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Am Stammtisch

(Nach Heinrich Heine, »Sie saßen und tranken am Teetisch«)

Wir aßen und tranken am Stammtisch
und hatten die Welt im Griff.
Der Wirt gab sich locker lakonisch,
und Hans durch die Zähne pfiff.

Die Welt muss sein platonisch.
Der Musiker wusst es genau.
Doch Ulla lächelt ironisch:
Was bist du doch, Hänschen, so schlau!

Die Welt ist süchtig und gierig
nach deinem und meinem Moos,
und guckst du nicht stur und stierig,
dann bist du’s ruck, zuck wieder los.

Drum hab ich, sagt Susi beflissen,
Musik in Kunststoff gebrannt.
Bei Bach und mit Wärmekissen
erschließt die Welt dir Herr Kant.

Und Frauke lächelt freimütig:
Die Welt ist mein größtes Pläsier.
Drum präsentier ich euch gütig
den Grünkohl und noch ein Bier.

Und Leo, vom Alter recht weise,
im Rücken den warmen Kamin,
stellt’s Hörgerät still und ganz leise,
lässt Welten vorüberziehn.

Doch Bärbel entscheidet westfälisch:
Ich habe die Welt im Griff.
Ich mal sie mit Farbe ästhetisch
und geb ihr den letzten Schliff.

Wir sitzen noch immer am Stammtisch
und halten die Welt ganz fest,
verzehren mal locker, mal hektisch
gemeinsam den spärlichen Rest.

Ulla Michalke, Selm

 

Strandtag

(Nach Christian Friedrich Hebbel, »Herbstbild«)

Dies ist ein Strandtag, wie ich keinen sah!
Die Luft steht still, sogar am Wassersaum,
Und dennoch strömt von fern und nah
Die Badeschar in diesen Meeresraum.

Der Parkplatz voll, die Taschen schwer,
die Parkuhr klemmt, das ist nicht fair.
Die Treppe steil, sie führt zum Meer,
Da stapft hinauf ein Menschenheer.

Die Leiber liegen dicht bei dicht,
Ein Fleckchen frei? Wohl eher nicht.
Erschöpft sinkt Mutter in den Sand,
Vater ist stolz, weil er dies Plätzchen fand.

Oh stört es nicht – das ist Familienglück,
Zumindest in dem Blick zurück.
Im Augenblick denkt jeder nur:
Ach, so ein Strandtag stresst doch pur!

Sibylle Korber, Odenthal

 

Materialien zur fortgesetzten Kritik eines Gedichtes italienischen Ursprungs

(Nach Robert Gernhard, »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« und als Antwort auf Claudia Tolls Parodie »Materialien zur Kritik eines Gedichts Gernhardschen Ursprungs« ZEIT Nr. 29/12)

Entstaubte Lyrik, neu verfasst, darf alles wagen,
Darf eng am Vorbild jener strengen Form
Versteckte Liebe eingestehen, offen ihr entsagen,
Sie darf es ungebunden auch, in loser Form.

Motive und Sujets kann sie nach Herzenslust einbinden,
Der Alten Mythen, an Metaphern reich.
Sie muss nicht gleich das Rad der Lyrik neu erfinden,
Doch hoch verdichten schon und kontextreich.

Wer eigne Verse formuliert, der tut dies wohl
In Kenntnis der Jahrhundert alten Konzeption.
Die ach so nette Lyrik bliebe hohl,

Fehlt’ ihr zur Form die inhaltliche Reflexion.
Drum schreibe frisch, doch schreibe tief –
Wer Lyrik neu verfasst, liegt gewiss nicht schief.

Manfred Klenk, Mannheim

 

Die Moritat 2012

(Nach Bertolt Brecht, »Die Moritat von Mackie Messer«)

Der Finanzhai zeigt die Zähne
Die Euro-Krise schert ihn nicht
Angie Merkel spannt den Schirm auf
Doch die Rettung sieht man nicht.

Stahlgrau sind des Haifischs Augen
Sieht er Staaten nah am Grab
Und die Rating-Agenturen
Werten noch mehr Länder ab.

An ’nem trüben schwarzen Freitag
Ist die nächste Bank am End
Der Direktor sammelt Boni
Der am meisten Geld verbrennt.

Zapatero ist verschwunden
Berlusconi, Sarkozy
In Berlin sitzt Angie Merkel
Und sagt: Mich erwischt ihr nie!

In Athen das große Feuer
Sieben Länder schon in Not
Von der Troika Daumenschrauben
Sind sie alle arg bedroht.

Und die Griechen sind im Dunkeln
Und die Deutschen sind im Licht
Und man hört auf die im Lichte
Die im Dunkeln hört man nicht.

Claus Peter Poppe, Quakenbrück

 

Sommergewitter

(frei nach Heinz Erhardt und Ludwig Uhland »Das Unwetter«)

Vater und Mutter, Handtasche und Kind
im dunklen Auto versammelt sind. –

’s ist Mittwoch. Da hört man von ferne
ein leises Grollen. Mond und Sterne
und auch die Berge hüllen sich ein,
einzelne Blitze leuchten fein.

Und es sitzt hellwach – im dunklen Gefährt
die Familie mit Tasche, die Stimmung gärt.

Das Gewitter kommt näher mit Donnerschlag –
und noch fünf Minuten bis Donnerstag!

Es heult der Sturm, es schwankt schon das Zelt,
der Regen prasselt, unter geht die Welt!
Und im dunklen Auto – man weiß es schon –
sind Eltern, Tasche, Tochter und Sohn.

Ein furchtbarer Krach! Die Mutter schreit:
»Der Blitz, er schlägt ein! Nun ist es so weit!« –
Sie sieht schon vor sich wie das Zelt verglimmt,
doch nach zig Gewittern: Es hat nie gestimmt.

Alle Camper begaben sich längst zur Ruh,
Familie F. hockt da, tut kein Auge zu.

Gudrun Thesing, Mechernich
Kindheitserinnerungen an die Campingurlaube in den sechziger Jahren. Und passend zum diesjährigen Sommerwetter

 

Europa

(Nach Gottfried Benn, »Astern«)

Europa – kriselnde Tage,
vergangener Sünden Bann.
In Brüssel berät man die Lage
und stellt Überlegungen an.

Noch einmal die vielen Moneten?
Noch einmal Milliardengrab?
Wohl besser als tausend Raketen,
das, was man Siechenden gab.

Noch einmal das leise Geraunte,
die Hoffnung: solidarisches Du.
Europa lehnte und staunte
den fließenden Euros zu.

Noch weitere bange Stunden,
wo längst es jeder weiß:
Die Geier drehen die Runden
und ziehen ihren Kreis.

Ulrich Novotny, Immenstadt im Allgäu

 

Gartenspaziergang

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Osterspaziergang«)

Vom Unkraut befreit sind alle Beete.
Unter des Gärtners strengem, entschlossenen Blick
Grünet im Garten Hoffnungsglück;
Der mutige Einsatz vieler Geräte
Drängte selbst wuchernden Giersch zurück.
Im Boden trauen sich, mickrig nur
Vereinzelte Reste krautiger Blätter
Ersterbend aus der gepflegten Flur.
Aber das Unkraut liebt Sommerwetter,
Überall regt es sich bald darauf wieder –
Hier im Gemüse, dort unterm Flieder.
An Blumen fehlt es nicht im Revier,
Doch schauen sie bald kaum noch herfür!
Knie dich, Gärtner, rasch auf die Erde,
Auf dass daraus kein Urwald werde.
Aus dem Boden, armer Tor,
Dringt ein grünes Gewimmel hervor!
Sieh nur, sieh! Wie behänd jede Menge
Von Winden schon zartes Gemüse umschlingt,
Wie der Giersch in Breit und Länge
All deine schönen Stauden durchdringt.
Und wieder musst du niederknien,
Sosehr der Rücken dich auch plagt,
Musst Unkraut aus der Erde ziehen –
Es rächt sich, wenn man das vertagt!
Denn nur den Gärtner, der sich mühte,
Belohnt am Ende reiche Blüte.
Stolz stellt im Garten sich dann ein:
Da bist du Chef, da darfst du’s sein!

Jutta Hartmann, Kassel

 

Im Lebens(mittel)laden

(Nach Ernst Jandl, »im delikatessenladen«)

bitte geben sie mir ein halbes dutzend kindheitsträume.
etwas ausgefallen, aber nicht zu sehr.
so, dass man noch dran glauben kann.

nun, dann vielleicht zwei flaschen lebensideale.
von den lieblichen,
die sagen mir am meisten zu. etwas würze, fein dosiert,
kann dabei sein.

auch nicht. bliebe noch – schinken sehe ich
haben sie da hängen.
zwei, drei werden genügen.
sind die denn auch vom unschuldslamm?

Michaela Keller, Erlangen

 

Fußballzeit

(Nach Joseph von Eichendorff, »Weihnachten«)

Markt und Straßen sind verlassen.
Glotze läuft in jedem Haus.
Drinnen sind die Menschenmassen:
Das sieht ganz nach Fußball aus.

An den Fenstern hocken Frauen,
Starren in die leere Welt,
Während Kids verwundert schauen:
Gassen jetzt als Tummelfeld?

Championships in der Ukraine:
Fast vier Wochen Kicker-Fest!
Timoschenko, oh, du Feine –
Ob es dich vergessen lässt?

Doch gespielt wird auch in Polen:
Danzig deutschen Teams Quartier.
Ruh und Kraft will man hier holen;
Mancher muss auch zum Barbier.

Miro Klose, Luk Podolski
Fühl’n sich wie zu Hause nun,
Sprechen einmal wieder Polski,
Wenn sie aus den Fußballschuh’n.

Deren Stollen, kleine Hacker,
Pflügen tief den Strafraum um;
Drum heißt der jetzt »Mertesacker«:
Wiese nimmt es ihm nicht krumm.

Bälle hoch – als echte Kerze –
Schlägt bisweilen Philipp Lahm;
Neuer schreit: »Lass diese Scherze!«
Da wird selbst Mats Hummels zahm.

Portugal und Niederlande
Und dazu noch Dänemark –
Wie kommt Deutschland da zurande?
Sind mitnichten weich wie Quark!

Spanien, England, Frankreich, Schweden,
Polen und Italien
Machen auch wohl von sich reden,
Träumen von Pokalien.

Und ich? Wand’re aus den Mauern!
You will know, what I am doing –
Will zu Hause nicht versauern,
eile flugs zum Public Viewing!

Norbert Wolf, Liederbach am Taunus, Hessen

 

Europäische Konflikte

(Nach Erich Kästners »Atmosphärische Konflikte«)

Die Griechen sehnen sich nach Klärung.
Den Blick nach Brüssel, murmeln sie:
»Man weiß in diesen Zeiten nie,
ob nun raus aus die Währung
oder rin in die Währung
oder wie?«

In Brüssel läuft es auch nicht schöner.
Die Pläne machen viele blass.
Man fragt dort ohne Unterlass:
»Also, raus mit die Athener
oder rin mit die Athener
oder was?«

Und auf der Welt ist jeder Opa,
jedes Kind gespannt wie nie.
Den Blick nach Brüssel, fragen sie:
»Was ist los in Europa?
Kommt was raus aus Europa?
Oder wie?«

So langsam geht das auf die Nerven.
Man fürchtet Dummheit, wagt nicht Mut.
Verstand gibt’s nur noch in Konserven.
Na, günstigen Falles
wird alles gut.

Wir wissen nur: So kann’s nicht bleiben.
Die Ohnmacht zwingt uns in die Knie.
Die Welt ist nicht mehr zu betreiben.
Wir müssen Altes überwinden
und müssen neue Wege finden
– aber wie?

Robert Otto, Augsburg