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Straßenbild


Ein junges Paar zieht in unsere Nachbarschaft, und mit ihm kommt ein Indianer. Er postiert sich neben der Haustür, alle Passanten und Besucher im Blick. Aufrecht steht er da und selbstverständlich, Wind und Wetter die Stirn bietend. Die rechte Hand schützt die Augen gegen die blendende Morgensonne. Das Flachland des Niederrheins scheint dem Migranten nicht fremd. Ein Prärieindianer des Mittleren Westens? Ein Shawnee vielleicht? Aus dem Stamm des legendären Häuptlings Tecumseh, der sich den weißen Landräubern entgegenstellte und letztlich mit seinen Mannen auf verlorenem Posten war? Unrecht und Leid haben die Indianer erfahren müssen. Ich habe mir angewöhnt, allmorgendlich freundlich hinüberzuwinken. Und wenn im Frühjahr die Tage wieder wärmer werden, will ich mit dem Paar die Friedenspfeife stopfen, den Indianer in die Mitte nehmen und ihn und andere Nachbarn zum Mitrauchen einladen. Wir würden uns in Tabakwolken hüllen und wünschen, dass der Rauch des Friedens hinauf zu Manitu steige, um ihn ein bisschen gnädig zu stimmen.

Heinz van de Linde, Goch

 

Was mein Leben reicher macht

Ich hüte meine beiden Enkelkinder, 11 und 13 Jahre alt. Josefine und Robin haben seit Langem zwei Zwerghasen. Meine Tochter hat einen Zettel geschrieben und ihn auf den Tisch geklebt: »Hasen füttern nicht vergessen!« Am nächsten Morgen großes Geheule: »Omi, Pünktchen ist weg, mein Zwerghase!« Im Zaun war ein Loch! Wir suchen überall, auch mit der Hilfe der Nachbarn; das Häschen bleibt verschwunden. Ich mache mir Sorgen und überlege, ob ich ein Ersatztier beschaffen soll. Aber da hat Josefine schon kurz und bündig das n von Hasen weggestrichen.

Karin Klopfer, Dürnau

 

Zeitlupe: Mein Wort-Schatz

Mein Wortschatz: die Zeitlupe. Ein wunderbares Wort, das es auf den Punkt bringt: die Zeit so vergrößern, dass kleinste Details wahrnehmbar werden. Wie bedauerlich, wenn stattdessen von Slow Motion oder gar von »Slo Mo« gesprochen wird. Warum hegen wir unsere Wort-Schätze nicht und geben sie so leichtfertig auf? Wir staunen doch immer über Sprachen, deren Vielfalt wir als poetisch empfinden, man denke an »Schnee, der auf Zedern fällt«. Bei uns fällt weniger Schnee und mehr Regen, dementsprechend haben wir den Dunst, den Niesel, den Fieselregen. Es tröpfelt, schauert, regnet Bindfäden, gießt wie aus Kübeln, schüttet aus Eimern… Und dann der Wolkenbruch! Was für ein Wort-Schatz! Ähnliche Vielfalt findet sich übrigens auch beim Geld: schnöder Mammon, Knete, Kies, Schotter, Kohle, Asche, Moos, Zaster, Moneten, Patte, Piepen, Pieselotten… Was sagt diese Vielfalt über uns aus? Das Vorangegangene jedenfalls illustriert, wie man »von Höcksken up Stöcksken« kommen kann. Darum sei an dieser Stelle Schluss!

Katharina Silies, Lübeck

 

Was mein Leben reicher macht

Mein Geburtstag. In Gedanken zieht mein vergangenes Jahr an mir vorüber. Ich frage mein Bruderherz, was für ihn das Bedeutsamste, Schönste in diesem Jahr war. Er überlegt und antwortet: »Dass du deinen Freund gefunden hast.«

Miriam Hoffmann, Berlin

 

Kritzelei der Woche


Ich habe dieses Bild während einiger Schulstunden angefertigt, die sich unglaublich in die Länge zogen. Angefangen habe ich mit dem kugelförmigen Objekt links von der Bildmitte, das spitz und in Kringeln ausläuft. Einige Tage später dachte ich mir, dass ich daraus eine verrückte Zeichnung machen könnte, für deren Ausgestaltung sich während des Unterrichts genügend Freiräume ergaben. Und da ich mich im Unterricht ziemlich häufig langweile, ist diese Zeichnung nur eine von vielen, die in der Schule entstanden sind.

Lindsey Wang, München

 

Was mein Leben reicher macht

Auf dem Rückweg von einem Vortrag, den ich halten durfte, sitze ich am späten Abend im ICE. Als Dank hatte ich einen üppigen Herbstblumenstrauß erhalten. Bis nach Hause schafft er es nicht, denke ich noch so. Mit mir im Abteil sitzt eine sehr junge Ordensfrau, die aus ihrem Jahresurlaub zurück ins Kloster fährt und am nächsten Bahnhof den Zug verlassen wird. Sie arbeitet im Hospizbereich. Tod, Tränen und zerschlagene Hoffnungen sind ihr Alltag. Als ich sie frage, ob ich ihr mit den Blumen eine kleine Freude machen dürfe, ist sie zunächst etwas verlegen. Als sie dann mit dem Blumenstrauß aussteigt und ich ihr beim Gepäck behilflich bin, küsst sie mich im Vorübergehen auf die Wange und lächelt. Am Horizont berühren sich Himmel und Erde eben doch!

Ferdinand Reelsen, Borchen

 

Heißmangel: Mein Wort-Schatz

Um Bettlaken oder Kopfkissen glatt zu bekommen, braucht man eine Mutter und ein Bügeleisen. So habe ich das als Kind in den siebziger Jahren wahrgenommen. Deshalb hat mich das Schild Heißmangel, das an einer Tür im Nachbarort hing, nie auch nur im Entferntesten an Wäsche denken lassen. Für mich war völlig klar, dass es dort ein Haus gab, in dem heißer, also riesiger, Mangel herrschte oder behandelt wurde. Heißhunger bedeutet ja auch, dass man fast unbezwingbar großen Hunger hat. Was für ein Mangel das dort war, war mir unklar,  aber eigentlich auch egal. Es war beruhigend zu wissen, dass man bei Heißmangel eine Anlaufstelle hatte. Schade, dass solche Anlaufstellen nicht wirklich existieren – und dass inzwischen auch das Wort immer seltener zu lesen ist!

Ina Bartenschlager, Kaiserslautern

 

Wiedergefunden: Der Wunschzettel


Im Nachlass meiner Mutter fand ich kürzlich diesen Wunschzettel. Ich hatte ihn 1957 als siebenjähriges Mädchen geschrieben, voller Hoffnung auf die Erfüllung meiner Wünsche. Kurz zuvor hatten wir den Zeichentrickfilm Susi und Strolch von Walt Disney im Kino gesehen, und ich hatte mich spontan in die struppige Figur des Strolch verliebt. Natürlich wollte ich einen solchen Hund »in echt« zu Hause haben, doch diesen Wunsch konnten mir die Eltern nicht erfüllen, da wir schon einen Boxer hatten. Dann sah ich im Schaufenster eines Spielwarengeschäftes den »Steiff-Struppi«, und der sollte es dann sein. Er stand am 24. Dezember 1957 stolz und schön, zusammen mit einer blond gelockten neuen Puppe namens Erika, unter dem Weihnachtsbaum.

Christa Fonfara-Post, Petroio, Italien