immer mehr obskure Ausstattung herangekarrt, unterschiedliche Musiker zu Sessions eingeladen und sie bekocht. „Es gab Musiker, die sagten: Ich mag die Musik nicht, aber das Essen ist hervorragend“, erzählt er. Die in diesen Sessions entstandenen Aufnahmen hat er in liebevoller Kleinarbeit zusammengelötet.

Viele Bands vermählen alte Strukturen mit einem zu glatten Klang. Jari Salos Musik klingt alt, er lässt die Klänge und Effekte von damals auf eine neue Art kollidieren. Er lässt seine Musiker jammen wie Jimi Hendrix seine Experience, verwendet dann aber nur die Instrumentalteile, die er gesamplet hätte, gäbe es die Musik bereits auf Platte. All das richtungslose Geeiere experimenteller Pop-Platten, seitenfüllende Stücke, endlose Gitarrensoli, haben bei ihm keine Chance. Er nimmt nur die gelungenen Experimente.

Auf Pussy Cat Rock gibt es die fetten Tom-Toms der Girl-Group-Mini-Dramen, zischende Hi-Hats, wie wir sie von Garagen-Bands kennen, dazu eine psychedelisch bratzende Orgel und eine Fuzz-Gitarre, die sich ein Duell mit einer Surf-Gitarre liefert. Das klingt nicht überladen, weil Jari Salo die Elemente in den Dienst des Stücks stellt. „Am Ende des Tages hört man Platten nicht wegen der Effekte, sondern wegen der Songs“, sagt Jari. Apple Thief beginnt mit einer Spieldosen-Melodie, schwingt sich mit einem melodiösen Bass, Steel-Gitarre und Vintage-Synthesizer-Klängen zu einem veritablen Pop-Song auf. Dazwischen gibt es noch eine improvisiert wirkende Passage für Violine. Das heißt: Was wie eine Violine klingt, ist in Wirklichkeit ein beschleunigter Standbass. Der Irrsinn mündet in einem epischen Streicher-Arrangement von Markus Schneider. Der hat in einem früheren Leben Musik für C-64-Spiele komponiert. Spare Time Machine ist voller solcher Details. Viele Klänge haben eine andere Quelle, als man im ersten Moment glaubt.

Der verrückteste Sound in Jari Salos Ohren ist das Wah-Wah-mäßige Geräusch, das sein Gitarrist McGyver – „der heißt so, weil er alles spielen kann“ – in Captain Carter’s Fathoms einem Löwenzahn entlockt. „McGyver playing the dandelion. Natürlich habe ich diesen Sound noch durch einen Synthie gefiltert“, erzählt er. Natürlich.

„Spare Time Machine“ von Pepe Deluxé ist als LP und CD erschienen bei Catskills/Groove Attack

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)
Patrick Wolf: „The Magic Position“ (Loog/Polydor 2007)
Hauschka: „Versions Of The Prepared Piano“ (Karaoke Kalk 2007)
Electrelane: „No Shouts No Calls“ (Too Pure 2007)
Manic Street Preachers: „Send Away The Tigers“ (Red Ink 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik