Lesezeichen
 

Hälfte des Jahres

(nach Friedrich Hölderlin, »Hälfte des Lebens«)

Mit goldnen Kugeln stehet
Und voll mit hellen Lichtern
Der Baum in der Stube,
Ihr holden Knaben,
Und trunken von Inbrunst
Singt ihr das Lied
Vom rieselnden Schnee

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Sommer ist, die Stille und wo
Den Lichterglanz,
Und Frieden der Weihnacht?
Im Flutlicht stehn
Grölend die Fans, im Siege
Schwenken sie Fahnen.

Harald Gebhard, Berlin

 

Weihnachten?

(nach Joseph Freiherr von Eichendorff, »Weihnachten«)

Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Wütend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht nach Bauhaus aus.

Und die Fenster sind jetzt alle
Mit Antennen froh geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen
Auf ihr iPhone, tief beglückt.

Und ich wandre frohen Mutes
Weit hinaus, wo’s Funkloch ist,
Hoffend, dass ich einen treffe,
Der die Weihnacht nicht vergisst.

Sterne keinen Kreis mehr schlingen.
Wer kam da »vom Himmel hoch«?
Und statt Glocken Kassen klingeln.
Weihnachten? Was war da noch?

Maria Stiefl-Cermak, Freiburg im Breisgau

 

Berliner Nacht

(nach Joseph Freiherr von Eichendorff, »Mondnacht«)

Es war, als hätt’ Frau Merkel
Herrn Gabriel still geküsst,
Dass er, die Macht vor Augen,
Von ihr nun träumen müsst’.

Was schert ihn Volkes Wille
Nach linker Mehrheit schon?
Dank ihrer Posten Fülle
Hievt er sie auf den Thron.

Und Willys Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch schwarz-rote Lande
Und kam nie mehr nach Haus.

Udo Schmidt, Frankfurt am Main

 

Suchen

(sehr frei nach Hermann Hesse, »Stufen«) 

Wie jede Amtszeit einmal endet und das schwarz-gelbe
Bündnis einem neuen weicht, blüht uns danach
Wie immer nach der Wahl dasselbe
Parteienschieben mit viel Krach.

Die Wartezeit darf nicht zu lange dauern,
Die Kanzlerin muss unter Fluchen
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Sich einen neuen Partner suchen,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne,
Verhandlungen sich endlos zieh’n
Wird es Schwarz-Rot, wird es Schwarz-Grün?
Wie hält man sie, die Wahlversprechen?
Doch demokratisch ist es wohl zu schaffen:
Nur wer bereit zum Kompromiss ist in Gesprächen
Mag lähmendem Gezanke sich entraffen!

Indes, der Wähler schaut besorgt in diese Runde
»Nu macht mal hinne«, denkt er leicht beklommen.
Hauptsache ist es, wir bekommen
Bald ’ne Regierung, ’ne gesunde.

Rosemarie Roloff, Berlin

 

An den Gevatter

(nach Eduard Mörike, »Zum neuen Jahr«)

Auf heimliche Weise
Ganz langsam und leise
Auf sanften Sohlen,
Doch Schritt für Schritt,
Naht der Gevatter.
Wir spüren ihn kommen,
Er ist nicht willkommen,
Gar nicht willkommen.
Wir wollen nicht mit!

Was wird er bringen?
Will er uns verschlingen?
Bringt er Himmel, Hölle,
Vielleicht auch das Nichts?
Gevatter, ach warte!
Erhör unser Flehen,
Die Sonn’ noch zu sehen.
So wollen wir gehen
Die Wege des Lichts.

Gisela Neuschaefer-Pietsch, Murg, Baden-Württemberg

 

Lied der NSA

(nach Johann Wolfgang von Goethe, »Lynkeus der Türmer«)

Zum Lauschen geboren,
Zum Spähen bestellt,
Dem Terror geschworen,
Beschatt’ ich die Welt.
Ich blick’ in die Ferne,
Doch auch in der Näh
Speich’re ich gerne
Was ich so erspäh.
Ob Deutsche, Franzosen,
Es kommt nicht drauf an,
Sie sind zwar Mimosen,
Doch mir untertan.
Wisse, Angie, ich kenne
Was je du gesimst,
Und ich wein’ keine Träne,
Wenn du’s persönlich nimmst.

Brigitte König, Ingolstadt

 

Die Wildsau in Suhle

(nach Johann Wolfgang von Goethe »Der König in Thule«)

Die Wildsau in der Kuhle,
Vermutlich bis zum Hals
Lag da in wohl’ger Suhle
Im Wald. Da blitzt’s, da knallt’s!

Und neben ihr ihr Keiler,
Ganz rot färbt sich das Nass,
Die Bein’, die sonst ihm Pfeiler,
Geknickt ob seiner Mass’.

Reicht’ sterbend seiner Sau er,
Vielmehr ihm nicht mehr blieb,
Den rechten großen Hauer
Aus tief empfundner Lieb.

Sie schwor dem Waldesgotte:
Den Zahn geb nie ich fort’,
Und suchte ihre Rotte,
Verließ den Schreckensort.

Im Kreise ihresgleichen
Stand sie in Trauer da,
Ein Anblick wie bei Heine,
Dem Keiler so ganz nah.

Sie kehrt zurück zur Kuhle,
Den Zahn ans Herz gedrückt,
Warf drauf ihn in die Suhle,
Sprang nach total entrückt.

Albrecht Thomas, Siegen

 

Sturmwild

(nach Friedrich Hebbel, »Herbstbild«)

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Ein Sturm braust auf, als hielt’ ihn nichts im Zaum.
Die stolzen Stämme bersten fern und nah,
und nur vereinzelt steht noch wo ein Baum.

O dies ist nicht die Feier der Natur!
Denn diese Lese, die sie heute hält,
bringt Leid und Schaden – ja meist Unglück nur. Allein das Räumkommando macht das dicke Geld.

Jörg Schwenzfeier-Brohm, Monheim am Rhein

 

iNkehr

(nach Ludwig Uhland, »Einkehr«)

Es hat der gute Apple-Wirt
tagtäglich viele Gäste;
ein silb’ner Apfel lädt uns ein
zum digitalen Feste.

Die Gästeschar, sie springt umher,
sie schaut so fröhlich drein;
nur ich bin platterdings verzagt
und fühl’ mich sehr allein.

Ein iPad hab’ ich mir gekauft,
wollt’ topmodern mich geben;
des Nachmittags im Stammcafé.
Es ging total daneben.

Obschon das Wirtsgesind’ zuhauf
sich meiner angenommen,
hab’ ich bis dato nichts kapiert;
das macht mich schier beklommen.

Dies Universum bleibt mir fremd,
verstehe Bahnhof nur;
Dropbox: Ist das ein Katzenklo?
Und erst die Tastatur!

Wie doch mein Leben still und sacht
verlief in ruhigen Bahnen,
eh’ in dies Äpfelchen ich biss!
Sagt mir: Wer konnt’ es ahnen?

Elfie Riegler, Genf

 

Herbst

(Nach Rainer Maria Rilke, »Herbst«)

Die Quitten fallen, fallen in das Gras,
als ob des Herbstes Fülle sich ergösse;
sie fallen mit verheißungsvollem Plumpsen

vom Baum, der frühlings rosa Blüten trug;
bald aufgesammelt von Familienhänden,

zu duftendem Gelee gekocht mit rotem Wein.
Und sieh dir an: in heiße Gläser eingefüllt,

randvoll, für Aug und Nase ein Genuss,
den liebe Menschen bald in Händen halten.

Heidrun Klein, Zimmern ob Rottweil, Baden-Württemberg