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Nachschlag

(nach Rainer Maria Rilke, »Herbsttag«)

Herr: lass dir Zeit. Der Sommer war nicht groß,
Nimm deinen Schatten von den Sonnenuhren,
und von den Wolken mach den Himmel bloß.

Erlaub den Frauen, doch noch braun zu werden;
sie brauchten wenigstens zehn südlichere Tage,
noch besser zwölf. Ach ja: und jage
noch ein paar Oechsle in den sauren Wein.

Gib Hinz und Kunz noch Zeit, ihr Haus zu bauen,
und mir die Chance, nicht allein zu bleiben.
Ich bin es leid, das Lesen, Briefeschreiben.
Möcht es mit Lou, mit Magda oder Claire
entblößt am Strand und in den Wellen treiben.

Dietrich Hucke, Jena

 

Was mein Leben reicher macht

Beim Versteckspiel mit meinen Enkeln im Park kam mir plötzlich das Wort »Strauchdieb« in den Sinn, obwohl niemand von uns etwas gestohlen hatte – außer mein Herz …

Heide Witt, Heidelberg

 

Unterwegsbahnhöfe: Mein Wort-Schatz

Die Deutsche Bahn wird wegen des Gebrauchs von Anglizismen oft gescholten. Ich zucke aber auch bei den deutschen Wortschöpfungen zusammen, etwa wenn die Ansage kommt: »Die Anschlüsse auf allen Unterwegsbahnhöfen werden erreicht.« Als ich vor Kurzem am Gare du Nord in Paris eine Fahrkarte lösen musste, fand ich auf dem dreisprachigen Hinweisschild auch das Wort Fahrkartenschalter, was mir in dieser Umgebung dann doch Tränen der Rührung in die Augen trieb.

Heinz Burger, Berlin

 

Internationale Küche

Gesehen in einem Hotelrestaurant auf Menorca: Cafe con Leche (spanisch), white coffee (englisch) und auf Deutsch schließlich: Weiberkaffee. Nach einigem Zögern wurde der Kaffee jedoch auch von den Männern probiert…

Michael Stübler, Sindelfingen

 

Was mein Leben reicher macht

Da stehen wir nun im Morgengrauen am Frankfurter Flughafen, um unsere Jüngste für ein Jahr als Au-pair in die USA zu entlassen. Die Vorfreude ist groß, aber der Abschied fällt doch schwer. Da drückt mich meine Tochter im letzten Moment noch einmal ganz fest und sagt mir leise ins Ohr: »Danke für alles!«

Ursula Lohmeyer, Bonn

 

Zeitsprung

Das erste Foto entstand im Juli vor 25 Jahren und zeigt die Hochzeit meiner Eltern. Sie reisten damals mit ihren vier Kindern auf die Nordseeinsel Langeoog, um dort zu heiraten. Seitdem verbrachten wir nahezu jeden Sommer auf der Insel, und auch meine Geschwister und ich führen diese Tradition fort.

Diesen Sommer reisten wir anlässlich der Silberhochzeit zum ersten Mal seit langer Zeit wieder alle gemeinsam: meine Eltern, inzwischen fünf Kinder und drei Schwiegerkinder. Wir haben das Hochzeitsfoto vor dem Rathaus nachgestellt. Um es so originalgetreu wie möglich zu machen, kramte meine Mutter ihren Hosenanzug von damals wieder hervor, meine Schwestern gingen barfuß, und ich fehle auf dem Bild, denn vor 25 Jahren war ich noch nicht auf der Welt. Dafür habe ich das Foto gemacht. Und weil wir das alte nur in dieser Form hatten, haben wir das neue angepasst.

Bettine Theissen, Butzbach, Hessen

 

Was mein Leben reicher macht

In Lübeck an der Trave einen Streifenpolizisten nach dem nächsten Postkasten für unsere Ansichtskarten gefragt. Nachdem er uns freundlich den Weg zum Marktplatz erklärt hat, sagt er plötzlich: »Ach, geben Sie her, ich werfe sie für Sie ein!« Die Karten sind am nächsten Tag angekommen. Sie müssen wohl mit Blaulicht unterwegs gewesen sein.

Christine und Thilo Morhard, Aschaffenburg

 

Was mein Leben reicher macht

Unsere türkische Nachbarin, die mit größter Selbstverständlichkeit meine schwerst pflegebedürftige Mutter besuchte, meinem Vater Essen vorbeibrachte, wenn meine Mutter in der Klinik war, und in der Nacht, in der sie sanft einschlief, bis zuletzt mit uns wachte, ihre Hand hielt und für sie betete.

Angelika Rothermel-Geiger, Ludwigsburg

 

Was mein Leben reicher macht

Klassentreffen nach 41 Jahren. Der damals tollste Typ kommt herein und begrüßt mich: »Du warst meine erste große Liebe.« Ich gucke irritiert in die Runde. Die ganze Klasse wusste es. Nur ich anscheinend nicht. Mein Herz ist bis nach Hause gehüpft. Danke!

Dagmar Hoppe, Gardelegen, Sachsen-Anhalt